Die Villa der Familie Carrington
Nachdem George außer sich vor Wut die Firma verlassen hatte, war er zuerst eine Weile durch die Stadt gefahren, um seinen Zorn auf David einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Doch je weiter er fuhr, desto klarer wurde ihm, dass er seine derzeitige Misere nicht allein seinem Geschäftspartner zu verdanken hatte, sondern vielmehr jenen zwielichtigen Leuten, die er für seine geheimen Pläne bezahlte, und die sich anscheinend als völlig unzuverlässig erwiesen. Also kehrte er um und fuhr nach Hause, wo er sich zunächst mit einer Flasche Cognac in seinem Arbeitszimmer verschanzte.
Nach dem zweiten Glas, das er, genau wie das erste, in einem Zug leerte, griff er zum Telefon. Als sich sein Gesprächspartner meldete, machte er seinem Herzen Luft.
„Was haben Sie sich dabei gedacht, Raves? Wir hatten eine Vereinbarung!“
„Ja und?“, fragte eine sonore Stimme am anderen Ende der Leitung knapp.
„Ja und?“, wiederholte George wutschnaubend. „Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?“
Sein Gesprächspartner ließ sich offensichtlich nicht aus der Ruhe bringen.
„Nun, von meiner Seite aus sind alle Vereinbarungen eingehalten worden. Was man von Ihnen leider nicht behaupten kann.“
George schnappte erbost nach Luft.
„Was soll das heißen, Raves?“
Die Stimme des Mannes am anderen Ende der Leitung bekam einen deutlich drohenden Unterton.
„Wie ich hörte, wurde heute ein Vertrag zwischen der CEC und Globle Inc. abgeschlossen. Das zu verhindern, mein Lieber, gehörte zu dem Teil der Vereinbarungen, die Sie zu erfüllen hatten. Und glauben Sie mir, es gefällt mir ganz und gar nicht, wenn meine Geschäftspartner sich nicht an die Regeln halten!“
„Moment mal…“ George hatte plötzlich das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Nervös zerrte er an seiner Krawatte und schielte nach dem leeren Cognacglas.
Was für ein Albtraum!
„Ich wurde überstimmt! David Edwards hat diesen Vertrag abgeschlossen, und Sie wissen so gut wie ich, dass er heute gar nicht da sein sollte!“
Sein Gesprächspartner schien zu überlegen, denn er schwieg einen Augenblick. Dann räusperte er sich und fragte ungläubig:
„Wollen Sie damit andeuten, David Edwards sei am heutigen Tag in der Firma gewesen?“
„Was heißt hier andeuten?“, fauchte George. „Er war da, und erzählen Sie mir nicht, dass wäre Ihnen neu!“
„Ich rufe Sie zurück“, erwiderte der mit „Raves“ Angesprochene knapp und legte auf.
George starrte fassungslos auf das Telefon in seiner Hand, stieß einen unflätigen Fluch aus und entschied sich nun endgültig für einen weiteren Drink.
Was zum Teufel wurde hier gespielt?
SUN CENTER
Als Jack aus der Firma kam, zog ein köstlicher Kaffeeduft durchs Haus. Schnuppernd betrat er die kleine Wohnküche. Selina und Tom saßen am Tisch und ließen sich das schwarze Gebräu schmecken.
„Wow, was für herrliche Blumen!“, rief Selina angesichts der prächtigen Orchideen, die Jack in Form eines kunstvoll gebundenen Buketts in der Hand hielt, begeistert. „Die müssen ja ein Vermögen gekostet haben!“
„Nicht, wenn man die Verkäuferin kennt“, erwiderte er und grinste, während er mit einer Kopfbewegung nach oben deutete. „Ist sie da?“
„Alli?“ Selina schüttelte bedauernd den Kopf. „Keine Ahnung, ich habe sie heute noch gar nicht gesehen.“
„Sie kam von der Arbeit, hat sich umgezogen und ist kurz danach mit dem Motorrad weggefahren“, berichtete Tom. „Sie hatte nicht einmal Zeit für einen Kaffee, und besonders gesprächig war sie auch nicht.“
Jack erschrak. Sollte er sie gestern mit seinen Worten mehr verletzt haben, als er gedacht hatte? War es vielleicht möglich, dass sie...
