Long Beach
Damit hatte niemand von den Anwesenden gerechnet.
Der Polizist, der soeben dabei gewesen war, Raves die Handschellen anzulegen, ging plötzlich stöhnend zu Boden. Raves selbst sprang auf Alli und John zu, machte eine unvorhersehbare, kurze Armbewegung, und mit einem Mal spürte Alli, wie John erstarrte. Bruchteile von Sekunden später wurden seine Arme, die sie hielten, schlaff und er taumelte. Seine Augen blickten sie einen Moment lang starr und ungläubig an, als könne er nicht glauben, was gerade geschehen war.
Entsetzt schrie sie auf und musste hilflos mit ansehen, wie ihr Freund und Beschützer langsam zu Boden sank.
Jack sprang hinzu und fing ihn auf.
„Ruft einen Notarzt! Schnell!“, rief er, als er das Messer sah, dass bis zum Heft in Johns Rücken steckte.
Alli war wie gelähmt vor Schreck, während die Männer des Einsatzkommandos sich auf Raves stürzten und ihn zu Boden warfen.
Jack bettete John vorsichtig in Seitenlage auf den Boden. Er hielt seinen Kopf und tastete nach einem Puls. Alli ließ sich neben ihm auf die Knie fallen.
„John...“
Seine Lider flatterten, und unter allergrößter Anstrengung sah er sie an. Es war nur ein schwaches Flüstern, das von seinen Lippen kam.
„Sam, du bist...“
„Halt durch, John“, bat sie mit zittriger Stimme. „Du schaffst das.“
„Tut es weh, Samantha?“, klang Raves vor Hohn triefende Stimme durch den Raum, während die Männer vom Einsatzkommando ihn in Schach hielten. „Ich hoffe, es schmerzt richtig!“
Obwohl Allis ganze Aufmerksamkeit in diesen Sekunden ihrem schwerverletzten Freund galt, drangen seine boshaften Worte zu ihr durch und lösten den Nebel aus Angst und ohnmächtiger Wut, der sich in ihrem Inneren gebildet hatte.
Langsam hob sie den Kopf.
Ihr Blick suchte Raves und sie sah sein höhnisches Grinsen, als sie sich wie im Trance erhob. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm und stellte sich den Männern, die ihn soeben hinausführen wollten, entschlossen in den Weg. In den Händen hielt sie die 38iger.
„Du wirst nie wieder jemandem wehtun“, sagte sie gefährlich leise und richtete die Waffe auf seinen Kopf.
„Tun Sie das nicht, Miss“, rief einer der Polizisten warnend.
Zwei von Johns FBI-Kollegen knieten gemeinsam mit Jack neben dem Verletzten und sahen erschrocken hoch.
„Nicht, Alli!“, rief Jack und sprang auf. „Wenn du ihn jetzt erschießt, tust du ihm doch nur einen Gefallen!“
Alli jedoch schien alles um sich herum ausgeblendet zu haben. Unverwandt blickte sie in William Raves` kalte graue Augen, und was sie in diesem Augenblick darin sah, erfüllte sie mit grausamer Genugtuung: Das Lachen war ihm vergangen. Er hatte Angst, nackte Angst um sein armseliges Leben.
Ungeachtet der Anwesenden trat sie dicht an ihn heran und drückte ihm mit fester Hand den kalten Mündungsstahl seiner eigenen Waffe an die Stirn.
„Dir bleiben nur noch ein paar letzte Sekunden, um ein Geständnis abzulegen. Du bist ein gewissenloses, kaltblütiges Monster, Raves. Du verdienst es nicht zu leben, und wenn das Gesetz es nicht schafft, dich zu bestrafen, dann werde ich es eben tun. Meine Schwester hat dich geliebt und dir vertraut, doch du hast sie gnadenlos und vorsätzlich getötet. Sag es ihnen!“
Raves` Augenlider flatterten verdächtig.
„Ich habe nichts...“
Alli entsicherte die Waffe.
„Sag es ihnen!“, wiederholte sie mit Nachdruck.
„Damit kommst du nicht durch! Du gehst in den Knast, wenn du mich erschießt!“, würgte er panisch hervor.
Johns Kollegen verständigten sich durch einen kurzen Blick miteinander.
„Nein, das wird sie nicht“, meinte der eine und stellte sich neben Alli. „Allison Tyler wird Sie erschießen, Raves, und man kann sie dafür nicht belangen, denn offiziell wird es diese Frau ab sofort nicht mehr geben. Sie war nur ein Trugbild, eine erfundene Identität, um sie vor Ihnen zu schützen.“ Er wandte sich an Alli. „Erschießen Sie den Bastard, Allison Tyler! Samantha Shaw hat damit nicht das Geringste zu tun.“
Keiner der Anwesenden sagte ein Wort. Alle waren wie erstarrt.
Alli atmete tief durch.
„Okay, du hast es gehört, Raves. Diesmal spielen wir nach meinen Regeln. Also, deine letzte Chance: Gib zu, dass du Susan Shaw vorsätzlich ermordet hast!“
Raves schluckte. Er spürte, wie die Angst um sein Leben ihm die Kehle zuschnürte. Sie würde ihn erschießen! Er konnte es in ihren Augen sehen.
Die Stille im Zimmer war erdrückend.
„Okay...“, brachte er schließlich mühsam hervor. „Ja, verdammt, ich habe Susan Shaw getötet.“
„Genauso wie Andrew Parker.“ Sie verstärkte den Druck mit der Waffe auf seine Stirn. „Sag es!“
„Ja... ja... ich bin auch für seinen Tod verantwortlich.“ Seine Lippen zitterten. Der skrupellose Boss eines berüchtigten Verbrecher-Syndikates hatte Angst wie ein kleines Kind im Dunkeln. „Ich habe sie beide getötet!“
„Sag ihnen, warum!“
„Weil sie den belastenden Speicherchip der Polizei übergeben und mich damit ans Messer liefern wollten“, ächzte er.
„Was war auf dem Chip?“, fragte Dylan gespannt..
„Aufzeichnungen über den Mord an mehreren Drogendealern und deren Familien.“
„Meine Schwester hatte die Aufzeichnungen zufällig entdeckt und erkannte, mit wem sie es zu tun hatte“, erklärte Alli, ohne Raves dabei aus den Augen zu lassen. „Sie übergab mir den Chip, doch weil Raves uns bereits auf den Fersen war, gab ich ihn an meinen Verlobten Andrew Parker weiter. Er sollte ihn verstecken und später der Polizei übergeben. Aber dazu kam es nicht mehr. Raves hat erst Susan und danach Andy getötet. Ich habe gegen ihn ausgesagt und seitdem jagte er mich.“ Sie drückte mit der Waffe weiter gegen seine inzwischen schweißnasse Stirn. „Sag es ihnen!“
„Ich wollte deinen Tod, weil du von all dem wusstest, und weil du als Kronzeugin vor Gericht gegen mich ausgesagt und mich damit in den Knast gebracht hast!“ Auf Raves zitternder Oberlippe hatten sich ebenfalls kleine Schweißtropfen gebildet.
Seine offensichtliche Todesangst erfüllte Alli mit tiefer Genugtuung.
„Er wollte mich töten, so wie alle anderen, doch es gelang dem FBI mich in Sicherheit zu bringen. Ich sagte vor Gericht gegen Raves aus, und man gab mir eine neue Identität, damit seine Leute mich nicht finden konnten, während er verurteilt wurde und lebenslang hinter Gitter musste. Keine Ahnung, wie er es geschafft hat, wieder rauszukommen! Aber seit diesem Tag war ich auf der Flucht, ohne Heimat, ohne Freunde und ohne eine Vergangenheit.“ Sie bohrte ihm die Mündung der Waffe erneut mit Nachdruck in die Stirn. „Du hättest nie aufgehört, nach mir zu suchen, du Bastard! Sag es!“
„Ja… verdammt! Alles was sie sagt, ist wahr“, knurrte er wie ein geprügelter Hund.
Alli verharrte noch einen Augenblick unbeweglich und starrte ihn voller Abscheu an, dann ließ sie langsam die Waffe sinken.
„Ihr habt es alle gehört“, sagte sie leise. „Und nun schafft dieses Stück Dreck hier raus. Ich hoffe, das seine Aussage diesmal für die Todeszelle reicht.“
Auf dem Pier
Selina hatte nie daran geglaubt, wenn ihr Leute erzählten, sie hätten eine Art „innere Stimme“, die zuweilen mit ihnen sprach. In diesem Augenblick jedoch, als sie Jason hinterherschaute, wie er langsam und mit hängenden Schultern über den Pier davonging, wusste sie, dass es sie wirklich gab, denn sie war nicht zu überhören. Und diese „innere Stimme“ sagte ihr in aller Deutlichkeit, was sie zu sagen hatte:
„Bist du denn total bescheuert, du dämliche Kuh?! Er zeigt dir offen seine Gefühle und du lässt ihn einfach abblitzen? Ich glaube es ja nicht!“
`Was hätte ich denn tun sollen?`, erwiderte Selina in Gedanken kleinlaut. `Ich weiß doch momentan selbst nicht, was ich will!`
„Lügnerin!“, keifte die Stimme in ihrem Kopf. „Und ob du das weißt! Dir ist doch schon seit langem klar, dass er dir nicht einerlei ist! Du hast nur nicht den Mumm, um das zuzugeben!“
`Ich habe Nick…`
„Du hattest Nick! Er hat dich betrogen, er ist ignorant und selbstgerecht und hat noch nie Rücksicht auf deine Gefühle genommen! Er wird sich nicht ändern, weder für dich noch für eine andere. Nick wird immer mit seiner Arbeit verheiratet sein.“
`Wir hatten aber auch gute Zeiten…`
„Ach komm schon, Selina, die guten Zeiten sind lange vorbei. Alles was danach kam, war Gewohnheit und nur noch Krampf!“
`Na schön, aber ich kann mich doch nicht in einer Minute von meinem Verlobten trennen und in der nächsten gleich einem anderen in die Arme fallen!`
„Wieso denn nicht? Jason ist ja nicht irgendein anderer!“
`Das geht alles viel zu schnell…`
„Das Leben ist kurz, und solche Augenblicke der Entscheidung erlebt man nun mal nicht in Zeitlupe, du Schaf! Wo, verdammt nochmal, ist die gute alte, spontane, lebenslustige Selina von früher? Lauf ihm nach, bevor er weg ist!“
`Aber… wenn es nun doch nicht funktioniert mit ihm und mir?`
„Willst du jetzt einen Garantieschein oder was? Hattest du einen, als du dich auf Nick eingelassen hast?“
`Nein, natürlich nicht…`
„Selina!“, lief die innere Stimme warnend zur Höchstform auf. „Laaaaaaauf ihm naaaach!“
Long Beach
William Raves wurde von mehreren bewaffneten Polizisten hinausgeführt. Seine Knie zitterten so stark, dass sie ihn stützen mussten. Einige Männer von Johns Sondereinsatzkommando folgten ihnen.
Alli hatte seit Raves` Geständnis kein Wort mehr gesagt. Sie stand wortlos da und sah zu, wie man dem Mörder ihrer Schwester und des Mannes, den sie geliebt hatte, Handschellen anlegte, ihm seine Rechte vorlas und ihn dann hinausführte. Es schien fast so, als würde sie das, was um sie herum geschah, gar nicht richtig wahrnehmen. Sie fühlte sich nur entsetzlich müde und ausgelaugt.
„Was wäre gewesen, wenn sie wirklich geschossen hätte?“, fragte Jack den FBI- Agenten leise.
Der atmete tief durch und steckte seine Waffe ein.
„Keine Ahnung. Sicher hätte man sie angeklagt.“
„Aber Sie sagten doch...“
„Sie haben nur geblufft, Jack.“ Mit hängenden Schultern übergab Alli einem der anwesenden Polizisten die Waffe, mit der sie Raves bedroht hatte. „Aber wenn er nicht endlich alles gestanden hätte, wäre mir das auch egal gewesen.“
Ihr Blick fiel auf den FBI-Agenten, der neben John am Boden kniete und immer wieder versuchte, dessen Vitalfunktionen zu überprüfen.
„Wie sieht`s aus?“, fragte sie und lies sich neben ihren schwerverletzten Freund auf die Knie sinken.
Der Beamte hob nur hilflos die Schultern.
„Der Notarzt ist bereits unterwegs. Ich spüre einen schwachen Puls. Einmal hat er kurz die Augen geöffnet, doch dann verlor er sofort wieder das Bewusstsein.“ Er blickte immer wieder besorgt auf das Messer, das in Johns Rücken steckte.
„Er blutet stark. Vielleicht sollten wir das verdammte Ding rausziehen?“
„Nein, wenn wir es rausziehen, verblutet er“, warnte Alli und presste schmerzlich die Lippen zusammen. Sie strich John über die kalte, schweißnasse Stirn.
„Halt durch“, flüsterte sie. „Wir haben es geschafft, John. Das war es doch, was wir wollten. Du darfst jetzt nicht aufgeben, hörst du! Komm schon!“
Für einen Augenblick öffnete John Carpenter die Augen und starrte sie aus glasigen Augen an.
„Sam“, brachte er mühevoll heraus. Sie streichelte seine Wange und konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten.
„Ja John, es ist alles in Ordnung. Sei ganz ruhig.“
Der Beamte fluchte leise.
„Wo zum Teufel bleibt der Notarzt!“
Unter größter Anstrengung hob John die Hand und packte Allis Arm.
"Du... du bist... du kannst..."
Das brachte sie schlagartig wieder zur Besinnung.
„Ich kann ihn versorgen, bis der Arzt da ist“, erwiderte sie kurzentschlossen. „Holt einen Verbandskasten, ich brauche Kompressen! Los, beeilt euch!“
Auf dem Pier
Traurig und frustriert trottete Jason dem Ausgang des Piers zu.
