Am Strand
Selina war in ihrem Element. Die Malerei machte ihr unerwartet großen Spaß. Im Handumdrehen entstand um die erste kreisrunde Öffnung in der Sperrholzplatte eine glänzend gelbe Sonne mit kräftigen Strahlen. Die nächste gestaltete sie als Schmetterling, und wieder eine andere weiter unten als bunten Ball, der im Gras lag. Sie war ganz bei der Sache und bemerkte nicht einmal, wie Jason, der inzwischen seine Arbeit beendet hatte, hinzugetreten war und sie lächelnd beobachtete.
„Die Kleinen werden begeistert sein und an dieser Spielwand Schlange stehen“, prophezeite er schließlich anerkennend. „Egal, was für einen Beruf du hast, du solltest ihn wechseln und Künstlerin werden.“
Selina lachte, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen.
„Malerei ist eine brotlose Kunst, glaub mir“, meinte sie. „Die Leute wissen so etwas heutzutage kaum noch zu schätzen.“
Jason trat dichter an Selina heran und betrachtete sie von der Seite.
„Wunderschön“, sagte er leise.
„Welches Bild meinst du?“, fragte sie und tat so, als bemerke sie seinen Blick nicht.
„Alle, aber eines gefällt mir ganz besonders.“
Selina verlagerte ihr Körpergewicht von einem Bein auf das andere und ließ für einen Augenblick den Farbpinsel sinken.
„Sind eigentlich alle Lifeguards solche Schmeichler?“
„Ich sage nur die Wahrheit.“ Jason wies auf die Sonne, die sie gemalt hatte. „Da, die Strahlen könnten noch etwas kräftiger sein, damit sie richtig leuchten!“
„Diese hier?“, fragte Selina irritiert.
Er streckte den Arm aus und fasste nach ihrer Hand, die den Pinsel hielt. Dabei kam er ihr ziemlich nah, und sie konnte seinen Atem an ihrem Ohr spüren. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und musste gegen die Versuchung ankämpfen, einfach ihren Kopf an seine Schulter zu legen und sich nach hinten in seine starken Arme fallen zu lassen. Ihre Wangen berührten sich leicht, als er ihre Hand führte und den Sonnenstrahl auf dem Holz nachmalte.
„So ist`s gut, siehst du?“, sagte er leise.
Ihr Mund war plötzlich wie ausgetrocknet.
Sie schluckte und nickte nur.
„Wenn sie jetzt ihren Kopf dreht, werde ich sie einfach küssen“, dachte Jason fest entschlossen, als in diesem Moment sein Notfall-Beeper losging.
Ernüchtert durch das durchdringende Geräusch unterdrückte er mühsam einen Fluch und trat schnell einen Schritt zurück.
„Die Klinik“, stellte er nach einem Blick auf das Display des Beepers fest. „Vermutlich ein Notfall. Ich muss los!“
Selina nickte etwas benommen.
„Dann bis später.“
Nachdenklich sah ihm nach, wie er mit großen Schritten davoneilte, in den Jeep sprang, der hinter dem Lifeguards-Turm geparkt war und eilig davonfuhr.
Medical Center
Kurze Zeit später betrat Jason eilig die Notaufnahme.
„Sie haben mich angebeept?“, fragte er Gregor Finn, der ihm am Eingang begegnete.
„Nicht ich“, erwiderte Finn und grinste vielsagend. „Das war dein neuer Boss.“
Jason atmete tief durch und versuchte sich seinen Unmut nicht anmerken zu lassen.
„Was liegt an?“
„Wir haben einen Verletzten nach einem schweren Autounfall, und Dr. Stevenson war der Meinung, du könntest ihm bei der Gelegenheit ein bisschen über die Schulter schauen!“
„Na klasse...“, knurrte Jason und verdrehte die Augen, während er in den OP- Vorbereitungsraum trat, wo die Schwester bereits Mundschutz, Handschuhe und Kittel bereithielt. „Ich darf dem großen Meister bei der Arbeit zusehen! Und dafür lässt er mir ein Rendezvous platzen!“
„Ich bin untröstlich“, klang plötzlich Dr. Stevensons spöttische Stimme aus der anderen Ecke des Raumes, und Jason fuhr erschrocken herum. Anscheinend hatte Nick seine letzten Worte mitbekommen, denn er war ebenfalls noch mit den OP- Vorbereitungen beschäftigt.
„Dabei hatte ich angenommen, Sie könnten es gar nicht erwarten, etwas Neues zu lernen! Aber wenn es Ihnen wichtiger scheint, sich mit irgendeinem albernen Beachgirlie am Strand zu vergnügen, dann kann ich auch auf Ihre Hilfe verzichten und stattdessen meinen Kollegen rufen lassen.“
Jason straffte die Schultern, während die Schwester ihm den Kittel im Nacken zuband. Er merkte, wie ihm vor Wut das Blut in den Kopf stieg. Zum Glück konnte Nick das nicht sehen. Diese Genugtuung wollte er ihm nicht geben.
„Wir haben das Strandfest vorbereitet“, erwiderte er, sich zur Ruhe zwingend. „Und ich bin an meinem freien Tag so schnell hergekommen, wie nur irgendwie möglich.“
Nick zog geringschätzig die Augenbrauen hoch.
„Nun, wie dem auch sei“, unterbrach er seinen Praktikanten. „Sie werden mir jetzt assistieren. Da können Sie beweisen, was Sie bisher gelernt haben.“ Er zog seine Handschuhe über und begann Jason über die Umstände der bevorstehenden OP zu informieren.
„Die Röntgenaufnahmen zeigen massive Einblutungen in den Bauchraum“, erklärte er. „Wir müssen uns beeilen.“ Er sah Jason mit seinen dunklen Augen eindringlich an, bevor sie beide den OP betraten, in dem schon die Anästhesieärztin und eine OP-Schwester warteten.
„Geben Sie Ihr Bestes, Jason.“, nuschelte er unter seinem Mundschutz. „Und lernen Sie!“
Am Strand
„Es geht doch nichts über ein romantisches Date am Strand bei dreißig Grad, im Schatten eines Rettungsturmes, zwischen Farbtöpfen und Sperrholzplatten“, hörte Selina plötzlich eine bekannte Stimme hinter sich. Sie drehte sich um und blickte in Allis schelmisch blitzende Augen.
„Hey“, rief sie angenehm überrascht. „Seit wann bist du hier?“
„Schon seit einer ganzen Weile“, grinste Alli und wies in die Richtung, in die Jason vor nicht allzu langer Zeit verschwunden war. „Er ist ein netter Kerl.“
„Du kennst ihn?“, fragte Selina erstaunt, und ihre neue Freundin nickte schmunzelnd.
„Aber klar, schließlich wohne ich mit ihm zusammen.“
Selina starrte sie erschrocken an.
„Willst du damit sagen, du und er...“
Alli lachte fröhlich.
„Keine Sorge, Jason ist einer meiner Mitbewohner. Wir teilen uns ein Haus, nicht unser Leben.“
„Ach so ist das“, lächelte Selina sichtlich erleichtert und schüttelte dann etwas verlegen den Kopf. „Eigentlich dürfte es mich ja überhaupt nicht interessieren, schließlich bin ich mit meinem Verlobten hier, auch wenn ich den, seitdem wir angekommen sind, kaum zu Gesicht bekommen habe.“
Alli setzte sich neben Selina in den Sand und betrachtete sie nachdenklich.
„Du fühlst dich ziemlich einsam, nicht wahr?“ Sie nickte verständnisvoll, als sie sah, wie die junge Frau betreten den Kopf senkte. „Glaub mir, ich kenne das Gefühl nur allzu gut. Kannst du denn nicht mit deinem Verlobten darüber reden?“
„Das habe ich schon mehr als einmal versucht“, erwiderte Selina. „Und ich weiß auch genau, dass er mich liebt, aber seine Arbeit kommt eben für ihn immer an erster Stelle. Damit muss ich mich wohl abfinden.“
„Mh.“ Alli fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Und was war das eben mit Jason? Weiß er, dass du nicht allein hier bist?“
„Nein. Ich will ihm auch keine falschen Hoffnungen machen, aber ich finde ihn einfach sympathisch. Er sieht phantastisch aus und ist so herrlich locker drauf. Ich fühle mich einfach gut, wenn wir ein bisschen flirten. Findest du das schlimm?“
Alli lachte über diese ihrer Meinung nach etwas naiv klingende Frage, doch dann wurde ihr Gesicht ernst.
„Gegen einen kleinen Flirt dürfte eigentlich niemand etwas einzuwenden haben, solange es einer bleibt. Aber du solltest nicht mit seinen Gefühlen spielen, Selina. Ich kenne ihn ja noch nicht lange, aber ich bin sicher, er hat es wirklich verdient, dass die Frau, in die er sich ernsthaft verliebt, ehrlich zu ihm ist.“
Selina nickte nur stumm, und Alli wurde überkam plötzlich das seltsame Gefühl, eben nicht nur von Jason gesprochen zu haben.
