David Edwards Haus
Schlaflos wälzte sich Dylan in seinem Bett herum. Zu viele Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, und er hätte wer weiß was dafür gegeben, zu wissen, was der nächste Tag bringen würde.
Der Tag, an dem sie David befreien wollten.
Inzwischen wussten sie mit ziemlicher Sicherheit, wo man seinen Zwillingsbruder festhielt. Das Versteck war nur ein paar Meilen von Destiny Beach entfernt, nördlich, in einem Waldstück in der Nähe von Long Beach.
Alles war vorbereitet und genau abgesprochen. Noch vor ein paar Stunden hatten sie sich hier in Davids Haus getroffen und ihren Plan minutengenau zurechtgelegt:
Daniel und Dylan Edwards, Renee Parker, Jack Bennett, Jeff Cabott und Justin Coleman, jener Police-Officer, der Jack und Alli damals auf dem Freeway wegen Geschwindigkeitsüberschreitung verwarnt und Jack später nach einer rasanten Verfolgungsjagd eingesperrt hatte. Sie alle hatten sich heimlich zusammengeschlossen und verfolgten in einer äußerst riskanten Aktion nur ein Ziel:
Davids Leben zu retten und den Auftraggeber dabei gleichzeitig zur Strecke zu bringen. Sie arbeiteten zunächst im Alleingang. Es gab keinerlei Unterstützung durch die Behörden. Zwar waren das FBI und die Polizei in die Aktion eingeweiht, doch Dylan hatte es geschafft, bei seinem Vorgesetzten eine Verfügung zu erwirken, die eine Undercover-Aktion rechtfertigte. Dylans Kollegen würden erst eingreifen, wenn David in Sicherheit war. Sie wollten nichts riskieren, was sein Leben zusätzlich in Gefahr brachte, denn sie wussten um die Gefährlichkeit des Mannes, der bei dieser Entführung die Hand im Spiel hatte und die Fäden zog:
William Raves, gefürchteter und in den Staaten meist gesuchter Boss eines skrupellosen Syndikats, das vor absolut nichts zurückschreckte. Erpressung, Korruption, Drogen, Geldwäsche, Menschenhandel, Entführung, vor allem aber kaltblütiger Mord – all das ging auf das Konto dieses Mannes, der dank einer mutigen Kronzeugen-Aussage eigentlich im Staatsgefängnis von New York sitzen sollte, unerklärlicherweise jedoch wieder auf freiem Fuß war und seitdem all seine schmutzigen Geschäfte unter dem Decknamen Victor Travis in vollem Umfang wiederaufgenommen hatte, ohne dass ihn Behörden und Gesetzeshüter zu fassen bekamen.
Er war wie ein Schatten, überall und nirgends. Doch diesmal würden sie ihn kriegen, und mit ihm Davids Geschäftspartner George Carrington, der sich in seiner Gier nach Geld und Macht mit diesem Teufel eingelassen hatte.
Alles war perfekt organisiert… Sie mussten es schaffen! Um Davids Willen, und gleichzeitig für all die Menschen, die durch William Raves ihr Leben verloren hatten.
Dylan ahnte, dass er sowieso keinen Schlaf finden würde. Also beschloss er, sich nicht länger im Bett herumzuwälzen. Leise, um Daniel und Renee, die wegen der morgigen Aktion in den Gästezimmern der Villa schliefen, nicht zu stören, öffnete er die Tür und ging die Treppe hinunter, die in das geräumige Wohnzimmer führte.
Die Tür zur Veranda stand offen, die zarten Vorhänge bauschten sich in der frischen Brise, die vom Meer herüberwehte.
Der Mond, der draußen längst aufgegangen war, tauchte den Raum in ein gespenstisch schönes, gleißendes Dämmerlicht und verwandelte ihn in ein geheimnisvolles Schattenreich. Mitten aus diesen spärlichen Lichtreflexen löste sich mit einem Mal eine zierliche Gestalt und bewegte sich langsam durch die geöffnete Tür nach draußen auf die Veranda.
Dylan starrte wie gebannt in die Dunkelheit und fühlte sich urplötzlich in diesen geheimnisvollen Traum zurückversetzt, in dem er jener unbekannten Frau gefolgt war, ohne ihr Gesicht erkennen zu können.
