Medical Center
Aileen sah von ihrem Schreibtisch auf, als die Sprechstundenhilfe den Kopf zur Tür hereinsteckte.
„Dr. Ling, hier ist eine Miss Wood und möchte Sie sprechen. Hätten Sie einen Augenblick Zeit?“
Aileen nickte, obwohl sie sich nicht so recht erklären konnte, was Nicks Verlobte von ihr wollte.
„Natürlich. Bitten Sie sie herein.“
Selina betrat das Zimmer mit einem strahlenden Lächeln.
„Wie nett, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“
„Oh, keine Ursache.“ Aileen lehnte sich zurück. „Was kann ich für Sie tun, meine Liebe? Bitte, setzen Sie sich doch. “
Selina ignorierte die Aufforderung und blieb dicht vor dem Schreibtisch der jungen Ärztin stehen.
„Ich wollte mich nur noch einmal persönlich bei Ihnen bedanken, Aileen.“
„Wofür denn?“
„Für Ihr... Wie soll ich es am besten ausdrücken?“ Sie schien einen Augenblick nach den richtigen Worten zu suchen und lächelte dann. „Nennen wir es überdurchschnittliches Interesse an meinem Beruf. Ich weiß das sehr zu schätzen, wenn gleich ich die Art und Weise, in der sich dieses Interesse bei Ihnen äußert, ehrlich gesagt nicht ganz nachvollziehen kann.“
Aileens Mandelaugen verengten sich misstrauisch.
„Wie darf ich das verstehen?“
„Nun“ Selina zog ein Foto aus ihrer Tasche und reichte es ihr. „Ich will nicht lange drum herumreden. Ich finde es etwas übertrieben, dass Sie private Aufnahmen aus meiner Kamera heimlich abgespeichert und als mehr oder weniger amüsante Fotomontage bearbeitet haben, während ich versuchte, den Kaffee auszuwaschen, den Sie mir, ganz versehentlich natürlich, über mein Kostüm geschüttet hatten.“
Aileen versuchte vergeblich, möglichst gleichgültig dreinzublicken, während ihr das Blut in die Wangen schoss und ihre Mundwinkel verdächtig zuckten.
„Also ich weiß gar nicht, wie Sie auf diese absurde Idee kommen, ich hätte...“, begann sie sichtlich nervös, doch Selina winkte nur lächelnd ab.
„Vergessen Sie es, Aileen, es ist ja nicht weiter schlimm, und im Bearbeiten von Fotos scheinen Sie ein echtes Talent zu sein. Nur möchte ich Sie bitten, die Personen, deren Aufnahmen Sie für ihre Künste verwenden, das nächste Mal vorher zu fragen. Ansonsten kann es nämlich sehr schnell passieren, dass man eine Klage am Hals hat.“
Aileen starrte sie böse an.
„Eine... was?“
„Eine Klage, zum Beispiel wegen übler Verleumdung“, erwiderte Selina so sanftmütig wie möglich. „Vor allem dann, wenn man derartige Fotos gleich postwendend an die lokale Presse weitergibt.“ Sie trat an den Schreibtisch heran, stützte die Arme an der Tischkante ab und blickte der jungen Ärztin fest in die Augen. „Sehen Sie, Aileen, diese beiden Personen auf besagtem Foto sind zufällig sehr gute Freunde von mir, und sie sind garantiert kein Liebespaar. Wenn es so wäre, wüsste ich das. Aber vor allem diese junge Frau...“ Sie tippte auf das Bild von Alli „Sie ist momentan sehr glücklich mit einem anderen Mann, und wir wollen doch beide, dass es so bleibt, nicht wahr?“
Aileen blieb ihr die Antwort schuldig und biss sich wütend auf die Lippen.
Selina nickte zufrieden.
„Ich wusste, dass Sie mich verstehen.“ Sie nahm das Foto und steckte es wieder ein. „Dann will ich Ihre kostbare Zeit auch nicht länger als nötig in Anspruch nehmen. Hat mich gefreut, Sie wiederzusehen. Einen schönen Tag noch, meine Liebe!“
Als die Tür hinter Selina ins Schloss gefallen war, stieß Aileen Ling einen nicht sehr damenhaften Fluch aus und zerknüllte in ohnmächtiger Wut die Notizen, an denen sie bis vor ein paar Minuten gearbeitet hatte.
„Verdammtes Miststück! Das wirst du mir büßen!“
„Das glaube ich nicht“, erklang eine drohende Stimme dicht hinter ihr. Sie fuhr herum und sah geradewegs in Nicks dunkle Augen. Er starrte sie mit einer Entschlossenheit an, die sie überraschte.
„Wie lange stehst du da schon?“, fragte sie ungehalten und wies auf die Verbindungstür zum benachbarten Behandlungszimmer.
„Lange genug“, erwiderte er, kam langsam näher und blieb dicht vor ihr stehen.
„Und?“, fragte sie schnippisch und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
Blitzschnell beugte Nick sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Armlehnen ihres Chefsessels ab, so dass ihr keine Rückzugsmöglichkeit blieb.
„Was war das eben? Was hattest du vor? Wolltest du etwa mit dieser lächerlichen Fotomontage die neue Freundin deines Ex-Freundes abservieren?“
„Nick, was soll denn das?“ Verunsichert bemerkte sie seine wütend funkelnden Augen und versuchte ihn sogleich mit einem verschlagenen Grinsen abzulenken. „Hey, du siehst sexy aus, wenn du wütend bist!“
„Sei still, verdammt!“, herrschte er sie mit einem vorsichtigen Seitenblick zur Tür an. „Für heute hast du genug Unsinn angestellt!“
Long Beach
Alli starrte auf die Hand, die ihren Arm wie ein Schraubstock umklammerte und saß einen Moment lang vor Schreck wie versteinert. Dann hob sie langsam den Kopf und blickte geradewegs in Jacks Gesicht. Wortlos, aber mit sichtlich mühevoll verhaltener Wut funkelte er sie an.
„W... was tust du denn hier?“, stotterte sie verwirrt und zugleich erleichtert, dass es nicht Raves oder einer von dessen Leuten gewesen war, der sie hier entdeckt hatte.
„Dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen.“
Alli warf einen raschen Blick auf die schwarze Limousine, die sich inzwischen langsam über den Parkplatz in Richtung Ausfahrt bewegte. Gleich würde sie um die Ecke biegen, und damit wäre auch die einzige Chance vertan, die Spur des Verbrechers zu verfolgen.
„Jack, es tut mir leid, aber das kann ich dir jetzt nicht erklären“, erwiderte sie hektisch. „Ich muss etwas sehr Wichtiges erledigen.“
„Ja“, knurrte er. „Darauf wette ich! Etwas Lebenswichtiges.“
„Jack, bitte...“
Er öffnete entschlossen die Fahrertür.
„Rutsch rüber!“
„Nein!“, protestierte sie erschrocken. „Du wirst dich da auf keinen Fall einmischen!“
„Das habe ich bereits getan.“ Seine Stimme duldete keinen weiteren Widerspruch. „Also was ist? Willst du den Wagen verfolgen oder nicht?“
Alli kannte Jack inzwischen gut genug um einzusehen, dass jede Diskussion erfolglos war und kletterte blitzschnell auf den Beifahrersitz.
„Er ist gefährlich“, wagte sie einen letzten Einwand, erntete jedoch nur ein höhnisches Lachen.
„Was du nicht sagst.“ Mit quietschenden Reifen fuhr er los. „Und lass dir eins gesagt sein, Allison Tyler: Wenn wir uns schon mit einem Verbrecher wie William Raves anlegen, dann tun wir das gefällig auf meine Weise!“
Medical Center
„Wieso machst du sowas?“
Ungehalten und sichtlich entsetzt von der unlauteren Intrige seiner Kollegin lief Nick wütend im Zimmer auf und ab. Aileen dagegen saß scheinbar ungerührt in ihrem Computersessel und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.
„Was ich getan habe, das habe ich für uns beide getan, du Idiot! Ich will Jack zurück, und du willst Selina!“ Sie wippte mit ihrem Stuhl und zog einen Schmollmund. „Leider hat der erste Versuch nicht ganz funktioniert, aber das muss ja nichts heißen. So schnell gebe ich nicht auf.“
Nick schüttelte missbilligend den Kopf.
„Du willst es nicht kapieren, Aileen! Wir sind Ärzte, wir haben Verantwortung zu tragen und sollten daher eigentlich weit über solchen kindischen Eifersüchteleien stehen.“
„Eifersüchteleien nennst du das, wenn deine Beziehung in die Brüche geht? Willst du denn gar nicht um deine Verlobte kämpfen?“
Nick räusperte sich und zerrte an seiner Krawatte, als sei sie ihm plötzlich zu eng.
„Nein, das will ich nicht. Selina hat gewusst, auf was für ein Leben sie sich einlässt, als sie mir hierher folgte. Wenn sie jetzt den gemeinsamen Weg beenden will, dann ist das ihre Entscheidung, und sie muss damit leben. Ich jedenfalls tue, was ich tun muss.“
Aileen lachte abfällig.
„Doktor Niklas Stevenson, du bist ein wahrer Patriot!“
„Meine Entscheidung steht fest. Ich habe mich vom ersten Augenblick hier unwohl gefühlt, und deshalb werde ich das Angebot annehmen und diese verdammte Stadt verlassen. Und wenn du schlau bist, tust du dasselbe, denn mir scheint, du bist bei bestimmten Leuten hier auch nicht gerade willkommen.“
„Seattle, sagtest du?“ Aileen überlegte einen Augenblick, dann stand sie auf und kam aufreizend langsam auf ihn zu. „Vielleicht hast du ja Recht, Nicki“, gurrte sie mit samtweicher Stimme und widmete ihm einen verheißungsvollen Augenaufschlag, als sie ganz dicht vor ihm stehenblieb. Sie griff nach seinen Händen, die nervös an der Krawatte zerrten. „Lass mich das machen. Entspann dich!“
Ihr sinnliches Lächeln und der exotische Duft ihres Parfüms verwirrten ihn. Er räusperte sich verlegen, was sie mit einem kehligen Lachen quittierte.
„Hey Doc, bleib locker! Was meinst du…“ Ihre Hände hatten den Knoten gelöst und begannen damit, den obersten Knopf an seinem Hemd zu öffnen. „Ob die in Seattle wohl auch noch eine Stelle für mich übrig hätten?“
„Ich.. ähm… keine Ahnung…“
„Du könntest dort anrufen und nachfragen.“ Sie öffnete den zweiten Knopf, senkte den Kopf und hauchte einen Kuss auf seinen entblößten Hals. „Sag einfach, deine Verlobte, mit der du anreist, ist ebenfalls eine sehr begabte junge Ärztin.“
„Aileen… also ich weiß nicht…“
„Komm schon, Nicky…“, schnurrte sie wie ein Kätzchen, dann wanderten ihre Lippen höher, und sie begann spielerisch an seiner Unterlippe zu nagen.
„Mmmh.“ Unfähig sich zu rühren, schloss Nick die Augen und ergab sich widerstandslos diesem erotischen Überfall seiner überaus reizvollen Kollegin.
Während ihre geschickten Hände einen weiteren Knopf seines Hemdes öffneten und die nackte Haut darunter berührten, fanden sich ihre Lippen schließlich zu einem wilden, leidenschaftlichen Kuss.
Die beiden waren derart miteinander beschäftigt, dass keiner von ihnen bemerkte, wie sich die Tür langsam öffnete…
Long Beach
Die schwarze Limousine verließ das Stadtzentrum von Long Beach und bog in nördliche Richtung ab.
Jack und Alli folgten in größtmöglichem Abstand, um nicht bemerkt zu werden.
„Was wolltest du eigentlich mit diesem Alleingang erreichen?“, fragte Jack nach einer ihm endlos scheinenden Zeit eisernen Schweigens. Er war immer noch ärgerlich über Allis überstürzte Aktion. „Wolltest du ein wenig Ich-fang-den-Gangster spielen?“
Sie warf ihm einen beleidigten Blick zu.
