CEC Corporation
Am nächsten Vormittag stand Alli vor dem Eingang der CEC Corporation und betrachtete immer noch etwas skeptisch das imposante Gebäude.
Große verspiegelte Fenster glänzten leicht getönt in der Sonne, und der in riesigen schwarzen Lettern aufgedruckte Name auf der schneeweißen Fassade der weithin bekannten Immobilienfirma wirkte fast einschüchternd auf sie.
Dem Anlass entsprechend hatte Alli besonders viel Wert auf ihr Aussehen gelegt, denn sie wollte einen guten Eindruck hinterlassen, obwohl sie ihren zukünftigen Arbeitgeber ja eigentlich schon kannte. Ihr schulterlanges Haar war sorgfältig aufgesteckt, und sie trug ein von Selina geborgtes, nachtblaues Chanelkostüm, das ihr ausgezeichnet stand, auch wenn sie sich in diesem ungewohnten Outfit noch nicht so ganz wohl fühlte.
Heute Morgen war sie nach einem Blick in ihren Kleiderschrank fast in Panik verfallen. Nein, ihre Garderobe konnte man ganz und gar nicht als geschäfts- oder büromäßig bezeichnen, denn seit sie mit ihrer „Reise“ begonnen hatte, bevorzugte sie eher legere und praktische Kleidung. Außer ein paar Sommerkleidern waren es meistens Jeans, Blusen, Shirts und Tops, die sich in ihrem Schrank befanden. „Freizeitmode“ würde Susan sagen.
Alli schluckte.
Nicht an Susan denken, nicht jetzt...
Nur gut, dass Selina und sie die gleiche Konfektions-Größe hatten. Alli sah auf ihre Füße, die in ungewohnt eleganten dunkelblauen Pumps steckten. Sogar die Schuhgröße stimmte. Und die weiße Bluse, die sie unter dem Blazer trug, rundete das Bild der modernen Geschäftsfrau ab.
Geschäftsfrau?, dachte sie und schüttelte fassungslos über sich selbst den Kopf. Oh mein Gott, ich glaube es nicht!
Sie atmete tief durch.
Wenn sie den Job bei David Edwards wirklich bekäme, dann würde sie Selina kurzerhand zu ihrer persönlichen Modeberaterin ernennen und noch heute mit ihr gemeinsam eine Shoppingtour unternehmen, um ihre Garderobe um einige Stücke zu ergänzen!
Sie sah nervös auf die Uhr. Jack hatte sich hier mit ihr verabredet, um sie zu Davids Büro zu bringen, aber er war noch nirgends zu sehen.
Warum war sie bloß so unruhig? Das hier war doch nur ein Job, nichts weiter. Und noch dazu bei einem Boss, den sie bereits kennengelernt hatte und der gar nicht netter sein könnte!
Trotzdem...
Sie hatte sich entschlossen, zumindest für eine gewisse Zeit hierzubleiben, und genau dieser Entschluss schien für ihre innere Unruhe verantwortlich zu sein.
Immer wieder schaute sie sich diskret nach allen Seiten um, eine Angewohnheit, die sie in den letzten Monat derart verinnerlicht hatte, dass sie einfach nicht anderskonnte.
Als sich die schwere gläserne Glastür am Eingang schließlich öffnete und Jack heraustrat, atmete sie erleichtert auf. Lächelnd kam er auf sie zu.
„Allison Tyler?“ Er betrachtete sie erstaunt von Kopf bis Fuß und pfiff dann anerkennend durch die Zähne.
„Meine Güte, ich wünschte, ich wäre an Davids Stelle! Aber mir gesteht er ja keine persönliche Assistentin zu.“
Sie lächelte unsicher.
„Meinst du wirklich, ich sehe gut genug aus?“
„Du siehst sensationell aus, Baby“, erwiderte Jack voller Überzeugung. „Brenda wird sich in dezentes Hellgrün verfärben, wenn sie dich sieht! Na komm schon.“ Er ergriff ihre Hand. „Bevor du es dir am Ende doch noch anders überlegst.“
SUN CENTER
Als Jack am späten Nachmittag von der Arbeit kam, stand Allis Motorrad nicht in der Garage.
`Sie ist weg...`, durchfuhr es ihn schlagartig. Der Gedanke daran nahm ihm für Sekunden den Atem. `Ihr ist klar geworden, dass sie sich mit diesem Job heute irgendwie festgelegt hat und nun hat sie Panik bekommen.`
Von schlimmen Vorahnungen getrieben betrat er Sekunden später eilig das Haus. In der Küche traf er auf Tom, der mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt war. Auf Jacks Frage, ob er wüsste, wo Alli sei, hob er nur kurz die Schultern.
„Sie ist noch unterwegs. Dort auf dem Tisch liegt eine Nachricht.“
„Für mich?“, fragte Jack in banger Voraussicht.
Tom grinste.
„Für uns alle.“
”Lebenswichtige Shopping-Tour! Sind zum Abendessen zurück. Selina und Alli“, las Jack laut vor und atmete befreit auf, einerseits, weil seine schlimmen Befürchtungen unbegründet gewesen waren, und andererseits, weil er an die nächtliche Auseinandersetzung mit Alli denken musste, die sie beide neulich geführt hatten.
„Schau einer an, sie hat es sich tatsächlich gemerkt.“
„Was gemerkt?“, erkundigte sich Tom beiläufig und schob sich ein Stück Wurst in den Mund.
Jack grinste.
„Das wir hier so etwas wie eine Familie sind.“
„Du bist ganz schön verknallt, was?“, stellte sein Mitbewohner kauend fest. Jack ignorierte die Bemerkung und schnappte sich ein Messer vom Küchentisch.
„Mach ein wenig Platz, ich helfe dir.“
Eine halbe Stunde später kehrten Selina und Alli, schwer beladen mit Tüten und Päckchen, von ihrer Shoppingtour zurück.
Selina kickte ihre Schuhe von den Füßen und sank völlig fertig auf einen Stuhl.
„Den Santa Monica Boulevard gibt’s nicht mehr“, meinte sie stöhnend. „Alles aufgekauft.“
„Ihr wart in Santa Monica?“, fragte Tom staunend. „Wieso fahrt ihr denn so weit? Destiny Beach hat doch auch ein Einkaufs-Center!“
Selina verdrehte theatralisch die Augen und wies mit dem Daumen in Allis Richtung.
„Weit? Wenn du mit dieser Frau Motorrad fährst, liegt Santa Monica gleich nebenan.“
Alli lachte.
„Wie auch immer, auf jeden Fall bin ich jetzt büromäßig eingekleidet.“
„Ach, stimmt ja“, erinnerte sich Tom. „Gratuliere zum neuen Job! Ich habe gehört, du wirst jetzt bei der CEC Karriere machen und den Immobilienhaien knallhart zeigen, wo`s langgeht.“
„Es würde mir schon reichen, wenn ich mich morgen nicht allzu blöd anstelle, sonst wirft mich David gleich wieder hinaus“, erwiderte Alli schmunzelnd.
Jack winkte grinsend ab.
„Dümmer als Brenda kannst du gar nicht sein.“
„Vielen Dank auch.“ Alli wies auf die zahlreichen Einkaufstüten. „Zur Strafe für diese Bemerkung wirst du mir jetzt helfen, das Zeug nach oben zu bringen.“
„Bravo“, stimmte Selina zu. „Dann kann ich wenigstens hier sitzen bleiben. Ich bin völlig erledigt.“
Eine Brise frischer Seeluft wehte ihnen entgegen, als Alli die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.
Sie warf ihre Lederjacke achtlos aufs Bett, ließ sich in einem der Sessel nieder und streifte mit einem Seufzer der Erleichterung die Schuhe von ihren Füßen.
„Puh, das war eine Tortur“, stöhnte sie. „Shopping macht einen fertig.“
„Ja, in Santa Monica gibt es mehr als genug Läden“, bestätigte Jack lächelnd. „Wo soll der ganze Kram hin?“
„Lass einfach alles fallen.“ Sie rieb sich ihr Genick und verzog schmerzlich das Gesicht dabei. „Ich werde schnell unter die Dusche springen, dann komme ich runter zum Abendessen.“
Jack stellte die Einkaufstaschen ab und trat hinter sie an den Sessel.
„Entspann dich“, sagte er leise und begann ihren Nacken und ihre Schultern mit sanftem Druck zu massieren. Sie legte genießerisch den Kopf zurück und schloss die Augen.
„Mmmh, das tut gut.“
Seine Hände fühlten sich stark und zugleich so zärtlich an. Sie hinterließen bei jeder Bewegung ein angenehmes Kribbeln auf ihrer Haut, und sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn...
„Ich glaube, dein Handy klingelt“, holte Jacks Stimme sie aus ihren Fantasien zurück. Schlagartig ernüchtert richtete sie sich auf und begann fieberhaft nach ihrer Tasche zu suchen. Es konnte nur einer sein, der sie anrief. Nur ein einziger Mensch auf der Welt hatte diese Nummer...
Endlich hatte sie das Handy gefunden und drückte auf die grüne Taste.
„Ja?“
Der Anruf kam unerwartet. Es musste irgendetwas Außergewöhnliches geschehen sein. Sie lauschte angespannt und nickte dann.
„In Ordnung. Ich bin gleich da.“
Sie beendete das Telefonat und sprang auf.
Jack sah sie an und glaubte für einen Augenblick so etwas wie Panik in ihren Augen zu erkennen.
„Entschuldige bitte“, sagte sie hastig, schlüpfte in ihre Schuhe und griff nach der Jacke. „Ich muss noch mal kurz weg.“
Wortlos blickte Jack ihr nach, wie sie in fliegender Eile das Zimmer verließ. Kurz darauf hörte er unten den Motor ihrer Maschine aufheulen. Er trat ans offene Fenster und sah, wie Alli auf ihrem Motorrad in die hereinbrechende Dunkelheit verschwand.
Einen kurzen Augenblick lang zögerte er, dann drehte er sich um und eilte nach draußen.
Destiny Beach Freeway
Nachdem sie absichtlich einen Umweg gefahren war, bremste Alli ihr Motorrad hinter dem Ortsausgangsschild von Destiny Beach ab, sah sich kurz um und bog dann in eine kleine Seitenstraße ein, die zum Bootshafen führte.
Dort hielt sie an und stellte den Motor ab.
Sie blickte sich erneut vorsichtig um und ging dann zu einem zwischen den Bäumen parkenden dunklen Wagen, dessen Fahrertür sich langsam öffnete.
Ein großer, breitschultriger Mann mit militärisch kurzgeschnittenem dunklem Haar stieg aus. Der Unbekannte schien bereits eine etwas längere Autofahrt hinter sich zu haben, denn er streckte die langen Beine, die in ausgewaschenen Jeans steckten, zunächst umständlich aus, bevor er sich anschickte, Alli entgegen zu gehen. Er mochte um die Vierzig sein und wirkte sehr durchtrainiert und sportlich, ein Eindruck, den die legere schwarze Lederjacke, deren Kragen er lässig hochgestellt hatte, noch zusätzlich unterstrich.
„John“, flüsterte Alli und blieb wenige Schritte vor ihm stehen. Anstatt einer Antwort breitete er nur die Arme aus, und sie warf sich aufschluchzend hinein. Er hielt sie fest und strich ihr mit der einen Hand beruhigend übers Haar.
„Na komm schon, Sam, ist es wirklich so schlimm?“
Sie nickte heftig und befreite sich aus seiner Umarmung. Fast entschuldigend sah sie ihn an.
„Sorry, aber das geht mir jedes Mal so, wenn wir uns sehen. Du bist die Brücke in meine Vergangenheit.“
Im Halbdunkel war sein Gesicht nicht sehr deutlich zu erkennen, aber seine markanten, fast schon kantigen Gesichtszüge wirkten plötzlich angespannt. Als er ihre Worte hörte, wurde seine Miene noch ernster. Missbilligend presste er die schmalen Lippen aufeinander.
„Welche Vergangenheit? Du hast keine mehr, schon vergessen?“
„Wie könnte ich das“, erwiderte Alli bitter.
Er sah sich erneut vorsichtig um.
"Könnte dir jemand gefolgt sein?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Nein, du weißt, ich bin sehr vorsichtig."
„Wir sollten trotzdem nicht hierbleiben. Lass uns ein Stück fahren.“
Er legte seine Hand um ihre Schultern, eine Geste, die sehr viel Vertrautheit zwischen ihnen offenbarte. Wortlos folgte ihm Alli zu seinem Wagen. Sekunden später startete er den Motor, wendete und fuhr den Weg zurück, den sie zuvor gekommen war.
Nachdem er auf den Freeway abgebogen war, und sich das Motorengeräusch seines Wagens in der Entfernung verlor, löste sich ein Schatten am Wegrand und verschwand lautlos zwischen den Bäumen.