CEC Corporation
„Irgendwelche Neuigkeiten, von denen ich wissen müsste?“, fragte George wie fast jeden Tag, als er Brenda in den Feierabend entließ.
Sie schüttelte resigniert den Kopf.
„Ich bekomme immer noch keinen Zugang zu den übrigen Rechnern, woher soll ich da was Neues erfahren?“, erwiderte sie mürrisch. „Ein Glück, dass wenigstens unser Passwort geheim ist. “
„Das nützt mir im Moment auch nicht viel ,“ knurrte George und überlegte kurz. „Sagen Sie, Brenda, ist Ihnen eigentlich an David in den letzten Tagen etwas aufgefallen? Ich meine... Irgendwie verhält er sich ein wenig merkwürdig, finden Sie nicht auch? “
Brenda verzog nachdenklich das Gesicht.
„Keine Ahnung, ich bekomme ihn kaum zu Gesicht, und seine neue Assistentin ist derart verschwiegen, dass ich überhaupt nichts Neues erfahre. Obwohl... “ Sie zögerte einen Augenblick, als müsse sie ihre Worte sorgsam abwägen. „Vorhin hatte Mister Edwards Besuch von einer Dame, einer alten Freundin, wie er sie nannte. Ihren Namen weiß ich nicht mehr, aber Mister Edwards schien nicht sehr erfreut, als sie so unangemeldet hereinplatzte, mitten in ein vertrauliches Gespräch mit seiner Assistentin!“
„Vertrauliches Gespräch? Wie soll ich das verstehen?“, hakte George irritiert nach.
Brenda wies mit verschwörerischer Miene hinüber zu Allis Schreibtisch.
„Sehen Sie die rote Rose dort? Ich wette, die ist von ihm. Er macht ihr neuerdings auch ständig Komplimente! Also wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, er hat ein Auge auf sie geworfen. “
George stöhnte schmerzlich auf und verdrehte die Augen.
„Verdammt, Brenda! Ich meinte sein geschäftsmäßiges Verhalten! Davids Privatleben interessiert mich nicht im Geringsten, von mir aus kann er dieser Frau körbeweise Rosen schenken oder sich mit ihr jeden Tag stundenlang auf der Couch in seinem Büro amüsieren, wenn ihn das nur ein wenig von der Firma ablenken würde! “ Er blickte seine Assistentin eindringlich an. „Ich will wissen, was er vorhat. Jede Einzelheit kann mir helfen. Also, meine Beste, lesen Sie Ihre dämlichen Liebesromane weiter zu Hause in der Badewanne, aber halten Sie hier im Büro gefälligst die Augen auf! Verstanden? “
„Ja Sir. “ Mit beleidigter Miene stolzierte Brenda zum Fahrstuhl, drückte auf den Knopf und drehte sich dann noch einmal zu ihrem Boss um. „Ich meinte ja auch nur, dass dieses Verhalten von Mister Edwards wirklich sehr eigenartig ist. Nach der Trennung von seiner Ex hat er sich jahrelang für keine andere Frau interessiert, dann lernt er endlich eine kennen, in die er sich Hals über Kopf verliebt, und bereits kurze Zeit später flirtet er wie wild mit seiner neuen Assistentin. Also wenn Sie mich fragen, irgendwie passt das gar nicht zu ihm! “
Durch ihre Worte erneut hellhörig geworden, strich sich George nachdenklich übers Kinn.
„Mh, das passt wirklich nicht zu dem David Edwards, den ich kenne. “ Er nickte Brenda etwas versöhnlicher zu. „Nun, ich denke, wir werden meinen Partner beide weiterhin gut im Auge behalten. Bis morgen. “
„Bis morgen, Sir. “
Eine ganze Weile, nachdem sich die Türen des Lifts hinter seiner Assistentin geschlossen hatten, stand George immer noch grübelnd im Vorzimmer. Es war dieses eigenartige Gefühl, das in seinem Inneren nagte und ihm signalisierte, dass hier irgendetwas im Gange war.
