SUN CENTER
Jack erwachte in der frühen Morgendämmerung. Sein Blick wanderte sofort zu Alli, die entspannt neben ihm lag und noch fest schlief. Sie wirkte so zart und verletzlich, dass er sich zum wiederholten Male fragte, wo sie die Kraft hernahm, bisher mutterseelenallein durch die Welt zu ziehen.
Aber inzwischen wusste er, dass es in ihrer Vergangenheit irgend ein schreckliches Geheimnis gab, das sie unaufhörlich weitertrieb, und er hoffte irgendwann herauszufinden, was es war, damit er ihr helfen und sie beschützen konnte, bevor sie sich durch irgendetwas oder irgendwen gezwungen sah, Destiny Beach und damit auch ihm den Rücken zu kehren und weiter zu ziehen.
Er wollte sie nicht verlieren, um keinen Preis.
Zärtlich strich er über das dunkle Haar, welches ihr im Schlaf entspanntes Gesicht einrahmte. Die Versuchung war groß, sich herunterzubeugen und ihre leicht geöffneten Lippen zu küssen, doch er wollte sie nicht wecken, denn dann hätte er ihr erklären müssen, warum er heute in aller Herrgottsfrühe das Haus verließ.
Er musste unbedingt etwas erledigen, während alle anderen noch schliefen. Die Sache war von größter Wichtigkeit und der frühe Sonntagmorgen geradezu ideal dafür. Seine Freundschaft und sein Pflichtbewusstsein gegenüber seinem Freund und Arbeitgeber David Edwards zwangen ihn dazu, sich heimlich aus dem Haus zu schleichen, während die Sonne hinter den Bergen gerade erst begann, den Himmel langsam heller zu färben.
CEC Corporation
Jack ließ sein Motorrad am Hintereingang der Firma stehen und sah sich vorsichtig um, bevor er an die Tür aus schwerem Sicherheitsglas herantrat.
Auf dem Weg hierher war ihm niemand begegnet, die Straßen waren um diese Zeit menschenleer. Auch hier auf dem Firmengelände wirkte alles wie ausgestorben. Nur ein einzelner Jeep war auf der anderen Straßenseite abgestellt, doch dem schenkte Jack keine Aufmerksamkeit. Sicher irgendein Tourist, der keinen anderen Parkplatz gefunden hatte.
Gewohnheitsgemäß steckte Jack seine Chipkarte in den Scanner der Sicherheitsanlage, doch die Rückmeldung blieb aus. Erstaunt bemerkte er, dass die Kontroll- Lampe nicht leuchtete. Sollten George oder David oder der diensthabende Sicherheitsbeamte etwa vergessen haben, die Alarmanlage nach Verlassen des Gebäudes zu aktivieren?
Jack holte den Schlüssel aus seiner Jackentasche und schloss die Tür auf. Falls es sich nur um einen Wackelkontakt handelte, würde der Alarm spätestens jetzt losgehen, doch nichts tat sich. Beunruhigt durchquerte Jack den langen Flur bis zur Empfangshalle, von wo aus die drei Lifts nach oben in die verschiedenen Etagen gingen. Seine Schritte hallten in dem riesigen verglasten Raum wieder. Er sah sich vorsichtig um, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Trotzdem sagte ihm sein Instinkt, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
Sein Vorhaben, sich bei passender Gelegenheit etwas genauer in George Carringtons Büro umzusehen, geschah zwar mit Davids Einverständnis, doch sein Boss hatte keine Ahnung, dass sich Jack den Sonntagmorgen für diese Aktion ausgesucht hatte. Von da her konnte also niemand wissen, dass er um diese Zeit hier auftauchen würde.
Bevor er jedoch in die Chefetage hinauffuhr, wollte er sicherheitshalber die Videoüberwachung von letzter Nacht überprüfen.
Als sich die automatischen Türen zur Sicherheitsabteilung der Firma, wo sich auch sein eigenes Büro befand, öffneten, lag der große Raum mit der Monitorkonsole im Halbdunkel vor ihm, während die Bildschirme unbewegt vor sich hin flimmerten.
Alles schien ruhig...
Doch was war das?
Die Tür zu seinem Büro schloss er immer ab, sobald er das Gebäude verließ, da sich wichtige Unterlagen darin befanden. Jetzt jedoch war sie nur angelehnt, und Jack schien es, als hätte er soeben einen schwachen Lichtschein bemerkt.
Intuitiv zog er seine Waffe, die er vorsichtshalber mitgenommen hatte.
Langsam ging er auf die halbgeöffnete Tür zu...
SUN CENTER
Als Alli die Augen aufschlug, war es bereits hell. Sie hörte das Rauschen der Wellen, in das sich das fröhliche Zwitschern der Vögel mischte und bemerkte, wie vertraut ihr diese Geräusche bereits geworden waren. Sie hatten so etwas Beruhigendes.