Er drehte sich um und rannte atemlos die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer.
Die Tür war unverschlossen. Nach kurzem Zögern trat er ein.
Ein Blick genügte. Ihre Sachen waren noch da. Sie würde zurückkommen.
Unendlich erleichtert arrangierte er den Blumenstrauß in eine Vase und stellte ihn direkt vor ihrer Tür ab. Hier würde sie ihn sofort sehen, wenn sie heimkam.
Er atmete tief durch und lächelte zufrieden, bevor er wieder nach unten zu den anderen ging.
Villa der Familie Carrington
Es wurde bereits dunkel, als in der prunkvollen Carrington - Villa das Telefon läutete.
Theresa, die langjährige Haushälterin mexikanischer Abstammung, nahm den Hörer ab.
„Hier bei Carrington?... Ja natürlich, einen Augenblick bitte!“
Sie eilte ins Esszimmer, wo George sich soeben mit seiner Frau Madeline und seinem Sohn Patrick zum Abendessen eingefunden hatte.
„Mister Carrington, entschuldigen Sie bitte die Störung, da möchte Sie jemand dringend am Telefon sprechen!“
Madeline, eine sehr schöne Frau Ende Vierzig mit ebenmäßigen, fast klassischen Gesichtszügen, stöhnte kurz auf, warf ihr schulterlanges dunkles Haar zurück und verdrehte genervt die Augen.
„Jetzt nicht, Theresa. Mein Mann möchte wenigstens einmal am Tag in Ruhe sein Essen einnehmen.“
Beschwichtigend hob George die Hand.
„Ich habe den Anruf erwartet, Liebling. Es wird nicht lange dauern. Ihr beide könnt schon mit dem Essen beginnen, ich bin in zwei Minuten zurück.“ Er wandte sich an die Haushälterin. „Theresa, legen Sie das Gespräch bitte nach oben in mein Arbeitszimmer!“
Kaum war er verschwunden, warf Madeline ungehalten ihre Serviette auf den Tisch.
„Es ist nicht zu fassen! Dein Vater hat entweder schlechte Laune, wenn er heimkommt, oder er ist auch nach Feierabend noch mit seiner Arbeit beschäftigt!“ Sie nahm einen Schluck Tee und schüttelte anschließend resigniert den Kopf. „Aber was rege ich mich überhaupt auf, es ist doch immer das gleiche. Er hat eben zu viel um die Ohren.“
„Anscheinend nicht genug“, knurrte Patrick, während er sich großzügig an der lecker aussehenden Fleischpastete bediente. „An mir hat er vorhin sofort wieder mit aller Kraft herummeckert.“
„Ach komm schon“, ermahnte ihn Madeline und musste wider Willen über die Reaktion ihres Jüngsten lächeln. Er ging noch aufs College und war in jenem rebellischen Alter, in dem sich Söhne und Väter entweder hassen oder lieben. Patrick hatte sich in dieser Phase für den Hass entschieden. Er boykottierte jede Entscheidung seines Vaters mit einer Hingabe, als ginge es dabei um Leben und Tod.
Ihre Tochter war da ganz anders. Sanft und immer darum bemüht, gegebenenfalls zwischen den Streithähnen zu vermitteln, war die hübsche, blonde Emily von je her der ruhige Pol in der Familie gewesen. Sie hatte ihren Vater angehimmelt und vorbehaltlos geliebt, und das wäre gewiss noch immer so, hätte George sich nicht in ihre Beziehung zu Jeff Cabott, dem Sohn seines kürzlich verstorbenen Geschäftspartners, eingemischt und es schließlich geschafft, diese junge aufkeimende Liebe mit hinterlistigen Intrigen zu zerstören. Daraufhin hatte Emily die Familie verlassen und lebte jetzt weit entfernt in New York, ein Umstand, den Madeline ihrem Mann bis heute nicht verzeihen konnte.
Trotz der Entfernung verband Emily mit ihrem jüngeren Bruder noch immer eine innige Zuneigung und eine tiefe Vertrautheit, die sich zwar meist auf Telefonate und E-Mails beschränkte, um die Madeline ihre beiden Kinder jedoch heimlich beneidete.
Sie selbst fühlte sich oft einsam. Ihre Freizeit bestand zum größten Teil aus Shopping und Besuchen bei ihren beiden langjährigen Freundinnen Lindsay und LeAnn.
George verbrachte fast seine gesamte Zeit im Dienste der Firma, aber dennoch kontrollierte er misstrauisch jeden ihrer Schritte. Am liebsten sah er es, wenn sich seine Frau auf irgendwelchen totlangweiligen Wohltätigkeitsveranstaltungen zeigte und seinen guten Namen repräsentierte. Sie dagegen war insgeheim überzeugt davon, dass er selbst es mit der ehelichen Treue nicht so genau nahm, wenn sich die Gelegenheit bot.
Es gab Momente in Madelines Leben, da sah sie in ihrer Ehe nur noch eine Zweckgemeinschaft. So wie an diesem Abend.
„Mum? Woran denkst du?“, unterbrach Patrick ihre Gedanken.
„Ach nichts, Schatz“, erwiderte sie hastig und zwang sich zu einem Lächeln. „Dein Vater hatte heute in der Firma anscheinend irgendwelchen Ärger. Er redet ja nicht über seine Geschäfte, aber es muss etwas vorgefallen sein, was ihm ziemlich zugesetzt hat.“
Patrick verzog das Gesicht und grinste.
„Was auch immer es war, er hat es vor dem Essen gründlich mit Cognac runtergespült.“
Georges Arbeitszimmer
„Sullivan?“, bellte George wütend ins Telefon, nachdem sich der Anrufer zu erkennen gegeben hatte. „Was wollen Sie?“
„Ich habe ihre Anweisung befolgt und einige Nachforschungen über unseren Neuzugang eingeholt“, hörte er die Stimme seines SENTINEL -Chefredakteurs am anderen Ende der Leitung.
„Und da rufen Sie mich um diese Zeit zu Hause an?“, fauchte George ungehalten, denn das war nicht der Anruf, den er so dringend erwartet hatte.
„Sie sagten, ich solle Sie umgehend informieren, wenn ich etwas herausgefunden hätte“, rechtfertigte sich Sullivan. George verzog das Gesicht. Nun ja, das hatte er gesagt.
„Also los, reden Sie!“
„Die Dame hatte in Chicago einen guten Ruf. Keine Skandale, keinerlei Entgleisungen, weder dienstlich noch privat. Allerdings...“
„Ja?“
„Sie arbeitet sehr gründlich. Außerdem gilt sie als äußerst ehrgeizig, und wenn sie sich einmal an einer Sache festgebissen hat, lässt sie sich nicht so leicht wieder abschütteln.“
George nickte. Genauso hatte er Selina Wood eingeschätzt.
„Okay“ lenkte er in etwas versöhnlicher ein und blickte dabei ungeduldig zur Uhr. „Dann sorgen Sie dafür, dass sie nur solche Sachen in die Hände bekommt, an denen Sie sich getrost die Zähne ausbeißen kann. Und vorerst lassen Sie die junge Dame ruhig noch ein wenig schmoren.“
Er hörte Sullivan lachen.
„Sie hat sich heute Morgen schon bei mir beschwert, als ich sie wieder ins Archiv geschickt habe.“
„Was glaubt sie, wo sie hier ist! Wir sind schließlich nicht in Chicago“, erwiderte George gereizt.
