Am Lifeguard-Turm
„Allmählich wird es Zeit für eine kleine Mittagspause. Hast du Hunger?“, fragte Jason und musterte Selina, die mit dem Fernglas in der Hand neben ihm auf der Aussichtsplattform stand.
Sie nickte.
„Ja, so langsam könnte ich etwas vertragen.“
„Okay, dann sage ich den anderen, dass wir jetzt unsere Pause machen.“
„Esst ihr nicht zusammen?“
„Nein, es muss immer mindestens einer von uns in Bereitschaft sein.“
Selina griff sich lachend an die Stirn.
„Ja klar, wie konnte ich das vergessen.“
Sie sah Jason nach, wie er den Turm verließ und zu seinen Kollegen hinunterging. Nachdem Trisha sich heute Morgen überraschend krankgemeldet hatte, arbeitete sie nun doch die ganze Zeit über mit ihm zusammen. Sehr zum Leidwesen von Tom und Randy, die jedoch widerspruchslos zu akzeptieren hatten, was der Dienstälteste anordnete.
Selina lächelte.
Jason hatte sich anfangs in ihrer Gegenwart offensichtlich etwas gehemmt gefühlt, aber mittlerweile schien sich seine Unruhe zu legen. Allmählich war er wieder jener souverän arbeitende, aufmerksame Lifeguard, den sie hier an ihrem ersten Tag in Destiny Beach kennengelernt hatte. Es gefiel ihr, wie er mit den Leuten umging.
Sie waren gemeinsam den Strand abgefahren, hatten ein aufgeschrammtes Knie versorgt, mit dem Boot eine Luftmatratze und zwei Wasserbälle, die der Wind aufs Meer hinauszutreiben drohte, zurückgeholt und schließlich einen älteren Badegast verarztet, der auf einen Seeigel getreten war.
Selina fand das Ganze interessant und äußerst aufregend. Sie bewunderte Jason. Er strahlte während seiner Einsätze so viel Ruhe aus, obwohl er privat zuweilen etwas rastlos wirkte.
„Komm, lass uns fahren“, riss er sie aus ihren Gedanken und hielt ihr einen Jogginganzug der Lifeguards hin. „Der ist von Trisha. Müsste dir passen“, meinte er und grinste. „Wäre vielleicht ein wenig freizügig, im Bikini bei LeAnn aufzutauchen.“
Sie lachte und schlüpfte in Hose und Jacke.
„Okay Chef. Ich bin bereit.“
LeAnns Coffeeshop
Während sie im Coffeeshop gemeinsam auf ihr Essen warteten, kritzelte Selina die ganze Zeit über eifrig in ihrem Notizblock herum.
„Was schreibst du gerade? Analysierst du mich?“, fragte Jason schmunzelnd.
Sie lachte schelmisch.
„Ungeduldig, draufgängerisch und absolut unmöglich.“
„Und das steht morgen in der Zeitung?“
„Hundertprozentig.“
„Was kann ich tun, um mein Image ein wenig aufzupolieren?“
Selina knabberte spielerisch an ihrem Stift.
„Tja lass mich nachdenken... Okay, du zahlst das Essen.“
„Das ist Bestechung, Lady.“
„Ich würde es als Einladung bezeichnen.“
„Dann hat er gute Karten“, erklang LeAnns amüsierte Stimme. Sie hielt zwei Teller, von denen es bereits sehr lecker duftete, in den Händen und hatte die letzten Worte gehört. „Das Essen geht nämlich heute aufs Haus. Jason hat noch etwas gut bei mir.“
„Na so ein Zufall“, lachte Selina. „Was hat er getan? Den Kaffee-Umsatz gesteigert?“
„Er hat meine alte Musikbox repariert“, verriet die Wirtin und zwinkerte ihr zu.
„Wow“, staunte Selina und wandte sich überrascht an Jason. „So etwas kannst du?“
Der hob scheinbar gleichgültig die Schultern.
„Ich bin eben ein Allroundtalent.“
„Aha“, erwiderte sie trocken. „Bescheidenheit gehört demnach nicht mit in deine Personenbeschreibung. Anstelle davon nehmen wir eine gehörige Portion von Selbstüberschätzung.“
Die drei lachten übermütig, und LeAnn klopfte Jason gönnerhaft auf die Schulter.
„Nun lasst es euch schmecken, ihr beiden Lebensretter.“
Nachdem sie wieder an ihre Arbeit gegangen war, räusperte sich Jason mit einem Grinsen.