„Es hilft alles nichts“, murmelte er unwillig. „Ich muss noch einmal mit Raves sprechen. Die ganze Sache stinkt, und zwar gewaltig! Du hast mir bereits mehr als einmal einen Strich durch meine Rechnungen gemacht, David, und ich werde dafür sorgen, dass das nicht wieder passiert! Was immer du auch vorhast, ich finde es heraus! “
SUN CENTER
„Hey, du hast ja deine Maschine zurück!“, rief Jason erfreut, als er nach Hause kam und Jack an seiner Kawasaki herumputzen sah. „Hat Brendon alles wieder hingebogen?“
Jack lachte.
„Kennst doch Brendon und Jerry, die machen sogar den hoffnungslosesten Schrotthaufen wieder fahrtüchtig.“
„Stimmt“, nickte Jason. „Auf die beiden ist Verlass. Drehen wir nachher eine Proberunde?“
„Klar Mann. Ich bin in ein paar Minuten fertig, dann kann`s losgehen!“
In diesem Augenblick ertönte ein Klingelton. Jack griff in die Brusttasche seines Hemdes und zog sein Handy heraus.
Jason sprang währenddessen schwungvoll die drei Stufen zum Eingang des SUN CENTERS hinauf und wäre an der Tür fast mit Selina zusammengestoßen.
„Hoppla“, rief sie. „Du hast es aber sehr eilig!“
„Jack hat seine Maschine aus der Werkstatt zurück. Wir wollen eine kleine Probefahrt machen.“ Er grinste belustigt. „Und wie geht es dir nach einem weiteren langen Arbeitstag in der SENTINEL-Gruft? Ist die Wühlerei in den Aktenbergen für heute erledigt?“
Sie nickte.
„Für heute und für die nächste Zeit.“
„Hast du etwa einen Auftrag bekommen?“
Selina biss sich nervös auf die Lippen.
„Können wir vielleicht ein Stück gehen? Ich meine, wenn das mit der Probefahrt noch ein paar Minuten Zeit hätte.“
Jason war zwar etwas erstaunt, aber ein Spaziergang mit Selina klang äußerst verlockend.
„Verschieben wir den Test auf später!“, rief er Jack zu. Der steckte eben sein Handy wieder ein und winkte nur ab. „Kein Problem! Ich muss sowieso nochmal weg.“
Er schwang sich auf sein Motorrad, ließ den Motor an und brauste davon, während Jason und Selina den Weg zur Strandpromenade einschlugen.
So kam es, dass niemand zu Hause war, als Alli wenig später nach der Arbeit im SUN CENTER ankam. Sie verspürte leichte Kopfschmerzen und kochte sich einen starken Kaffee. Erschöpft machte sie es sich auf dem Sofa bequem, froh darüber, einen Augenblick allein zu sein.
Sie schloss die Augen und ließ die Ereignisse der letzten Stunden noch einmal Revue passieren. Es gab da einige Dinge, die sie sich nicht erklären konnte.
Eines davon war nach wie vor das merkwürdige Verhalten von David. Er hatte sie geküsst. Zwar nur auf die Wange, aber immerhin. Aus Dankbarkeit für gute Arbeit küsste kein Chef seine Angestellte. Außerdem sprachen seine heißen Blicke für sich. Warum nur flirtete er so ungeniert mit ihr, wo er doch mit Kate zusammen war? Ganz abgesehen davon, dass Jack zu seinen besten Freunden zählte, und es kein Geheimnis für ihn war, was dieser für sie empfand.
Es gehörte schon eine ganze Portion Unverfrorenheit dazu, sich derart zu verhalten, und irgendwie passte dieses Benehmen nicht zu dem Mann, den sie nach ihrer Ankunft hier in Destiny Beach kennengelernt hatte.
Und dann diese merkwürdige Besucherin von vorhin. Renee Parker. Wie hatte sie David spontan genannt, als sie so unvermittelt in sein Büro geplatzt war?
Dylan…
Renee hatte natürlich sofort mitbekommen, dass die Unterhaltung in Davids Büro alles andere als dienstlicher Natur gewesen war, und sie schien wenig begeistert davon. Wer war diese Frau, und warum nannte sie David bei einem anderen Namen?