Stunden später, als sich der Tag langsam dem Ende neigte und die Sonne sich auf ihr letzte Reise zum fernen Horizont weit hinter dem Meer machte, schlenderten die beiden jungen Frauen einträchtig nebeneinander am Strand entlang. Sie hatten ihre Schuhe ausgezogen, und ihre nackten Füße wurden sanft von den Wellen umspült, die unaufhörlich auf den weichen Sand rollten und dort verebbten.
„Irgendwie liegt hier immer ein ganz besonderer Duft in der Luft“, meinte Selina und sog genießerisch die würzige Brise ein. „Ich kann es nicht erklären, aber ich glaube, diesen Duft gibt es wirklich nur hier.“
Alli lächelte.
„Du hast recht, es duftet nach... Kalifornien. LeAnn meint, dass die Santa Ana Winde etwas ganz Einmaliges sind.“
„Hat sie dir auch von dieser Legende erzählt?“, fragte Selina neugierig.
Alli nickte und dachte sofort wieder an ihre Begegnung mit Jack am ersten Abend auf dem Pier.
„Ja, die Legende ist mir bekannt.“
„Und?“, forschte Selina weiter.
„Ich war noch nicht auf dem Pier“, log Alli schnell und blinzelte gegen die Sonne. „Und was ist mit dir?“
Selina zuckte mit den Schultern.
„Mein Verlobter hatte noch keine Zeit mit mir hinzugehen, und allein? Ich weiß nicht recht.“
Sie drehte sich um und sah sehnsüchtig hinüber zum Pier, der sich wie eine lange, hölzerne Schlange weit aufs Meer hinauszog.
Plötzlich stutzte sie.
„Alli!“
„Was ist?“
„Ich weiß nicht, aber dort vorn, der Typ, der da auf uns zukommt, ich glaube, das ist Jason.“
Alli sah hin und nickte.
„Ja, und es sieht ganz so aus, als hätte er dich auch entdeckt. Was willst du jetzt tun?“
Hilfesuchend blickte Selina die Freundin an.
„Was würdest du tun?“
„Wie ich bereits sagte, das musst du ganz allein entscheiden“, erwiderte Alli diplomatisch und nickte Selina aufmunternd zu. „Ich verschwinde. Hör einfach auf dein Herz, dann wirst du sicher die richtige Entscheidung treffen.“
Am Strand
Jason konnte es kaum fassen. Da stand er dieser Frau gegenüber, der er bisher erst ganze dreimal begegnet war, und sofort hämmerte sein Herz in der Brust wie ein Vorschlaghammer.
„Hallo Selina“, sagte er so ruhig wie möglich. „Machst du einen Abendspaziergang?“
Sie nickte und fühlte sich plötzlich merkwürdig befangen.
„Ja, die Sonnenuntergänge hier sind absolut traumhaft. Ich kann mich kaum daran sattsehen.“
Jason lächelte.
„Ich lebe schon so viele Jahre in Destiny Beach, aber mich faszinieren sie auch immer wieder. Warst du schon auf dem Pier? Dort sind sie am Allerschönsten. Da bist du allein mit den Naturgewalten. Nur du, das Meer, die Wellen und die untergehende Sonne.“ Er wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern hielt ihr auffordernd seine Hand hin. „Komm mit, ich zeige dir, was ich meine.“
Selina wusste nicht, wieso, aber sie konnte gar nicht anders. Sie ergriff seine Hand und ließ sich in einem wahren Strudel der Gefühle von ihm davonziehen. In diesem Augenblick war ihr alles egal, sie dachte nicht mehr an Nick oder ihre Angst vor der Zukunft. Das Gefühl der Einsamkeit war wie weggeblasen. Es gab nur sie und diesen Mann, der sie irgendwie faszinierte und zugleich verwirrte. Bisher hatte sie ihn immer in seinen Arbeitssachen und einmal sogar in Badeshorts gesehen. Jetzt trug er ausgeblichene Jeans und ein helles Shirt und schien ihr fast fremd, was jedoch seiner erotischen Ausstrahlung auf sie keinerlei Abbruch tat, ganz im Gegenteil.
Schweigend liefen sie zum Pier hinüber.
Die Menschen, die ihnen begegneten, hielten sie sicher für ein Liebespaar, und für einen Augenblick ertappte sich Selina bei dem Gedanken, dass sie sich wünschte, es wäre so.
Am Ende des Piers angekommen, umklammerte sie das Geländer und starrte gedankenverloren hinaus aufs Meer und auf den feuerroten Sonnenball am Horizont.
Jason betrachtete sie schweigend von der Seite. Das gleißende Licht verzauberte Himmel und Wellen um sie herum und ließen ihr hübsches Gesicht und ihren bronzefarbenen Teint noch bezaubernder erscheinen. Ihr dunkles Haar schien die goldenen Strahlen der Sonne förmlich einzufangen.