„Apropos Selbstüberschätzung: Wann kommt eigentlich mein neuer Boss von seinem Seminar zurück?“
Selina, die gerade eine von den köstlichen Kroketten auf ihre Gabel gespießt hatte, hielt kurz inne. Nick? An ihn hatte sie heute noch gar nicht gedacht. Plötzlich schien ihr Heißhunger auf das gute Essen nur noch halb so groß.
„Ähm... das stand noch nicht genau fest. Der Lehrgang dauert offiziell zwar bis morgen, aber vielleicht haben sie in San Francisco ein Einsehen, weil Sonntag ist, und Nick kommt bereits heute Abend wieder zu Hause“ erwiderte sie etwas verhalten.
„Oh, so bald schon“, entfuhr es Jason. Im gleichen Augenblick bereute er seine voreiligen Worte und machte sich verlegen über sein Essen her.
Selina lächelte etwas wehmütig. Er konnte nicht ahnen, dass er ihre Gedanken gerade laut ausgesprochen hatte.
Irgendwie war es eigenartig, aber sie hatte Nick während seiner Abwesenheit nicht ein einziges Mal sonderlich vermisst. Von ihrem neuen Job hatte sie ihm am Telefon bisher auch noch nichts erzählt. Und eines war sicher: Ihr zukünftiger Ehemann würde über die Tatsache, dass sie die folgenden Tage mit Jason und den anderen Lifeguards am Strand verbringen sollte, garantiert nicht sonderlich erfreut sein. Auch, wenn es sich dabei um einen rein dienstlichen Auftrag handelte.
Sie verdrängte den Gedanken daran und knabberte gedankenverloren an der Krokette.
„Du solltest etwas Tempo vorlegen, liebe Praktikantin, unsere Mittagspause ist nicht endlos“, ermahnte Jason sie mit einem Augenzwinkern, das sie mit einem kurzen Lächeln quittierte.
„Okay Chef.“
Keine fünf Minuten später meldete sich plötzlich Jasons Notruf-Gerät, das er im Dienst immer bei sich trug.
„Verdammt,“ knurrte er und legte sein Besteck weg. „Die funken mich nur im äußersten Notfall an. Komm Selina, wir müssen sofort los!“
Mit einem bedauernden Blick auf ihren immer noch halbvollen Teller folgte ihm Selina eilig nach draußen und winkte LeAnn, die sich hinter dem Tresen zu schaffen machte, im Vorübergehen zum Abschied noch kurz zu.
Pazifik Coast Highway
Alli legte den Kopf zurück und gähnte hinter vorgehaltener Hand.
„Meine Güte, hoffentlich bringt uns die alte Klapperkiste nachher wieder heil nach Hause“, maulte sie und kurbelte das Seitenfenster herunter. „Ich verstehe nicht, wieso wir für deinen geheimnisvollen Ausflug nicht die Bikes genommen haben.“
Jack, der am Steuer seines betagten Chevy saß, lachte schelmisch.
„Was glaubst du wohl? Diese alten Kisten sind geradezu legendär für ihre bequemen Rücksitze.“
„Fällt dir nichts Besseres ein?“
Jacks Grinsen wurde noch um einiges breiter.
„Wenn du mich so fragst, aber sicher! Was hältst du davon, wenn wir sofort anhalten? Da vorn ist ein Parkplatz!“
Alli fuhr mit ihrer Hand durch sein ohnehin schon widerspenstiges Haar.
„Du bist unmöglich, weißt du das?“
„Nein, aber ich bin verrückt nach dir.“
Jack war froh, dass Alli seiner spontanen Einladung gefolgt war. Den ganzen Vormittag hatte sie bei herrlichstem Wetter in ihrem Zimmer gehockt und war nicht zu bewegen gewesen, mit ihm hinunter zum Strand zu gehen. Es schien fast, als befürchtete sie, dort unten auf jemanden zu treffen, dem sie unter keinen Umständen begegnen wollte.
War es am Ende Dylan, dem sie aus dem Weg zu gehen versuchte?
Oder steckte mehr dahinter? Dieser Kerl vielleicht, den sie in der Firma gesehen hatte? Dem würde er auf den Fersen bleiben.
Seinen bisherigen Nachforschungen zu Folge war der Mann alles andere als ein harmloser Gauner. Er war mächtig, gnadenlos und ohne jeden Skrupel. Seine Hintermänner gehorchten ihm blind. Und er machte momentan irgendwelche dunklen Geschäfte mit George Carrington.
Was auch immer es war, das diesen Teufel auf geheimnisvolle Weise mit Alli verband, der Kerl hatte ihr eine Heidenangst eingejagt.
Jack atmete tief durch.
Er würde sie beschützen. Wenn es sein musste, mit seinem Leben.