Der Kopfschmerz wurde stärker, und Alli beschloss entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten, ein Aspirin zu nehmen. Als sie in ihrer Handtasche nach dem Medikament suchte, fiel ein Notizzettel heraus. Sie hatte ihn heute Morgen auf ihrem Schreibtisch gefunden. Sorgsam entfaltete sie das Stück Papier und las noch einmal aufmerksam die wenigen Worte:
„Allison Schätzchen, würden Sie mir bitte alle Unterlagen über den Bau der neuen Ferienanlage heraussuchen? Ich brauche die Mappe heute Nachmittag. Danke! David“
Der Inhalt dieser Nachricht selbst war nicht weiter verwunderlich, wohl aber das Schriftbild. Alli war noch nicht lange in der Firma, doch sie kannte Davids Handschrift inzwischen sehr genau. Und diese hier war mit Sicherheit nicht seine.
Sie schüttelte verständnislos den Kopf.
Entweder war David Edwards über Nacht völlig paranoid geworden und wusste nicht mehr, was er zuweilen tat, oder…
Oder der Name Dylan bedeutete, dass noch ein zweiter „David“ existierte.
Am Strand
Schweigend liefen sie nebeneinander her. Die Sonne stand schon ziemlich tief und begann den Himmel bereits malerisch einzufärben.
Jason betrachtete Selina mehrmals verstohlen von der Seite, als sie die Strandpromenade verließen und den Weg zu den Felsen einschlugen. Der Wind spielte in ihrem langen, lockigen Haar, während die Abendsonne ein rötlich goldenes Licht hinein zauberte. Er hätte nur ein wenig die Hand zu heben brauchen, um es zu berühren. Seidig und weich würde es sich anfühlen, so wie ihre Haut. Aber er wusste, dass er das nicht durfte. Niemals mehr! Sie gehörte einem anderen. Alles, was je zwischen ihnen beiden sein durfte, war Freundschaft.
Als ob sie seine Gedanken gespürt hätte, drehte Selina plötzlich den Kopf und sah ihn an. Ihre Blicke begegneten sich. Da war sofort wieder diese allgegenwärtige knisternde Spannung, die sie beide so überdeutlich spürten.
„Und, was ist das nun für ein Auftrag, den du bekommen hast?“, fragte Jason hastig, um die prekäre Situation zu überspielen. „Sollst du etwas über Carla und Eliot schreiben?“
Selina schüttelte den Kopf und ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder.
„Ich habe mit dem Chefredakteur gesprochen, doch er hat es abgelehnt, dieses Thema aufzugreifen. Er ist der Meinung, das sei nichts für die Leser des SENTINEL. Die Leute hätten genug eigene Probleme und wollten angeblich nicht noch in der Zeitung mit Obdachlosen und deren Armut konfrontiert werden.“
„Na toll“, knurrte Jason, „Was ist denn das für ein Wurstblatt, das die alltäglichen Probleme der Menschen einfach ignoriert?“
Selina hob nur hilflos die Schultern.
„Tut mir leid, ich habe es wirklich versucht. Ich wollte deswegen sogar einen Termin bei George Carrington.“
„Den du natürlich nicht bekommen hast“, mutmaßte Jason.
„Oh doch, du wirst es kaum glauben, der Boss persönlich hat sich heute ins Archiv hinunterbemüht, um mit mir zu reden.“
„Über deinen Vorschlag mit der Armenküche?“
„Eigentlich nicht.“ Nachdenklich verzog Selina das Gesicht. „Aber wenn ich es mir recht überlege, hat er meinen Vorschlag nur verworfen, weil er einen anderen Auftrag für mich hat.“
„Ah ja“ Jason lachte abfällig. „Du bist neu in der Stadt und kennst George Carrington noch nicht sehr gut. Glaub mir, genau anders herum wird ein Bild daraus. Er hat dir einen Auftrag gegeben, um deinen Vorschlag verwerfen zu können!“
Selina musterte ihn etwas skeptisch.
„Glaubst du wirklich?“
Er nickte.
„Da bin ich ganz sicher.“
„Aber warum sollte er das tun? Aus denselben Gründen, die mir auch Sullivan genannt hat?“
„Keine Ahnung. Aber die Existenz der Armenküche gleich neben dem Medical Center und dazu noch ganz in der Nähe der neuen Ferienanlage. Ich wette, das passt ihm garantiert nicht in den Kram.“
„Nun, wie dem auch sei“ Selina erhob sich und straffte die Schultern. „So leicht lasse ich mich nicht abspeisen. Sobald mein Auftrag erledigt ist, werde ich wieder wegen Carla und Eliot nachfragen.“
Jason nickte zustimmend.