„Das habe ich ihr auch schon gesagt. Inzwischen habe ich mir allerdings ein paar von ihren damaligen Artikeln zufaxen lassen, und ich kann ihnen versichern, Mr. Carrington, sie ist brillant. Ihre Schreibweise kommt garantiert bei den Lesern an.“
„Na gut“, unterbrach ihn George ungeduldig. „Ich bin sicher, sie wird schnell lernen, wer hier der Boss ist. Anderenfalls... Nun ja, warten wir erst einmal ab. Zur gegebenen Zeit auf die richtigen Themen angesetzt, wird uns Miss Wood bestimmt noch von großem Nutzen sein.“
SUN CENTER
Es war spät in der Nacht, als Alli nach Hause kam. Sie stellte den Motor ab und ließ die schwere Maschine bis zur Garage ausrollen, um keinen von ihren Mitbewohnern zu wecken. Oder war es, weil sie selbst niemandem mehr begegnen wollte?
Leise schloss sie die Tür zum SUN CENTER auf. Alle schienen bereits zu schlafen.
Aber nein, aus der Küche war ein schwacher Lichtschein zu sehen.
Alli schlich auf Zehenspitzen näher und lugte durch die halbgeöffnete Tür.
Jack saß zusammengesunken am Tisch und war wohl mitten in der Erledigung seiner Studienaufgaben über seinen Unterlagen eingeschlafen. Sein Kopf ruhte auf dem dicken Paragraphenbuch, das aufgeschlagen vor ihm lag, und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Der Laptop neben ihm hatte längst auf Stand-by geschalten.
Vorsichtig trat Alli näher und betrachtete liebevoll sein schlafendes Gesicht. Nur mit Mühe widerstand sie der Versuchung, über sein Haar zu streichen oder ihn sanft auf die Wange zu küssen. Aber dann wäre er sicher erwacht, und sie hätte mit ihm über gestern reden müssen.
Unwillkürlich musste sie an ihr Gespräch mit John vor ein paar Stunden denken. Sie hatten sich beide in einem kleinen, abgelegenen Lokal in Oceanside getroffen, und Alli hatte ihm von Jack erzählt. John war darüber offensichtlich nicht besonders erfreut gewesen, zumindest hatte er sie mit Nachdruck gebeten, vorsichtiger denn je zu sein.
„Du darfst kein Risiko eingehen, Sam! Davon hängt dein Leben ab, nicht mehr und nicht weniger“, redete er ihr eindringlich ins Gewissen. „Erinnerst du dich, was man dir gesagt hat, als du New York damals verlassen hast? Vertraue niemandem!“
„Wie könnte ich das vergessen? Noch nie in meinem Leben habe ich mich so furchtbar allein gefühlt wie an jenem Tag, an dem ich alles, was mir je etwas bedeutet hat, zurücklassen musste. Oh ja, ich halte mich strikt an jede deiner Anweisungen. Ich bin so verdammt clever geworden, dass ich mich manchmal selbst kaum erkenne. Ich bin übervorsichtig und mittlerweile derart misstrauisch, dass ich Gefahr laufe, irgendwann völlig paranoid zu werden." Alli schüttelte deprimiert den Kopf und strich sich über die Stirn. „So kann ich aber auf Dauer nicht leben, und das weißt du auch.“ Tiefe Verzweiflung in den dunklen Augen suchte sie seinen Blick. „Dir vertraue ich, John. Dir... aber mittlerweile auch Jack. Ich bin sicher, er würde mich nie verraten.“
Leise nahm sie eine Wolldecke aus dem Schrank und legte sie vorsichtig um Jacks Schultern. Dann schlich sie auf Zehenspitzen nach oben.
Als sie die Blumen vor ihrem Zimmer entdeckte, wusste sie, dass sie Recht hatte, auch wenn John Carpenter das anders sah. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie sich in Jack Bennett nicht täuschen konnte.