„Wo fahren wir denn nun eigentlich hin?“, unterbrach sie neugierig seine Gedanken.
„Wir besuchen einen alten Freund von mir. Er kocht eine ausgezeichnete Lasagne, genau wie du sie magst“, erwiderte Jack und zwinkerte ihr geheimnisvoll zu. „Lass dich überraschen.“
Wenige Augenblicke später verließ er den Pazifik Coast Highway und bog ab nach Venice Beach.
Am Lifeguard-Turm
„Was ist los, Randy?“, rief Jason drei Minuten später und sprang aus dem Jeep, kaum dass dieser vor dem Lifeguard-Turm zum Stehen gekommen war.
„Eins von den Schnellbooten ist hinter dem Pier gekentert“, erstattete sein junger Kollege Bericht. „Vier Leute saßen in dem Boot, als es gegen einen der Pfeiler krachte. Tom und die anderen beiden vom Nachbarturm sind bereits draußen, aber die Strömung ist ziemlich stark, und sie haben große Probleme mit der Bergung der Insassen!“
Mit zitternden Knien kletterte nun auch Selina aus dem Jeep. Jasons „Notruf“- Fahrstil würde ihr lange in Erinnerung bleiben, dessen war sie sich sicher.
„Ich komme mit!“, rief sie und entledigte sich in fliegender Eile ihres Jogginganzuges, als Jason bereits den Jet Ski anließ. Kurzentschlossen sprang Selina auf den Rücksitz.
„Du kannst nicht mit!“, brüllte er gegen den Motorenlärm.
„Doch, ich kann! Fahr los!“, schrie sie ihm ins Ohr.
Es war keine Zeit zum Diskutieren.
„Festhalten!“, befahl er und startete den Jet Ski so rasant, dass das Wasserfahrzeug sich nach vorn aufbäumte wie ein störrisches Pferd.
Selina schrie auf und klammerte sich erschrocken an Jason fest. Er steuerte das Mobil mit Vollgas auf die Unfallstelle zu. Das dadurch verdrängte Wasser teilte sich und entlud sich seitlich von ihnen in schäumenden Fontänen.
Auf dem Pier hatten sich bereits einige Schaulustige versammelt, die sich weit über die Brüstung beugten, um nichts von der dramatischen Rettungsaktion zu verpassen.
Das verunglückte Boot schaukelte leckgeschlagen auf dem Wasser, und die durch den Aufprall abgesplitterten Teile wurden langsam von den Wellen davongetragen.
Jason drosselte den Motor, hielt neben den Lifeguards und half Selina mit einer kräftigen Armbewegung hinüber ins Schnellboot. Steven, sein Kollege vom anderen Rettungsturm, reichte ihr hilfsbereit die Hand.
„Sind das alle?“, fragte ihn Jason mit einem Blick auf die drei nassen, zitternden Gestalten, die hinten im Boot hockten. Keiner der jungen Männer schien viel älter als sechzehn sein.
„Nein, einer fehlt noch. Wir konnten ihn bisher nicht finden“, erwiderte Steven. „Wahrscheinlich hat er sich bei dem Aufprall verletzt und ist bewusstlos! Tom und Mike suchen ihn noch.“
Genau in diesem Augenblick tauchte Tom prustend neben dem Boot auf.
„Was ist? Habt Ihr ihn?“, fragte Jason gespannt.
Erschöpft rang Tom nach Atem.
„Noch nicht... die Strömung... ist zu stark...“ Er sah, wie Jason sich hastig sein Shirt auszog.
„Warte, bis Mike sich meldet, er ist noch unten! Und gib auf die Strömung acht!“, rief er, doch Jason war bereits mit einem kühnen Sprung in den Wellen verschwunden.
Selina klammerte sich an den Rand des Bootes und starrte auf die Stelle, wo er untergetaucht war.
„Was tut er denn jetzt?“
„Er taucht nach dem vermissten Jungen“, erklärte Steven und half Tom ins Boot. „Er und Mike werden sich abwechseln. Hoffentlich achtet er auf die Strömung!“
„Ist das gefährlich?“, fragte Selina beunruhigt.
„Jason hat Erfahrung, der weiß, was er tut.“, erwiderte Tom schweratmend. „Ich gehe auch gleich wieder runter.“
Steven schüttelte den Kopf.
„Vergiss es, du warst schon zu lange unten! Ich werde gehen.“
„Der Vermieter, der diesen Kindern das Boot überlassen hat, kann was erleben“, knurrte Tom mit einem Blick auf die wie versteinert dahockenden Jungen und schüttelte verständnislos den Kopf. Er trat neben Selina, die Rettungsboje einsatzbereit in der Hand. Als er ihre angstvoll geweiteten Augen sah, legte er ihr für einen Moment beruhigend die Hand auf den Arm. „Keine Angst, Jason passiert schon nichts. Der versteht seinem Job!“
Die Sekunden vergingen. Selina erschienen sie wie Stunden.