„So ist es recht. Lass dich nicht unterkriegen!“ Er kniff die Augen zusammen, weil die Sonne ihn blendete. „Und was ist das nun für ein geheimnisvoller Auftrag, den du heute bekommen hast?“
„Etwas ganz Besonderes“, erwiderte Selina und lächelte bedeutungsvoll. „Dieser Auftrag betrifft dich und dein Team. Ich soll die Lifeguards ein paar Tage lang begleiten und ihnen bei der Arbeit über die Schulter sehen.“
Jason starrte sie an, als hätte sie eben chinesisch gesprochen.
„Ist das dein Ernst?“
„Ja, und ich verspreche, dass ich dir oder den anderen bei euren Einsätzen auch nicht im Weg stehe. Ihr werdet gar nicht bemerken, dass ich da bin.“
„Das bezweifle ich“, murmelte er wenig begeistert und stöhnte innerlich auf. Wie sollte er es ertragen, die Frau, die er heimlich mit all seinen Sinnen begehrte wie keine andere, den ganzen Tag in seiner unmittelbaren Nähe zu wissen? Das bedeutete unweigerlich Stress! Doch allen Vorbehalten zum Trotz konnte er nur allzu deutlich die Freude über diesen Auftrag in ihren Augen sehen und wollte sie nicht schon wieder vor den Kopf stoßen.
„Okay.“ Er nickte und zwang sich zu einem Lächeln. „Dann pack mal brav deine Badesachen zusammen. Morgen um neun Uhr geht’s los!“
In einem stillgelegten Mietshaus am Rande der Stadt
Daniel Edwards spähte vorsichtig aus dem Fenster und ließ, obwohl es draußen noch nicht völlig dunkel war, die Jalousien herunter. Erst dann drückte er auf den Lichtschalter.
Sie saßen zu viert um einen mit Computertechnik überladenen Schreibtisch in dem ansonsten spärlich eingerichteten Zimmer: Daniel, sein jüngerer Bruder David, Jack Bennett und die blonde Renee Parker, die heute unerwartet in Davids Büro aufgetaucht war.
„Also, was habt Ihr bisher herausgefunden?“, fragte Renee, lehnte sich zurück und wippte ungeduldig mit ihrem Computerstuhl. „Bitte kurz und präzise, schließlich habe ich einen langen Flug hinter mir und möchte so schnell wie möglich in mein gemütliches Hotelbett.“
„Das nennst du einen langen Flug?“, knurrte David spöttisch. „New York befindet sich doch nicht am Ende der Welt!“
„Hey!“ Renee funkelte ihn böse an. „Wenn ich mich recht erinnere, warst du es, der mich herbeordert hat, Partner!“
„Schon gut, reg dich ab!“ David wandte sich an seinem Bruder. „Gib ihr bitte alle Infos, damit wir weiterkommen.“
Daniel begann zu erzählen, wobei er aufstand und unruhig im Zimmer auf und ab lief. Die Sache nahm ihn doch ziemlich mit, schließlich ging es hier nicht um irgendwen, sondern um…
„Dylan, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Daniel und sah seinen Bruder David dabei missbilligend an. Dieser blickte auf und hob entschuldigend die Schultern.
„Sorry Dan, aber ich kenne die Geschichte, die du Renee da gerade präsentierst. Genau genommen lebe ich sie gerade.“
Daniel zog missbilligend die Stirn in Falten.
„Das ist nicht witzig!“
„Nein, ich finde es ganz und gar nicht witzig, in dieser verdammten Firma zu sitzen und den ganzen Tag die Rolle meines Bruders zu spielen. Ich spiele sie morgens, mittags, sogar abends, wenn ich heimkomme und Davids Freundin auf mich wartet!“
Renee starrte ihn ungläubig an.