Was hatte er sich nur dabei gedacht! Selina hatte sich vor einer Stunde erst von ihrem Langzeit-Verlobten getrennt, und ihm war nichts Besseres eingefallen, als sie mit seinen Gefühlen zu bedrängen!
Er hatte es total falsch angefangen.
“Volltrottel!
Idiot!
Dämlicher Blödmann!
Doch nun war es zu spät.
An der Treppe blieb er stehen.
Und wohin jetzt?
Ins SUN CENTER?
Zu Jennifer ins DESTINY NIGHT?
Na klar, wieder ein paar Frust-Drinks nehmen! Das wurde langsam fast zu einer hässlichen Gewohnheit.
Während er noch abwägte, was ihm momentan lieber war, um seinen Kummer optimal zu bewältigen, hörte er plötzlich eine atemlose Stimme hinter sich:
„Jason?“
Sein Kopf weigerte sich zunächst, daran zu glauben, während sein Herz bereits einen dreifachen Salto vollführte.
Langsam drehte er sich um und begriff, dass ihm seine Fantasie keinen Streich gespielt hatte.
Sie stand vor ihm, schweratmend vom schnellen Laufen und wollte etwas sagen, doch sie brachte zunächst nur ein Lächeln zustande, während sie nach Luft rang.
„Ich… ich habe… nachgedacht… ich sollte… wir sollten... Ach, was soll`s…“
Mit zwei Schritten war sie bei ihm und schlang lachend die Arme um seinen Hals.
„Es ist… total verrückt… aber wer weiß…vielleicht funktioniert es ja sogar… mit uns beiden!“
Long Beach
Zehn Minuten später hatte Alli John Carpenters Erstversorgung soweit abgeschlossen, so dass er transportfähig war und auf einer Spezialtrage in den bereitstehenden Krankenwagen gebracht werden konnte.
„Das Messer muss operativ entfernt werden, um sicher zu gehen, dass keine inneren Organe verletzt worden sind“, erklärte der diensthabende Notarzt und reichte Alli die Hand. „Gute Arbeit, junge Frau.“
„Wo bringen Sie ihn hin?“, fragte sie.
„Ins Long Beach Memorial. Dort verfügen wir über die notwendigen Ärzte und die medizinische Technik für einen solchen Eingriff. Machen Sie sich keine Sorgen, er ist in den besten Händen. Ihr Freund hat gute Chancen.“
„Danke Doktor“, murmelte Alli und sah dem Notarztwagen nach, bis er mit heulenden Sirenen hinter der nächsten Biegung verschwunden war.
Jack, der bisher geschwiegen hatte, trat auf sie zu und legte ihr behutsam die Hände auf die Schultern.
„Nun, Alli... oder sollte ich besser Samantha sagen?“
Sie blickte ihn an und brachte ein schwaches Lächeln zustande.
„Du wirst Samantha erst kennenlernen müssen, Jack“, erwiderte sie dann mit ernstem Gesicht. „Das heißt, wenn du bereit dazu bist.“
„Das bin ich“, nickte er. „Ich bin überzeugt, sie ist eine ganz wundervolle Frau.“
Alli hob die Hand und strich mit ihren Fingerspitzen zärtlich über seine Wange.
„Du bist das Beste, was mir seit unendlich langer Zeit passiert ist.“
Sie sahen einander in die Augen und wussten auch ohne große Worte, dass sie zusammengehörten.
„Und nun lass uns nach Long Beach fahren und sehen, wie es John geht. Ich möchte dort sein, wenn er operiert wird und ich möchte an seinem Bett sitzen, wenn er aufwacht. Das bin ich ihm schuldig. Ohne ihn hätte ich die letzten Monate nicht überlebt. Er hat unendlich viel für mich getan.“
„Okay.“ Jack nickte und nahm ihre Hand. „Dann lass uns fahren.“
ENDE
Damit hat sich ja nun fast alles geklärt. Der Rest bleibt eurer Fantasie überlassen, aber ich bin sicher, dass die Weichen für ein Happy End in jedem Fall gestellt sind.
Bleibt zu hoffen, dass William Raves diese Mal seiner gerechten Strafe nicht wieder entgeht, und dass auch George Carrington die Konsequenzen seiner Machenschaften in vollem Umfang zu tragen hat.
Was Alli/Samantha und Jack, Selina und Jason, David und Kate sowie Dylan und Renee betrifft, ich habe mit meiner Story all meinen Haupt-Protagonisten gute Voraussetzungen geschaffen, damit sie ihr Glück miteinander finden bzw. festhalten.
Ich bedanke mich an dieser Stelle vor allem bei denjenigen,
die interessiert gelesen und mir so fleißig ihre Kommis zur Story hinterlassen haben.
IHR SEID TOLL!
Danke für euer Interesse!
Jeany