Selina bemerkte seinen Blick und lächelte.
„Du bist also hier aufgewachsen“, sagte sie schnell, um der Magie zu entkommen, die sie beide in diesen Sekunden verband.
„Na ja, nicht ganz“, erwiderte er und brauchte einen Moment, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. „Ich bin schon frühzeitig von zu Hause fortgegangen. Ich hatte keine schöne Kindheit und auch kein Elternhaus, auf das man besonders stolz sein konnte. Irgendwann habe ich meine Sachen gepackt und bin weg. Einfach die Küste entlang getrampt, immer weiter. Ich habe hier und da gejobbt und bin schließlich in Destiny Beach gelandet. Das war vor acht Jahren. Inzwischen fühle ich mich so wohl hier, als hätte ich mein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht.“ Er sah sie abschätzend an. „Und woher kommst du?“
„Aus dem Osten“, erwiderte sie zunächst nur vage, nahm sich jedoch fest vor, ihm nun auch von Nick zu erzählen.
„Es war Zeit für eine Veränderung in meinem Leben, aber...“ Sie lächelte unsicher, „Momentan habe ich eher das Gefühl, als hätte ich alles falsch gemacht.“ Sie blickte wieder hinaus aufs Meer, damit er nicht sehen konnte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Jason trat ganz dicht an sie heran und legte seinen Arm um ihre Schultern.
„Ein neuer Anfang ist nie einfach, Selina“, sagte er sanft. „Aber er ist halb so schwer, wenn man jemanden an seiner Seite hat, mit dem man darüber reden kann, und der einen versteht.“
Sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und drehte sich dann entschlossen zu ihm um.
„Du hast Recht. Ich muss dir etwas sagen, Jason...“
Mitten im Satz brach sie ab, denn seine dunklen Augen waren ihr plötzlich gefährlich nah.
Sie war wie gefangen von seinem Blick.
Als sie Sekunden später seine Lippen auf ihrem Mund spürte, waren alle guten Vorsätze plötzlich vergessen. Alles was zählte, war dieser besondere Augenblick, und sie erwiderte seinen Kuss mit einer Leidenschaft, die sie selbst überraschte.
Sie standen eng umschlungen am Ende des Piers und gaben sich ihren Gefühlen hin, während die letzte Glut der Sonne am Horizont im Meer versank.
„Selina...“
Jasons sanfte Stimme brachte sie wieder zur Besinnung. Sie befreite sich abrupt aus seinen Armen und trat hastig ein paar Schritte zurück.
Fast entsetzt starrte sie ihn an.
„Nein, das... Ich wollte das nicht... Es tut mir leid...“
Bevor er auch nur ein Wort erwidern konnte, lief sie los, den Pier entlang zurück zum Strand. Sie rannte wie gehetzt, ohne sich umzudrehen und hielt erst an, als sie schweratmend vor dem DESTINY INN stand.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht! Was musste Jason jetzt von ihr denken!
Und Nick erst!
Selina glaubte sich selbst nicht zu kennen.
Der Zauber des Augenblicks... In Chicago hätte sie über diese Worte laut gelacht!
Aber hier? Hier war plötzlich alles anders.
Sie fühlte sich schwindlig und irgendwie unwirklich, als hätte sie alles nur geträumt. Aber das eben war kein Traum gewesen.
„Liebling?“
Erschrocken fuhr sie herum und sah sich Nick gegenüber, der sie verunsichert musterte. „Was ist denn mit dir los? Träumst du auf offener Straße?“
„Ich... wieso...“, stammelte Selina irritiert und ließ es zu, das er sie fürsorglich in den Arm nahm.
„Ich habe bereits mehrmals deinen Namen gerufen, und du hast überhaupt nicht reagiert“, stellte er kopfschüttelnd fest.
„Entschuldige, Nick, ich war in Gedanken“, erwiderte sie und versuchte mit aller Macht, sich zu fassen. „Kommst du aus der Klinik?“
Er nickte, während sie das Hotel betraten.
„Ja, wir hatten noch eine ziemlich schwierige Notoperation, aber jetzt bin ich nur für dich da, mein Schatz. Wenn du möchtest, führe ich dich ganz groß zum Essen aus!“
„Ja... Nein... Ich würde lieber...“
Nick blieb stehen und musterte sie irritiert.
„Was hast du denn nur? Du zitterst ja!“
Selina straffte die Schultern und atmete tief durch.
„Das ist sicher nur der Hunger. Ich weiß gar nicht, wann ich heute überhaupt etwas gegessen habe.“ Sie sah ihn an und ihr gelang ein mühsames Lächeln. „Du hast recht, lass uns essen gehen, jetzt gleich, nur wir beide!“