Sie drehte sich zur Seite und stellte erstaunt fest, dass Jacks Platz neben ihr leer war.
„Bestimmt ist er duschen oder bereitet das Frühstück, um mich damit zu überraschen“, dachte sie und ließ sich in die Kissen zurückfallen. Der Gedanke an gestern Abend zauberte sofort ein entspanntes Lächeln auf ihr Gesicht.
Gemeinsam mit Jason und Selina waren sie vom DESTINY NIGHT nach Hause gegangen, und obwohl sie beide kaum die Finger voneinander lassen konnten, hatten sie sich doch eisern beherrscht, um die anderen beiden, die ihre offensichtlichen Gefühle füreinander um jeden Preis zu verbergen versuchten, nicht unnötig in Verlegenheit zu bringen.
Doch kaum standen sie oben vor Jacks Zimmer, ging alles ganz schnell. Eng umschlungen und sich leidenschaftlich küssend stolperten sie förmlich in den Raum hinein und hatten sich binnen weniger Sekunden ihrer Sachen entledigt.
Sie erinnerte sich daran, dass sie sich irgendwann gemeinsam mit Jack im Badezimmer unter der Dusche wiederfand, aber sie hätte nicht mehr mit Bestimmtheit sagen können, ob es kaltes oder heißes Wasser war, womit sie sich gegenseitig den Seifenschaum von der Haut spülten, bevor Jack sie in eine übergroßes flauschiges Badetuch hüllte und zärtlich damit begann, ihren Körper damit trockenzureiben. Dann hatte er sie in sein Zimmer getragen und sie hatten sich geliebt, langsam und voller unendlicher Zärtlichkeit...
Dieses Erlebnis war so sinnlich und intensiv gewesen, dass ihr die bloße Erinnerung daran wohlige Schauer über den Rücken jagte. Sie konnte seine streichelnden Hände noch immer überdeutlich auf ihrer Haut spüren.
Was war nur mit ihr passiert?
Hatte sie sich nicht geschworen, sich nach all dem, was geschehen war, nicht wieder zu verlieben?
Zu spät. Sie vermochte nichts gegen dieses überstarke Gefühl zu tun, obwohl sie genau wusste, dass es besser und vor allem sicherer für sie beide gewesen wäre, wenn sie spätestens jetzt ihre Sachen packen und heimlich verschwinden würde. Sie wollte nicht riskieren, dass Jack ihretwegen etwas zustieß und er vielleicht so endete wie Andy.
Doch entgegen aller Vernunft war ihr klar, dass sie das nicht konnte, denn wenn er jetzt gleich zur Tür hereinkäme, wären alle guten Vorsätze wieder dahin.
Sie genoss die morgendliche Stille und hing noch eine Weile ihren Gedanken nach, doch irgendwann fiel ihr auf, dass man unmöglich so lange duschen oder Frühstück zubereiten konnte. Schließlich stand sie auf, schlüpfte in Jacks Bademantel und machte sich auf die Suche nach ihm.
Das Badezimmer war leer. Im ganzen Haus herrschte Stille, alle schienen noch fest zu schlafen.
Als sie auch die Küche unten leer vorfand, lief Alli von einer unbestimmten inneren Unruhe getrieben in die angrenzende Garage.
Jacks Bike war weg.
CEC Corporation
Das erste, was Jack sah, als er vorsichtig und lautlos sein Büro betrat, war der Lichtkegel seiner Schreibtischlampe. Wieso zum Teufel war sie eingeschaltet?
Doch bevor er sich auch nur einen Gedanken darüber machen konnte, wurde ihm die schwere Tür mit aller Kraft in die Seite gerammt, so dass er das Gleichgewicht verlor und gegen das Bücherregal auf der anderen Seite geschleudert wurde. Krachend fiel es um, und die Bücher polterten herunter. Mit Mühe konnte Jack verhindern, dass er selbst stürzte, doch der Angreifer hinter der Tür nutzte die Gelegenheit zur Flucht.
Sekunden später war Jack ihm auf den Fersen.
„Halt, stehen bleiben!“, rief er pflichtgemäß.
Der vermeintliche Einbrecher dachte jedoch nicht daran. Auf seinem Weg durch die Empfangshalle schleuderte er seinem Verfolger eine Blumeneinpflanzung in den Weg und verschaffte sich dadurch noch einmal einen geringfügigen Vorsprung, denn Jack rutschte auf den in den Kübeln befindlichen kleinen feuchten Steinen aus und stürzte nun wirklich.
„Verdammt!“ Er rappelte sich hoch und nahm sofort die Verfolgung wieder auf.
Draußen vor dem Eingang sah er gerade noch, wie ein dunkel gekleideter Mann in den gegenüber abgestellten Jeep sprang, den Wagen startete und mit durchdrehenden, quietschenden Reifen davonfuhr.