„Du kennst mich, Dylan“, hatte die Unbekannte im Traum zu ihm gesagt. „Du kennst mich sehr gut. Denk mal darüber nach…“
Sie war es, die Frau aus seinem Traum, da war er sich ganz sicher. Nur mit dem Unterschied, dass er in diesem Augenblick ganz und gar nicht träumte.
Sein Herzschlag beschleunigte sich zusehends. Leichtfüßig sprang er die letzten Stufen hinunter und schlich zur Verandatür.
Vorsichtig schob er die Vorhänge beiseite.
„Kannst du auch nicht schlafen?“, hörte er eine sehr vertraute Stimme und verharrte wie angewurzelt. Sie stand an die Brüstung gelehnt und wies auf den wundervollen Sternenhimmel. „Es ist eine so herrliche Nacht. Sie mal, wie sich das Mondlicht in den Wellen spiegelt! In solchen Nächten entdecke ich meine versteckte romantische Seite.“
Dylan stand da wie vom Blitz getroffen.
„Renee?“
Sie trug einen sehr femininen, pastellfarbenen Hausanzug, ein Kleidungsstück, dass sie ungewöhnlich zart und zerbrechlich wirken ließ. Dazu lächelte sie wie ein Engel, und er musste zugeben, sie sah auch wie einer aus. Ein wunderschöner, traumhafter Engel.
So hatte er seine Partnerin noch nie gesehen.
„Warum schaust du mich so an?“ fragte sie leise. „Habe ich dich erschreckt?“
Dylan wagte kaum zu atmen.
„Du bist… bezaubernd, Renee!“
Erstaunt zog sie die Augenbrauen zusammen.
„Hast du getrunken?“
Dylan ging auf sie zu und blieb dicht vor ihr stehen.
„Nein, ich bin stocknüchtern. Aber ich glaube, ich habe noch nie so klar gesehen wie jetzt, sonst hätte ich schon viel früher bemerken müssen, was für eine wunderschöne Frau meine Partnerin ist.“
Renee warf ihr langes blondes Haar zurück und blinzelte noch immer etwas argwöhnisch. Solche Worte von ihm?
„Dylan…“
Er hob die Hand und berührte vorsichtig mit den Fingerspitzen ihre Wange.
Sie wich nicht zurück, stand wie versteinert. Wie oft hatte sie sich genauso eine intime Situation herbeigewünscht, wenn sie irgendwo während einer Observation nebeneinander im Auto saßen und er anderen Frauen hinterher schaute, oder wenn er mit andern Kollegen von seinen neusten Eroberungen prahlte und sie stumm hinter ihrem Schreibtisch saß und sich vergeblich auf ihre Schreibarbeit zu konzentrieren versuchte.
Sie hatte sich bereits in ihn verliebt, als sie einander als Kollegen und neue Partner vorgestellt wurden. Natürlich hätte sie das nie zugegeben, nicht mal vor sich selber, und so lernte sie nach und nach, ihre Gefühle für Dylan erfolgreich hinter ihrer professionellen Fassade als knallharter Cop zu verbergen. Oh ja, man konnte diese Gefühle leugnen und verbergen, doch sie waren trotzdem immer da und nur manchmal, wenn sie glaubte, dass es keiner merkte, erlaubte sie sich, ihnen nachzugeben und ein wenig zu träumen.
So wie eben.
Doch dieser Traum war real, zu real. Sie war Dylan freiwillig hierher gefolgt, weil sie wusste, dass er sie brauchte, als seine berufsmäßige Partnerin, nicht mehr und nicht weniger. Wenn sie sich jetzt auf etwas einließ, das vielleicht nur aus einer romantischen Laune seinerseits heraus entstanden war, dann würde hinterher nichts mehr so sein, wie es war. Sie würde nicht mehr mit ihm arbeiten können.
Instinktiv trat sie einen Schritt zurück und wollte weglaufen, doch er war schneller.
Mit einem Satz verstellte er ihr den Weg und zog sie einfach in die Arme.
„Dylan… nicht!“
Er lächelte.
„Ist ja gut, ich habe es verstanden.“
Sie hörte auf sich zu wehren und starrte ihn irritiert an.
„Was meinst du?“
„Ich meine, dass ich ein totaler Idiot war. Es hat lange gedauert, und ich danke dir für deine Geduld, aber nun weiß ich, dass ich die ganze Zeit nach etwas gesucht habe, das eigentlich ganz in meiner Nähe war – nach dir!“
„Das glaube ich jetzt nicht“, flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu ihm.
„Geht mir genauso, Baby“, bestätigte Dylan mit vor Verlangen funkelnden Augen. Dann beugte er sich vor und küsste sie.
Georges Büro in der CEC Corporation
George saß bereits kurz nach Sonnenaufgang in seinem Büro und starrte nach einer schlaflosen Nacht düster vor sich hin. In was für ein Dilemma war er da nur hineingeraten! Wie um alles in der Welt hatte er sich auf solch einen Wahnsinn einlassen können!
Okay, er hatte seinen Geschäftspartner ein für alle Mal aus dem Weg haben wollen, genauso wie er Jonathan Cabott losgeworden war, nur auf eine etwas andere Art. Sein Plan war perfekt gewesen, so perfekt, dass er hundertprozentig sicher war, dass niemand auch nur ansatzweise den Unfalltod des einen und das rätselhafte Verschwinden des anderen Geschäftspartners mit ihm in Verbindung gebracht hätte!
Leider hatte er dabei eine Kleinigkeit übersehen, etwas, an dem auch der genialste Plan gescheitert wäre. Er glaubte David Edwards zu kennen, ihn und seine Vergangenheit, aber mit einem Zwillingsbruder hatte er nicht gerechnet. David hatte Dylan nie erwähnt. Anscheinend standen sich die beiden nicht besonders nahe. Wie auch immer, nun hatten sich Raves´ Männer anstatt David dessen Zwilling geschnappt, und der nützte ihnen zur Ausführung ihrer Pläne rein gar nichts. Dylan wusste weder über die privaten und geschäftlichen Konten seines Bruders Bescheid, noch kannte er dessen Passwörter.
Nach einigen Recherchen hatte George inzwischen herausgefunden, dass dieser Dylan irgendwo in New York lebte und schlussfolgerte, dass David das Verschwinden seines Bruders bestimmt noch nicht einmal bemerkt haben würde.
Und nun gab es nur noch diese eine Möglichkeit: Die falsche Geisel musste beseitigt werden, bevor jemand Wind von der Sache bekam.
Aber gleich noch ein Mord?
Auf Georges Stirn bildeten sich erneut kleine Schweißperlen, wenn er an das gestrige Telefongespräch mit William Raves dachte. Dieser Mann schreckte wirklich vor gar nichts zurück!
Und er selbst? Hatte er nicht in dem gestrigen Gespräch den Auftrag bestätigt?
Nein!
Zugegeben, er war skrupellos und hinterhältig, wenn es um seine Interessen ging, aber... sich mit einem zusätzlichen Mord belasten?
Andererseits hatte der Syndikatsboss ihn ohnehin schon längst in der Hand, denn Jonathans vermeintlicher Unfalltod vor ein paar Monaten war in seinem Auftrag von Raves´ Männern inszeniert worden.
Was zum Teufel sollte er tun?
George hieb wütend mit der Faust auf den Schreibtisch und fuhr sich dann aufstöhnend mit der Hand über seine schweißnasse Stirn. Verdammt, er hatte so viel investiert, er wollte diese Ferienanlage bauen, ohne Wenn und Aber, ohne Rücksicht auf Landschaft, Bewohner und all diesen Kram! Dafür brauchte er die Alleinherrschaft über die Firma und deren Gelder, ohne einen Partner, der ihm ständig auf die Füße trat. Und das würde er schaffen, so wie Jonathan verschwunden war, würde er auch David loswerden. Aber Dylan Edwards sollte nicht sinnlos dafür sterben. Soweit wollte er dann doch nicht gehen. Am besten für alle wäre es, wenn Raves den Mann einfach laufen ließe, der hatte ja sowieso keine Ahnung, wer seine Entführer und deren Auftraggeber waren.
Ein bisschen einschüchtern, damit er den Mund hielt, und ihn dann irgendwo aussetzen…. So würde niemand zu Schaden kommen.
Aber würde Raves sich auf so einen Deal einlassen?
Er griff nach seinem Telefon und tippte eilig die Nummer ein, die er auswendig kannte. William Raves musste gestoppt werden, solange das noch möglich war.
Wenn es überhaupt noch möglich war.
Redaktion des SENTINEL
Dave Sullivan sah ungeduldig auf die Uhr. Schließlich schob er sich laut fluchend aus seinem Chefsessel und riss die Tür auf.
„Selina!“
Sie saß an ihrem Schreibtisch und blickte erschrocken von ihrer Arbeit auf, die ihr heute sowieso nicht so recht von der Hand ging. Nach ihrem gestrigen Streit mit Nick vermochte sie sich kaum zu konzentrieren. Immer und immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Schnell nahm sie sich zusammen.
„Ja Sir?“
„Ist Peter endlich von seinem Termin zurück?“
„Nein, bisher nicht.“
Sullivan fluchte erneut laut und vernehmlich.
„Verdammt, er ist bereits mit dem Bericht von dem gestrigen Gerichtsverfahren überfällig! Was denkt sich der Kerl eigentlich? Wie soll ich die heutige Ausgabe in Druck geben, wenn die Hälfte fehlt?“
Er strich sich gestresst über die Stirn.
„Sehen Sie auf seinem Computer nach, ob er den Bericht vielleicht schon fertig hat! Und wenn nicht, dann vervollständigen Sie das Ganze und schicken es mir rüber.“
Selina schaute ihn verdutzt an.
„Aber ich kann doch nicht einfach...“
„Sie können!“, brüllte Sullivan, der offensichtlich mit seiner Geduld am Ende war. „Und ob Sie können, schließlich muss die Lokalseite für morgen fertig werden! Basta!“
Selina tauschte einen vielsagenden Blick mit den anwesenden Kollegen und hob ergeben die Schultern, während sie zu Peters Schreibtisch hinüberging.
„Ihr habt es gehört, Leute. Ich kann...“
Sie setzte sich und schaltete den PC ein, der glücklicherweise nicht durch ein persönliches Passwort vor Zugriffen geschützt war, ein Umstand, der Selina freute, aber auch verwunderte. `In dieser Branche würde ich niemandem trauen, schon gar nicht meinen Kollegen`, dachte sie und begann, seine Dateien nach dem gewünschten Bericht zu durchsuchen. Dabei stieß sie auf einen Ordner mit der Überschrift "Für die Wochenend-Ausgabe des SENTINEL".
Nun gut, das musste wohl die gesuchte Datei sein, denn morgen war schließlich Wochenende. Aufatmend öffnete sie den Ordner und stellte erstaunt fest, dass sich darin lediglich eine einzelne Fotodatei befand. Neugierig öffnete sie es. Was sie erblickte, war ein sehr schönes Foto, von einem Sonnenuntergang, wie es ihn nur hier in Destiny Beach gab. Davor im magischen Licht der Abendsonne ein Liebespaar, dass sich zärtlich umschlungen in den Armen hielt.
Sie wollte das Foto schon wieder schließen und weitersuchen, doch plötzlich hielt sie erstaunt inne. Irritiert starrte sie auf den Monitor, nachdem ihr mit einem Schlag bewusst geworden war, dass diese beiden Liebenden für sie keine Unbekannten waren.
Alli und Jason in inniger Umarmung.
Moment mal!
Sie zoomte das Foto etwas näher heran.
Alli und Jason?
Nein, ein Irrtum war ausgeschlossen.
Und auch der Hintergrund kam ihr bei näherer Betrachtung merkwürdig bekannt vor.
Entschlossen schickte sie die Fotodatei an ihren eigenen PC und suchte dort die Datei mit den Aufnahmen, die sie vor ein paar Tagen selbst gemacht hatte.
Tatsächlich! Das gleiche Foto wie die Aufnahme auf Peters Computer, nur ohne Alli und Jason im Vordergrund.
Hier hatte jemand heimlich eines ihrer bisher unveröffentlichten Motive für eine nahezu perfekte Fotomontage verwendet und wollte dieses Foto nun in die Öffentlichkeit bringen.
Und nach einiger Überlegung wusste Selina auch ziemlich genau, wer...
CEC Corporation
Als Alli etwas früher als sonst die CEC-Büroräume betrat, stutzte sie.
George war schon da? Das war ungewöhnlich. Sonst ließ er sich morgens kaum vor zehn Uhr blicken.
Seine Bürotür stand einen Spalt breit offen, und Alli konnte ihn deutlich reden hören.
Er schien zu telefonieren, und seine Stimme klang ungehalten und nervös.
„Hören Sie, es ist mir egal, wie früh am Morgen es ist, und wo sie Ihren Boss auftreiben, von mir aus werfen Sie ihn aus dem Bett, aber ich muss ihn sprechen... Sagen Sie ihm wer am Telefon ist, und dass es um Leben und Tod geht, und ich kann Ihnen versichern, er wird Zeit haben, verdammt nochmal! ... Ja sofort! ... Ich warte...“
Alli bewegte sich auf Zehenspitzen zur Bürotür hinüber, lauschte angespannt und wagte kaum zu atmen.
„Das wurde aber auch langsam Zeit“, hörte sie George nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen war, wütend schnaufen. „Und wenn schon, das interessiert mich nicht! Wir müssen reden! … Ja zum Teufel, natürlich weiß ich, was wir vereinbart haben, aber die Pläne haben sich geändert, oder besser gesagt: Ich habe sie geändert! Immerhin bin ich derjenige, der hier Kopf und Kragen riskiert. … Sie brauchen mir nicht zu drohen, denn wie ich schon sagte, ich habe nichts zu verlieren! Sie dagegen schon… Wenn Sie auch nur einen Cent sehen wollen, dann nennen Sie mir einen Treffpunkt, und ich werde hinkommen... Ja natürlich kenne ich die Gegend, wofür halten Sie mich, zum Teufel! ... In einer Stunde? Gut, ich werde da sein.“
George knallte das Handy auf den Tisch, lockerte ungehalten seine Krawatte und atmete tief durch. Vielleicht hatte er Glück und die ganze Sache war noch irgendwie zu stoppen!
Ein Blick auf seine Rolex zeigte ihm, dass er sich beeilen musste.
Als er kurz darauf durch den Vorraum hastete, stellte er erleichtert fest, dass noch keine der beiden Assistentinnen anwesend war. Umso besser.
Niemand durfte je erfahren, auf was er sich da eingelassen hatte, und vor allem nicht, mit wem..
Am Lift wäre er beinahe mit Brenda zusammengeprallt. Sie starrte ihn erschrocken an, während er sich eilig an ihr vorbei in die Kabine drängte.
„Mister Carrington! Sie sind aber heute Morgen früh dran!“
„Ich muss zu einem dringenden Termin.“
„Und wann darf ich Sie zurückerwarten?“, fragte Brenda irritiert. „Nur für den Fall, dass jemand…“
George verdrehte genervt die Augen. Warum war er bei all seinem derzeitigen Stress auch noch mit einer total unflexiblen Sekretärin gestraft!
„Das weiß ich noch nicht. Das merken Sie dann schon!“, fiel er ihr unfreundlich ins Wort, als sich die Fahrstuhltüren auch schon schlossen.
„Na toll“, murmelte Brenda ärgerlich. „Und ich kann dann wieder sämtliche Termine verlegen.“
Sie betrat das Vorzimmer, ging zu ihrem Schreibtisch hinüber und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Die Tür des Aktenschrankes bewegte sich und Alli kletterte vorsichtig heraus. Als sie Brendas Blick sah, lächelte sie verlegen.
„Guten Morgen! Ich habe etwas gesucht...“
Brenda hatte sich überraschend schnell wieder gefasst und zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. In diesem Büro wunderte sie allmählich gar nichts mehr.
„Ist schon okay, wenn es Ihnen da drin gefällt, können Sie von mir aus den ganzen Tag dort verbringen. Wenn es sein muss, bringe ich Ihnen sogar den Kaffee hinein.“
„Nicht nötig, Brenda“, erwiderte Alli unbeirrt und griff nach ihrer Tasche und den Wagenschlüsseln von Jacks Ford, den sie sich glücklicherweise heute Morgen geliehen hatte. „Ich muss nochmal weg.“
„Ach, Sie auch?“
Alli zögerte kurz und drehte sich dann noch einmal zu ihrer Kollegin um.
„Danke, dass Sie mich gestern nicht verraten haben“, sagte sie freundlich. „Wenn Sie das alles hier noch einen Tag lang für sich behalten könnten und ich diesen Vormittag überlebe, lade ich Sie morgen nach der Arbeit zu einem Drink ein!“
Brenda starrte ihrer Kollegin sprachlos nach, bis die Tür hinter dieser ins Schloss fiel.
Irgendwie war heute alles anders als sonst.
Deshalb war Brenda auch kein bisschen verwundert, als eine halbe Minute später ein Anruf von Jack Bennett aus der Sicherheitszentrale kam. Er fragte nach George.