„Mach dich bitte nicht lustig über mich. Ich weiß schon, was ich tue.“
„Ach ja? Da bin ich mir gar nicht so sicher“, schnaubte Jack ungehalten. „Ist dir eigentlich klar, wer aller Wahrscheinlichkeit nach in dieser Limousine da vor uns sitzt? Victor Travis alias William Raves, einer der übelsten Mafiabosse, die zurzeit hier zu Lande noch frei herumlaufen! Die gesamte US-Bundespolizei ist hinter ihm her!“
„Ich weiß, wer William Raves ist“, antwortete Alli leise. „Ich weiß es nur zu gut.“
„Ach ja? Und warum vertraust du dich mir nicht endlich an, damit ich dir helfen kann?“
„Ich habe mit Raves eine persönliche Rechnung offen, aber ich will niemanden mit in die Sache hineinziehen. Vor allem möchte ich dich nicht in Gefahr bringen.“
Jack warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
„Mit diesem Mann hat man nicht einfach eine Rechnung offen! Glaub mir, Alli, wenn dir etwas passieren würde, wäre das für mich viel schlimmer, als wenn ich mich für dich in Gefahr begebe, um dir zu helfen. Also rede endlich, was verbindet dich mit Raves?“
„Hass“, erwiderte Alli und starrte geradeaus auf die Straße. „Absolut tödlicher Hass.“
„Erzähl`s mir!“
„Später vielleicht.“ Sie zeigte nach vorn. „Pass auf, er biegt ab!“
Tatsächlich verließ die Limousine nach ein paar Meilen den Long Beach Boulevard und bog wenige Blocks weiter in die Pazifik Avenue ein, die hinauf ins North Virginia Waldgebiet führte.
„Ah ja, der Schakal kehrt in seine Höhle zurück“, knurrte Jack und nickte bestätigend. „Das ist gut.“
„Was ist gut?“ Alli, die bislang geschwiegen und angespannt geradeaus auf die Rücklichter von Raves` weit vorausfahrendem Wagen gestarrt hatte, musterte ihn verständnislos von der Seite. „Weist du etwa, wo er sich derzeit aufhält?“
„Wissen nicht, aber wir ahnen es. Wir haben nachgeforscht, und allem Anschein nach waren diese Nachforschungen richtig.“
„Wer ist „wir“?“
In diesem Moment bog Raves` Limousine auf einen schmalen Seitenpfad ein und verschwand kurz darauf in der Einfahrt eines hinter Bäumen und dichtem Gebüsch versteckt liegenden Anwesens.
Allis letzte Frage ignorierend fluchte Jack leise und stoppte seinen Wagen hinter den dichten Hecken am Wegrand.
„Hier hinein können wir ihm unmöglich weiter folgen, ohne bemerkt zu werden“, erklärte er, sah kurz auf die Uhr und blickte sich dann suchend um. „Verdammt, wenn wir wirklich hier richtig sind, dann sollten sie eigentlich inzwischen da sein.“
Alli strich sich nervös ein paar Haarsträhnen aus der Stirn.
„Wer, Jack? Wer sollte da sein? Von wem redest du?“
„Von Daniel, Dylan und den anderen.“
„Was wollen die denn hier?“
„Dreimal darfst du raten, was für ein Geschäft dein Freund Raves oder Travis, wie er sich derzeit nennt, mit George Carrington laufen hat!“
„Nenn diesen Verbrecher nie wieder meinen Freund“, fauchte sie, doch dann wurde ihr schlagartig klar, was hier im Gange war. „Oh mein Gott… Raves hat David, in Georges Auftrag“, flüsterte sie und starrte Jack fassungslos an. „David ist hier, in diesem Haus, und du und deine Freunde, ihr wollt ihn befreien!“
„Wir wollten ihn heute zusammen da rausholen, doch dank dir und deinem wahnwitzigen Verfolgungsmanöver musste ich kurzfristig meine Pläne ändern“, offenbarte ihr Jack mit einem vorwurfsvollen Blick.
Alli keuchte, als bekäme sie nicht genügend Luft.
„Jack, du musst Daniel und die anderen zurückhalten! Ihr habt ja keine Ahnung, mit wem ihr euch hier einlasst! Er wird euch töten oder töten lassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken! Dieser Mann ist völlig skrupellos, er kennt keine Gnade!“
„Was du nicht sagst.“ Jack drehte sich um und sah ihr ins Gesicht.
„Willst du mir nicht endlich verraten, was zwischen dir und Raves gelaufen ist? Jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt dafür.“
Sie schüttelte entschieden den Kopf.
„Später.“
„Okay.“ Jack besann sich kurz, stellte dann den Motor ab und angelte ein Visiten-Kärtchen aus der Brusttasche seines Hemdes.
„Was hast du vor?“, fragte Alli und es schien, als sei jede einzelne Faser ihres Körpers angespannt.
„Ich folge dem Wagen zu Fuß, soweit es geht“, erklärte er und reichte ihr die Karte.
„Wenn ich in einer Viertelstunde nicht wieder hier bin, fahr zurück und ruf die Nummer auf der Karte an, sobald du in Sicherheit bist.“
„Nein, ich komme mit!“, protestierte sie sofort, doch Jack packte sie bei den Schultern und blickte sie eindringlich an.
„Du tust das, was ich dir gesagt habe. Bitte Alli, hör auf mich und bring unseren Plan nicht noch mehr durcheinander!“
Er merkte wohl, wie sie innerlich mit sich rang, hob die Hand und berührte zärtlich ihre Wange.
„Sei vernünftig und vertrau mir! Nur dieses eine Mal!“
„Warum sollte ich?“, versetzte sie aufgebracht.
„Warum? Weil ich dich liebe und dich gesund wiedersehen will.“
Sie erstarrte.
„Was hast du gesagt?“
Als er das kurze Aufleuchten ihrer Augen sah, lächelte er.
„Ich liebe dich, Alli. Das weißt du doch.“ Er beugte sich vor und küsste zärtlich ihre Lippen. „Und falls du noch mehr Beweise dafür brauchst, heute Abend stehe ich dir gern zur Verfügung.“ Er zwinkerte ihr zu und grinste. „Übrigens, den Ersatzschlüssel findest du im Handschuhfach.“
Bevor sie wusste, was er damit meinte, sprang er aus dem Wagen und betätigte den Knopf für die Zentralverriegelung. Sie würde einen Augenblick brauchen, um diese wieder zu entriegeln, was bei seinem alten Ford nur mit Hilfe des Schlüssels möglich war.
„Jack!“, rief Alli drinnen empört und hämmerte mit der Faust ans Seitenfenster. „Mach sofort wieder auf! Lass mich raus, verdammt!“
Er hob scheinbar gleichgültig die Schultern.
„Wie war das? Ach ja, später vielleicht.“
Damit drehte er sich um und lief etwas geduckt im Windschatten der Bäume in die Richtung, in der die Limousine verschwunden war.
Long Beach, North Virginia Waldgebiet
Daniel, Dylan und die anderen hatten das Waldgebiet von nördlicher Seite aus befahren, ihren Geländewagen an eine unauffälligen Stelle geparkt und den Rest des Weges zu Fuß zurückgelegt, um die Lage zu checken und dabei selbst nicht entdeckt zu werden.
Außer Renee, die den Lockvogel spielen sollte, waren alle bewaffnet. Jeder von ihnen kannte den Plan und seine speziellen Aufgaben bis ins kleinste Detail, denn sie waren sich der tödlichen Gefahr bewusst, in die sie sich bei dieser Operation begaben.
Sie würden nur diese eine Chance haben, und sie wollten sie nutzen.
Kurz nachdem sie ihre Position eingenommen hatten, spürte Daniel den Vibrationsalarm seines Handys in der Hosentasche.
Ein Blick aufs Display entlockte ihm ein erleichtertes Lächeln.
„Na endlich!“
Long Beach, North Virginia Waldgebiet
Geduckt und sich vorsichtig nach allen Seiten umsehend schlich Jack an das Grundstück heran, in dessen Einfahrt Raves` Limousine verschwunden war.
Bereits hinter der nächsten Biegung sah er sie.
Der Fahrer und zwei weitere Männer verließen den Wagen und gingen auf den Eingang des größeren Gebäudes zu, welches allem Anschein nach das Haupthaus des Anwesens war. Einen der Männer erkannte Jack selbst aus dieser Entfernung einwandfrei als William Raves.