„Moment mal, du spielst sogar seiner Freundin vor, dass du…“
„Natürlich nicht! Oder traust du mir wirklich zu, dass ich mit der Freundin meines Zwillingsbruders ins Bett gehe?“
„Keine Ahnung, dir traue ich inzwischen fast alles zu“, murmelte Renee grimmig. „Schließlich arbeiten wir schon lange genug zusammen.“
„Vielen Dank, Partner“, knurrte Dylan, David Edwards absolutes Ebenbild. „Du als verdeckte Ermittlerin solltest vielleicht etwas mehr Menschenkenntnis an den Tag legen.“
„Hört auf euch zu streiten, dazu sind wir nicht hier“, ließ sich Jack ungeduldig vernehmen.
Renee nickte zustimmend.
„Also“, wandte sie sich wieder an Daniel. „Nur, damit ich alles richtig verstanden habe: ihr vermutet, dass dieser George Carrington Davids Entführung veranlasst hat, um ihn zu ermorden? Entschuldigt bitte, aber so etwas kann man doch einfacher haben. Warum hat er ihn nicht gleich durch einen Auftragskiller aus dem Weg schaffen und das Ganze als Unfall aussehen lassen, dann wäre er ihn ein für alle Mal los?“
„Vor ein paar Wochen kam der dritte Firmenteilhaber auf bisher ungeklärte Ursache ums Leben. Offiziell geht man dabei von einem tragischen Unglücksfall aus“, erklärte Daniel. „Doch wir wissen es besser. Jonathan Cabott hat sich bei diversen Abstimmungen immer öfter gemeinsam mit David gegen George gestellt, so dass dieser handlungsunfähig war. Also ließ er ihn diskret verunglücken. Wenn David jetzt ebenfalls etwas zustieße, wäre das wohl höchst verdächtig. Wir vermuten, dass George dieses Mal etwas Anderes geplant hat. Zuerst braucht er die Passwörter von David, um uneingeschränkt an dessen Firmenkonten zu gelangen. Dann wird er ihn beseitigen lassen, und vermutlich wird es so aussehen, als hätte David selbst Firmengelder veruntreut und dann heimlich das Land verlassen. Er soll ganz sicher nie wieder auftauchen.“
Jack nickte bestätigend.
„Bleibt zu hoffen, dass wir ihn schnell genug finden, bevor dies geschieht. Mit dem Auftauchen von Dylan als David haben wir erst einmal etwas Zeit gewonnen. George ist nervös, verunsichert und kann momentan nichts tun. Vor allem kann er sich noch nicht erklären, wieso David wiederaufgetaucht ist, wo doch seine Drahtzieher behaupten, seinen Auftrag ausgeführt und die gewünschte Person entführt zu haben. Aber lange können wir dieses Spiel nicht weiterführen. George ist nicht dumm und wird die Sache bald durchschauen.“ Er warf Dylan einen bösen Seitenblick zu. „Zumal sich unser Double hier zuweilen ganz und gar nicht wie sein Bruder benimmt.“
Daniel blickte gespannt von einem zum anderen. Als Dylan nicht auf Jacks Anspielung reagierte, sprach er ihn direkt an.
„Hey, hörst du uns überhaupt zu? Wo zum Teufel bist du mit deinen Gedanken?“
Dylan lehnte sich lächelnd zurück und wippte mit seinem Computersessel.
„Bei einer süßen Assistentin mit wunderschönen, geheimnisvollen Augen und endlos langen Beinen“, erwiderte er mit einem verstohlenen Blick auf Jack und hob lachend die Schultern. „Tut mir leid, Leute, aber diese Wahnsinns-Frau geht mir einfach nicht aus dem Sinn.“
„Okay, dann verschieb deine Träumerei bitte auf später, wir haben im Moment wichtigere Dinge zu tun“, ermahnte ihn Daniel sichtlich genervt.
„Lass diese Art von Träumen am besten ganz sein, zu deiner eigenen Sicherheit“, fügte Jack in drohendem Unterton hinzu.
Dylan grinste ungerührt.
„Jack... nimm es nicht persönlich, mein Lieber, aber wenn du mich besser kennen würdest, dann wüsstest du, dass ich keiner bin, der so leicht aufgibt. Wenn Engelchen erst einmal weiß, dass ich nicht David bin, dann werden wir ja sehen, ob sie Interesse an mir hat. Und bis dahin träume ich eben von ihren langen Beinen.“
„Du lässt gefälligst die Finger von ihr“, warnte Jack in eisigem Ton.