„Der ist gerade weg. Hatte es total eilig. Kann ich was ausrichten? ... Alli? Also die ist auch gerade weg ... Ob sie was gesagt hat? Na ja, also, wenn Sie mich so direkt fragen, sie meinte, falls sie den heutigen Vormittag überlebt, dann spendiert sie mir morgen einen Drink. Das finde ich ausgesprochen nett von ihr ... Jack? Sind Sie noch dran?“
Einfach aufgelegt!
Brenda starrte kopfschüttelnd das Telefon an.
Lag irgendetwas in der Luft, oder warum waren heute alle so hektisch?
Oh nein, sie würde sich davon sicher nicht anstecken lassen! Tief durchatmend suchte in ihrer Handtasche nach der Nagelfeile und lehnte sich gemütlich hinter ihrem Schreibtisch zurück. Sie würde sich jedenfalls nicht von dieser allgemeinen Unruhe anstecken lassen.
Redaktion des SENTINEL
„Wo hast du dieses Bild her?“, fragte Selina ihren Kollegen später unter vier Augen, weil sie ihre Vermutung bestätigt haben wollte. „Komm schon, Peter, und erzähl mir keine Märchen, ich will die Wahrheit hören.“
„Du bist doch selber lange genug in der Branche, um zu wissen, dass gewisse Informanten nicht genannt werden wollen“, versuchte Peter sich aus der Affäre zu ziehen, doch Selina ließ nicht locker.
„Stimmt, ich bin lange genug dabei, um ein Foto von einer Fotomontage unterscheiden zu können. Und das hier...“ Sie wedelte ungehalten mit dem Foto vor seiner Nase herum „Das wurde ganz sicher nicht zu dem Zweck gemacht, die Leser unter der Rubrik „Romantische Augenblicke“ mit einem ästhetischen Strandbild zu erfreuen! Also, raus damit, wer hat dir das gegeben?“
Peter verzog entschuldigend das Gesicht.
„Sorry, aber das werde ich dir nicht sagen.“
Selina starrte ihn ein paar Sekunden lang an, dann zuckte sie nur bedauernd mit den Schultern.
„Wirklich schade. Da kann man nichts machen.“ Sie wandte sich ab, schien kurz zu überlegen und drehte sich schließlich noch einmal zu ihm um. „Ach ja, im Übrigen...Vor einer Stunde habe ich mir die Exklusivrechte für ein Interview mit dieser superscharfen Sängerin, die am kommenden Samstag zur großen Huntington-Beachparty auftreten wird, gesichert. Wie heißt sie doch gleich?“
„Rayonnah“, erwiderte Peter und bekam fast den Mund nicht wieder zu.„Und du hast tatsächlich die Exklusivrechte für ein Interview mit der Braut?“
„Allerdings. Nur fiel mir kurz danach ein, dass ich leider am Samstag schon etwas Wichtiges vorhabe und da hatte ich eigentlich daran gedacht, dich zu fragen, ob du mich vielleicht vertreten könntest.“
„Klar!“, strahlte Peter begeistert. „Klar kann ich! Nichts lieber als das!“
„Nun“ Selina setzte ein bedauerndes Lächeln auf. „Daraus wird leider nichts werden.“
Peter machte ein langes Gesicht.
„Und wieso nicht?“
„Na ja, wie heißt es so schön in unserer Branche? Eine Hand wäscht die andere. Wenn du allerdings so wenig kooperativ bist und mir nicht einmal einen klitzekleinen Gefallen tun kannst, wenn ich dich darum bitte...“
Sie drehte sich um und ging zur Tür. Sie konnte förmlich spüren, wie Peter mit sich rang.
Ihre Rechnung ging prompt auf.
„Ähm… Selina, warte! Okay, ich werde es dir sagen.“
„Ich höre?“
„Doktor Ling hat mir das Bild gestern zugemailt.“
Selina starrte ihn aus großen Augen an.
„Aileen Ling, die Ärztin?“
Er nickte.
„Ich schulde ihr noch einen kleinen Gefallen und sie meinte, es wäre ihr wichtig, dass das Foto in die nächste Ausgabe kommt. Aber... von mir hast du diese Info nicht, verstanden?“
Sie lächelte zufrieden.
„Natürlich nicht. Vielen Dank, Peter.“
Auf dem Parkplatz der CEC Corporation
Jack lief hinaus auf den Parkplatz und sah sich suchend um.