„Na also, wer sagt`s denn“, murmelte er. „Hier hast du dich also versteckt, Mistkerl!“
Ein perfekter Unterschlupf! Wer würde Raves schon auf einem unscheinbaren Anwesen am Rande von LA vermuten, quasi unter den Augen von FBI und Polizei.
Jack reckte neugierig den Hals. Noch ein kleines Stück näher heran.
Er suchte sich eine ihm günstig erscheinende Deckung und zog sein Handy aus der Hosentasche, denn er musste unbedingt seine Freunde kontaktieren. Wo blieben die nur? Laut ihrem Plan gemeinsamen Plan sollten sie bereits hier sein.
Hier oder…
Jack überlegte. Er war mit Alli auf direktem Wege hergefahren, Daniel und die anderen hatten jedoch das Grundstück weitläufig umfahren, um sich aus nördlicher Richtung zu nähern.
Er atmete auf. Dann waren sie bestimmt schon ganz in der Nähe!
Ihr Überraschungsangriff sollte leise und fast unbemerkt von statten gehen, so lautete er Plan. Sie wollten David möglichst ohne Blutvergießen herausholen, nur wer sich ihnen unmittelbar in den Weg stellte, würde zwangsläufig ausgeschaltet werden. Davids Leben und seine Sicherheit hatte höchste Priorität. Natürlich wäre es gut vorher herauszufinden, wie viele Leute sich ungefähr hier im und um das Haus herum aufhielten. Hier kam Renee als getarnte Touristin ins Spiel. Sie sollte mit ihrem Wagen an das Grundstück heranfahren und sich dann hilfesuchend an die Bewohner des Hauses wenden, um sie nach dem Weg zu fragen. Auf diese Art, so hofften Daniel, Dylan, Jeff und Officer Coleman, wäre ungefähr absehbar, wer sich alles im Haus befand. Die Polizei, das Sonderkommando, das FBI oder wer immer sich weiter um die Sache kümmern würde, sollte schließlich keine böse Überraschung erleben müssen, wenn sie hier aufkreuzen und Raves in einem Überraschungszugriff zur Strecke bringen wollten.
Jack nahm das Handy ans Ohr und hörte gleich darauf Daniels verhaltene Stimme.
„Wo steckst du?“
„Südseite“, erklärte er so leise wie möglich. „Raves hat soeben mit zwei weiteren Männern das Haus betreten.“
„Ist Alli bei dir?“
„Sie sitzt im Wagen.“
„Zieh dich zurück, Jack, wir haben hier alles unter Kontrolle. Fahr mit Alli zu unserem verabredeten Treffpunkt hinter dem Haus und erwarte uns dort. Wenn wir mit David rauskommen, kannst du uns zusammen mit Renee Feuerschutz geben, falls es zu Komplikationen kommt“, ordnete Daniel an. „Coleman hält Verbindung zu seinen Kollegen. Sobald wir David draußen haben und in Sicherheit sind, überlassen wir den Profis den Rest.“
„Alles klar, viel Glück“, erwiderte Jack leise und schaltete das Handy aus.
Vorsichtig teilte er die Zweige, die ihm die Sicht versperrten, auseinander, um noch einmal nach dem Hauseingang zu sehen, als er mit einem Mal eine Bewegung hinter sich spürte. Bevor er jedoch irgendwie reagieren konnte, hörte er dicht an seinem Ohr das typisch metallische Klicken, das zweifellos vom Entsichern einer Handfeuerwaffe stammte. Das Geräusch ließ ihn mitten in seiner Bewegung erstarren.
„Die Hände hoch, Freundchen!“, befahl eine unfreundliche Männerstimme, während ihm ein kalter Pistolenlauf seitlich an die Schläfe gedrückt wurde. Ganz vorsichtig, sorgsam jede hastige Bewegung vermeidend, die in dieser prekären Situation sehr schnell seine letzte hätte sein können, kam Jack der Aufforderung nach.
„Wunderbar“, schnarrte die fremde Stimme hinter ihm höhnisch. „Und nun komm schön langsam raus da!“