Sie starrte unentwegt auf die Wellen, die sich pausenlos an den dicken Holzpfeilern unterhalb des Piers brachen.
Einmal war Jason kurz aufgetaucht, hatte tief Luft geholt, um dann erneut wieder unter Wasser zu verschwinden. Dann tauchte Mike auf. Erschöpft schwamm er auf das Boot zu.
„Wir haben ihn!“, keuchte er. „Er ist eingeklemmt... Jason versucht seinen Fuß zu lösen!“
„Wo?“, rief Steven, bereit zum Absprung.
„Gleich dort drüben, rechts außen unter dem Pier!“
Steven sprang mit einem kühnen Kopfsprung in die Fluten.
Selina und Tom halfen Mike ins Boot.
„Verdammt“, brachte er außer Atem hervor. „Der Junge ist schon ziemlich lange da unten!“ Er drehte sich zu den Teenagern um, die ihn mit angstvoll aufgerissenen Augen anstarrten. „Wie alt ist euer Kumpel, he? Nicht älter als fünfzehn, schätze ich...“
„Rick ist mein jüngerer Bruder“, erwiderte einer der Jungen mit zitternder Stimme. „Er ist erst vierzehn... Bitte, holen Sie ihn da raus! Mein Vater bringt mich sonst glatt um!“
„Andere Sorgen hast du nicht?“, herrschte Mike ihn ungehalten an. „Hättet ihr euch vorher überlegen sollen, bevor ihr in Gewässer startet, von denen ihr rein gar keine Ahnung habt!“
Tom legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Lass gut sein, Mike, Vorwürfe nützen jetzt keinem mehr. Die Jungen stehen unter Schock!“
Selina umfasste mit den Händen den Rand des Bootes und starrte unentwegt auf die Stelle, an der Jason verschwunden war.
„Mike... Tom... so tut doch was! Er kommt nicht wieder hoch!“
„Ich gehe nochmal runter“, rief Tom und sprang kurzentschlossen von Bord. Mit kräftigen Zügen schwamm er hinüber besagtem Pfeiler am Ende des Piers.
In diesem Augenblick tauchte Steven auf und hielt den verunglückten Jungen im Rettungsgriff umklammert. Geistesgegenwärtig fasste Tom zu. Gemeinsam brachten sie den leblosen Körper zum Boot.
„Los, fasst mit an!“, befahl Selina den Jungen hinter sich. Auf ihren Befehl hin kam Leben in die zitternden Gestalten. Gemeinsam holten sie den Verunglückten ins Boot und betteten ihn vorsichtig auf die vorbereitete Vakuummatratze.
Tom und Mike kletterten hinterher und begannen sofort mit den notwendigen Wiederbelebungsmaßnahmen. Die Jungen standen mit angehaltenem Atem daneben, starrten auf das bläulich verfärbte Gesicht ihres Freundes und beteten heimlich, er möge wieder aufwachen.
Dann der erlösende Augenblick: Der schmächtige Körper des Verunglückten bäumte sich auf, und der Junge erbrach hustend einen Schwall Meereswasser.
„Na also... da haben wir ihn wieder!”, rief Tom erleichtert.
Irgendwann während dieser bangen Sekunden wurde Selina bewusst, dass Jason noch immer nicht zurück war. Sie blickte hinüber zum Pier... Nichts!
„Hey...!“, schrie sie völlig außer sich. „Wo ist Jason?“
Erschrocken blickte Steven hoch.
„Ja aber... Er hätte direkt hinter mir auftauchen müssen!“
„Ist er aber nicht!“ Mit verzweifelter Entschlossenheit kletterte Selina auf den Bootsrand.
Geistesgegenwärtig sprang Steven hinzu und hielt sie fest.
„Du wirst hier nicht hineinspringen, die Strömung ist viel zu stark für jemanden, der sich nicht auskennt! Hilf den anderen... Ich suche Jason!“
Damit packte er eines der Rettungsseile und befestigte es am Boot. Das andere Ende hakte er an seiner Rettungsweste fest. Dann sprang er auf den Rand des Bootes und hechtete in die Wellen.
Selina beobachtete, wie das Seil sich langsam abrollte, je weiter Steven schwamm. Beide Hände angstvoll auf den Mund gepresst, starrte sie ihm nach.
„Bring ihn zurück“, murmelte sie mit zitternder Stimme. „Bitte bring ihn zurück!“