„Verdammt!“
Seine dunklen Vorahnungen Alli betreffend schienen sich leider zu bestätigen. Der Ford war verschwunden, und auch Georges Wagen stand nicht mehr auf seinem Platz.
Jack zog sein Handy aus der Tasche und wählte Allis Nummer.
Die Mailbox meldete sich, und Jack fluchte zum zweiten Mal, während er in fliegender Eile eine andere Nummer wählte.
„Daniel? Jack hier… Wir haben ein Problem!“
California Highway One
Alli hatte Georges Wagen sehr schnell eingeholt und folgte ihm in gebührendem Abstand. Er würde sie zu William Raves führen, dessen war sie absolut sicher.
Sie wollte Raves finden, bevor er sie fand und hatte sich deswegen kurzentschlossen einen Plan zurechtgelegt.
Nach dem heimlichen Treffen zwischen den beiden Männern würde sie versuchen, Raves zu folgen und auf diese Weise herauszufinden, wo genau sich dieser Mistkerl zurzeit aufhielt. Dann brauchte sie eigentlich nur noch John Carpenter anzurufen, und der würde sofort mit einem Sondereinsatzkommando anrücken und den Rest erledigen.
Alli presste angespannt die Lippen aufeinander, und ihre Finger umklammerten das Lenkrad. Es klang alles so verdammt einfach. Aber sie wusste nur zu gut, dass man Raves auf keinen Fall unterschätzen durfte. Er war hinterhältig und unberechenbar, und er schien genauso wie sie selbst ein sicheres Gespür für Gefahr entwickelt zu haben. Sie würde verdammt vorsichtig sein müssen, denn das, was sie vorhatte, war lebensgefährlich.
Leben oder sterben.
Long Beach
George ließ die Stadt hinter sich und befuhr den Destiny Beach Boulevard in nordwestlicher Richtung. Nach ein paar Meilen verließ er diesen und bog auf die Interstate 405 Richtung Long Beach ab.
Alli folgte ihm, vergrößerte jedoch den Abstand zu Georges Wagen, damit er sie nicht bemerkte.
Die Fahrt ging bis in das belebte Zentrum der Stadt. Kurz vor dem Flughafen verließ George die Interstate und bog auf den North Lakewood Boulevard ab. Von da an fuhr er langsamer, denn er schien nach dem vereinbarten Treffpunkt zu suchen. Schließlich hielt er auf einem großen von hohen Hecken umgrenzten Parkplatz direkt an der Straße.
Alli bog ebenfalls ab und suchte sich einen Platz, von wo aus sie ihn gut sehen konnte, selbst jedoch nicht gleich entdeckt wurde.
Sie stellte den Motor ab, setzte ihre dunkle Sonnenbrille auf und wartete.
George wartete auch.
Nichts geschah.
Die Minuten zogen sich endlos dahin.
Plötzlich näherte sich sehr langsam eine schwarze Limousine mit abgedunkelten Scheiben und hielt direkt hinter Georges Wagen an.
Alli wurde heiß vor Aufregung. Sie öffnete die Seitenscheibe, rutschte tief in ihren Sitz und beobachtete aus ihrer Deckung heraus gespannt das Geschehen.
Es dauerte nicht lange, da stieg George aus seinem Wagen und sah sich unsicher um. Dann ging er rasch zu der Limousine und verschwand im hinteren Font.
Alli hätte nur zu gern gewusst, was in diesem Augenblick dort drin besprochen wurde, denn sie war sich absolut sicher, dass Raves persönlich auf dem Rücksitz des Wagens saß.
Doch momentan blieb ihr keine andere Wahl, als geduldig auszuharren und abzuwarten, was weiterhin geschah.
Nach einer Weile verließ George die Limousine wieder, lief eilig zu seinem Wagen zurück und fuhr sofort los.
Die Limousine stand noch immer da.
Als sie sich endlich langsam in Bewegung setzte, war Alli bereit. Sie atmete tief durch, straffte entschlossen die Schultern und startete den Motor.
„Einen Moment, nicht so schnell!“, hörte sie urplötzlich eine wohlbekannte Stimme an ihrem Ohr, und ihr Herz blieb vor Schreck beinahe stehen, als sich eine Hand durch die offene Seitenscheibe schob und ihren Arm packte…