„Tu ich doch! Aber was ich im Traum mit ihr mache, das geht dich nun wirklich nichts an!“
Jacks Faust traf ihn so blitzschnell und unvorbereitet, dass es Dylan aus seinem Sessel hob. Er landete hart auf dem Boden und hielt sich das Kinn.
„Verdammt nochmal...“, knurrte er und war zwei Sekunden später wieder auf den Beinen. Bevor er sich jedoch für den Schlag revanchieren konnte, sprang Daniel geistesgegenwärtig dazwischen.
„Jetzt reicht es aber!“, herrschte er die beiden Streithähne ungehalten an. „Bin ich im Kindergarten, oder was? Wir sind hier, um David zu helfen, und wir holen ihn bestimmt nicht dort raus, wenn ihr euch vorher schon die Zähne einschlagt.“
Dylan und Jack taxierten sich wütend, entspannten sich nach Daniels eindringlichen Worten jedoch schnell wieder.
„Du hast recht“, knurrte Jack. „Wir sprechen uns später... David!“
„Ich kann es kaum erwarten“, erwiderte Dylan und rieb sich noch immer sein Kinn. Der Kerl hatte vielleicht einen Schlag drauf!
Renee gähnte ungeniert und wandte sich dann an Dylan und Jack:
„Wenn ihr jetzt mit euren Kindereien fertig seid, hätte ich noch ein paar Fragen an Daniel. Er scheint mir ja leider der Einzige zu sein, der hier einen klaren Kopf bewahrt hat. Ihr beiden solltet nach Hause gehen und erst einmal kalt duschen.“
Irgendwo…
Es war ein warmer, sonniger Sommertag, einer von diesen Tagen, die das Flair an der kalifornischen Küste so einzigartig und unverwechselbar machten.
Sie standen beide oben auf den Klippen, einem seiner Lieblingsplätze, seitdem er hier lebte. Unter ihnen funkelte der Ozean in der Morgensonne wie ein unendlicher, mit kostbaren Diamanten übersäter Teppich. Unermüdlich rollten die tosenden Wellen heran, türmten sich auf und brachen sich schäumend an den Felsen, von wo aus sie wieder eins mit dem Meer wurden.
Sie standen beide dicht beieinander und blickten wortlos hinab.
Er fühlte sich wunderbar, leicht und frei. Nichts würde sie je trennen können. Sie war bei ihm, jetzt und hier, und so sollte es auch bleiben. Ein leichter Wind kühlte seine Wangen, und er hielt ihre Hand, während ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht ihm ganz nah war. Sie lächelte und küsste ihn sanft auf die Lippen.
„Alles wird gut…“
Dann verschwand plötzlich die Sonne. Das Rauschen der Wellen wich einer unheilvollen Stille. Es wurde in Sekundenschnelle undurchdringlich dunkel und… kalt.
Er zwang sich die Augen zu öffnen, in der Hoffnung, die schönen Bilder in seinem Kopf festhalten zu können, doch sie verloren sich in der Schwärze um ihn herum, denn sie waren nur Illusionen gewesen, entstanden aus Angst, Ungewissheit und Sehnsucht.
Er hatte geträumt.
Jetzt war er wieder wach, und nichts hatte sich verändert.
Dunkelheit umgab ihn, durchwirkt von ein paar einzelnen Lichtreflexen, die durch die teilweise mit Dielenbrettern abgedeckte Zimmerdecke schimmerten. Ab und zu waren oben Schritte zu hören. Jemand schien geschäftig hin und herzulaufen. Aber meist war es still, totenstill...
Es war kalt in diesem Raum, und seine Sachen fühlten sich klamm an. Anhand der spärlichen Lichtstrahlen ahnte er, wann es draußen Tag oder Nacht war. Ansonsten hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Dazu kam die zermürbende Stille, in den endlosen Stunden des Wartens.
Er war gefangen. Entführt. Eingesperrt.
Zu Anfang wusste er nicht einmal, weshalb ihm das hier widerfahren war, festgehalten in einem dunklen Raum, in dem sich eine Liege mit einer viel zu dünnen Decke, ein wackeliger Stuhl, ein kleiner Holztisch und eine provisorische Toilette befanden. Zehn Fuß lang und zwölf Fuß breit, er hatte die Schritte von einer Wand zur anderen unzählige Male nachgezählt, die Zahlen hallten beim Gehen in seinem Kopf wieder, als warfen die kalten Wände seine ungesagten Worte höhnisch zurück. Trotzdem versuchte er sich zu bewegen, einerseits, um nicht verrückt zu werden, andererseits, um seinen Kreislauf in Bewegung zu halten, denn sein Blut drohte in seinen bereits leicht unterkühlten Gliedmaßen zu erstarren.
Er wollte durchhalten, was auch passierte, für sich selbst, für die Menschen, die ihm nahestanden und vor allem für die Frau, die er liebte, die sich gewiss bereits um ihn sorgte, und die er unbedingt wiedersehen wollte. Wann immer er an sie dachte, kehrte sein starker Lebenswille sofort zurück.
Eine vermummte Gestalt schob ihm ab und zu in unregelmäßigen Abständen einen Teller mit belegten Broten und etwas Wasser durch die Tür oben an der Treppe. Er zwang sich dazu, alles zu essen und zu trinken, um einigermaßen bei Kräften zu bleiben.
Irgendwann, nach wer weiß wie vielen Stunden quälender Ungewissheit hatte ein ihm unbekannter Mann den Raum betreten und eine Deckenlampe eingeschaltet, die trotz ihres recht spärlichen Scheins in seinen inzwischen extrem lichtempfindlichen Augen schmerzte.
Der Mann trug eine Maske, um nicht erkannt zu werden und befahl dem Gefangenen, sich an den Tisch zu setzen. Während er hinter ihn trat, schob er ihm Zettel und Stift hin und verlangte mit knappen Worten, er solle Nummern und Passwörter seiner privaten sowie aller ihm bekannten Geschäftskonten aufschreiben.
Mit einer unwirschen Bewegung hatte er jedoch den Zettel weggeschoben, sich zurückgelehnt und demonstrativ die Arme vor der Brust verschränkt.
„Erst will ich wissen, wer mich entführt hat, und was man mit mir vorhat.“
„Na gut, mein Freund, Sie haben es nicht anders gewollt...“
Bevor er wusste, wie ihm geschah, wurde ihm etwas von hinten zwischen die Schulterblätter gedrückt. Ein rasender Schmerz durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag von Kopf bis Fuß und warf ihn wie eine übermächtige Kraft vom Stuhl, während er kurzzeitig das Bewusstsein verlor. Als er wieder zu sich gekommen war, fand er sich erneut auf dem Stuhl sitzend, dieses Mal jedoch mit gefesselten Händen und verbundenen Augen.
„Bitte recht freundlich“, hörte er die Stimme des Unbekannten dicht an seinem Ohr, bevor ihn ein kurzes Klicken vermuten ließ, dass soeben ein Foto von ihm gemacht worden war. Sein Rücken schmerzte spürbar von dem Stromschlag, als sein Peiniger ihn losband, ihm die Augenbinde herunterriss und ihm dann wie zum Hohn mit der Hand gegen die schmerzenden Schultern schlug.
„Ich hoffe in Ihrem Interesse, dass Sie sich bei meinem nächsten Besuch etwas kooperativer verhalten, mein Lieber“, hatte er in drohendem Tonfall gesagt und den Raum über die Treppe wieder verlassen. Oben löschte er das Licht und ließ seinen Gefangenen erneut in völliger Dunkelheit zurück.
Noch immer leicht benommen von den Nachwirkungen der groben Misshandlung saß er da und starrte in die Dunkelheit.
Wer waren seine Entführer?
Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
Irgendwer wollte Zugang zu seinen Konten, allerdings nicht nur zu den privaten, sondern auch zu den geschäftlichen. Das machte ihn stutzig.
Da wollte jemand in die Firma. Aber wer?
Jonathan Cabott war tot, er selbst wurde entführt.
Und wer war hierbei der „lachende“ Dritte?
Die Erkenntnis glich einem Schlag in die Magengrube.
„Verdammt, George“, fluchte er und straffte die Schultern. „Das wird dir nicht gelingen, du Bastard! Nicht, wenn ich es verhindern kann!“
Seine Lebensgeister waren wieder voll erwacht.
David Edwards war bereit zu kämpfen…