Doch so leicht gab Jack nicht auf.
Aus unerfindlichen Gründen hatte jemand in die Firma eingebrochen, die Alarmanlage professionell außer Betrieb gesetzt und in seinem Büro herumgeschnüffelt, und er würde ihn bestimmt nicht einfach so davonkommen lassen!
Sekunden später schwang er sich auf sein Motorrad, stülpte den Helm über und verfolgte den Jeep in rasanter Geschwindigkeit stadtauswärts.
Die Straßen in und um Destiny Beach
Der Mann am Steuer des Jeeps war ein guter Fahrer, das merkte Jack sehr schnell. Er musste sein gesamtes Können aufbringen, um ihm zu folgen. In wilder Jagd ging es zuerst hinaus auf die Küstenstraße, die nach Huntington hinüberführte, dann bremste der Jeep überraschend, wendete und raste zurück, eine dicke Staubwolke aufwirbelnd.
„Na warte, ich krieg` dich schon, Freundchen“, knurrte Jack unter seinem Helm und drehte seine Kawasaki bis zum Anschlag auf. „Dann wirst du mir erzählen, was du in meinem Büro gesucht hast! Und vor allem, in wessen Auftrag.“
Der Jeep bog in die Straße ein, die zum Yachthafen hinunterführte.
Jack lachte siegessicher. Dort unten war der Strand, und der Kerl würde sein Fahrzeug irgendwann im Sand festfahren.
Doch der Jeep erwies sich strapazierfähiger als erwartet. Mit Vollgas und durchdrehenden Rädern, die den feinen Sand wie eine Fontäne hinter sich aufwirbelten, preschte er über die Dünen und gelangte von dort zurück auf die Straße.
Jack gab nicht auf. Er erkannte die Absicht des anderen und kürzte ab, indem er längs durch die Dünen fuhr. Das war strengstens verboten, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Hier ging es um mehr.
Den letzten Hügel nahm er in einem Satz, so dass er mit seinem Motorrad regelrecht ein Stück durch die Luft flog und in einiger Entfernung hinter dem Jeep auf der Straße landete.
Die zwei Streifenpolizisten, die gelangweilt in ihrem Dienstwagen die Gegend abfuhren, sahen sich zu Tode erschrocken an und waren schlagartig munter, als kurz vor ihnen plötzlich ein Motorrad wie aus dem Nichts auftauchte und in irrsinnigem Tempo davonraste.
„Hast du das gesehen, Marces?“, fragte der eine und starrte nicht gerade geistreich durch die Windschutzscheibe.
Der andere nickte und schaltete Sekunden später die Sirene ein.
„Fahr los und nimm die Abkürzung, Frank! Den Mistkerl kaufen wir uns!“
Der Mann im Jeep und sein Verfolger bekamen von alledem nichts mit.
Weiter ging die wilde Jagd. Die schmale, unbefestigte Straße, auf der sie sich befanden, führte bergauf zum Freeway oberhalb der Stadt.
Irgendwann hörte Jack plötzlich einen Knall und bemerkte, wie etwas an ihm vorbeipfiff. Kurz darauf noch einmal. Entsetzt erkannte er, dass der Mann vor ihm den Arm aus dem Wagenfenster streckte und auf ihn schoss. Instinktiv duckte er sich, ohne jedoch das Tempo zu vermindern. Der Jeep vor ihm kam kurz ins Schleudern, fing sich dann aber wieder, als der Fahrer den Angriff aufgab und das Steuer erneut fest umklammerte.
„Jetzt reicht`s mir aber...“
Die Tatsache, dass der Unbekannte anscheinend bereit war, bis zum Äußersten zu gehen, spornte Jack nur noch mehr an. Er holte auf und befand sich kurz hinter dem Jeep, als dieser plötzlich eine derartige Vollbremsung machte, dass er auf der engen Straße drehte.
Damit hatte Jack nicht gerechnet. Sofort trat auch er auf die Bremse, doch es war bereits zu spät. In letzter Sekunde wich er aus und verhinderte einen Frontalzusammenprall, doch seine Maschine kam gefährlich ins Schlingern. Er wäre garantiert gestürzt, hätte er sie nicht geistesgegenwärtig in einen schmalen holprigen Seitenweg gelenkt, der die Böschung hinunterführte. Am Ende des Weges befand sich ein Erdwall.
Jack riss den Lenker hoch und flog mitsamt seiner Maschine ein paar Meter durch die Luft...
Die Landung war für ihn im doppelten Sinne hart.
Kurz vor einem Streifenwagen setzte er auf dem Asphalt auf, verkantete die Maschine dabei und rutschte seitlich mit dem Hinterrad weg, wobei die Kawasaki aufheulend ein Stück über die Straße schlitterte und gegen die Stoßstange des Polizeiautos knallte, das mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam.