Redaktion des SENTINAL
Selina trat in Dave Sullivans Büro ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während der Chefredakteur ihre ersten Exklusiv-Berichte vom Lifeguard-Zentrum las. Nach einer Weile setzte er die Brille ab und blickte zufrieden auf.
„Sehr schön, meine Liebe. Genauso hatte ich mir das vorgestellt. Den Chip mit den Bildern lassen Sie hier, wir wählen dann anschließend die passenden Pics zum Text aus. Wenn Sie möchten, können Sie kurz vor Redaktionsschluss nochmal reinschauen, bevor der endgültige Artikel in Druck geht.“
„Nein, ich bin sicher, Sie werden schon das Richtige aussuchen.“ Sie nagte einen Augenblick lang nervös an ihrer Unterlippe, bevor sie vorsichtig zur nächsten Frage ausholte. „Wie lange... Ich meine, was denken Sie, wie viele Artikel Sie noch zu dem Thema brauchen?“
„Nun, diese Woche werden wir täglich einen Beitrag veröffentlichen, und dann warten wir erst einmal die Resonanz der Leser ab.“ Sullivan reichte ihr die Blätter mit den Berichten. „Geben Sie das bitte draußen in den PC ein, bevor Sie gehen. Sie können Rick´s Schreibtisch benutzen, er ist für ein paar Tage auf Dienstreise. Gleich vorn links.“
Selina, die gehofft hatte, sofort nach dem Rapport bei Sullivan ihren Auftrag am Strand weiterführen zu können, lächelte säuerlich und wollte eben das Office verlassen, als einer der Mitarbeiter hereingestürzt kam.
„Was gibt’s denn, Peter?“, fragte Sullivan, der sich bereits anderen Aufzeichnungen zugewandt hatte, ungehalten und runzelte die Stirn.
„Wichtige Neuigkeiten, Chef“, berichtete der mit Peter Angesprochene atemlos. „Es hat heute Nacht ein Feuer gegeben.“
„Ein Feuer? Wo?“
„In einem der Gebäude unmittelbar neben der Baustelle der CEC.“
Selina horchte beunruhigt auf. Es hatte gebrannt? In der Nähe des Ferienprojektes?
Erneut nahm Sullivan die Brille ab und starrte seinen Mitarbeiter ungläubig an.
„Und warum erfahren wir das erst jetzt?“
Der junge Mann hob die Schultern.
„Keine Ahnung, Dave. Das Fax hier kam eben rein.“
Ohne auf Dave Sullivans ungehaltenes Schnaufen zu achten, riss Selina Peter das Fax aus der Hand. Von unguten Vorahnungen getrieben las sie, was darauf stand:
„Einstöckiges Gebäude links neben dem Eingang zur Baustelle des zukünftigen CEC- Ferienprojektes brannte in den frühen Morgenstunden bis auf die Grundmauern nieder. Nach letzten Angaben zwei Leichtverletzte. Ursache des Feuers noch unbekannt. Das Gebäude beherbergte eine sogenannte Armenküche, die sozial minderbemittelten Menschen warme Mahlzeiten anbot.“
„Ich fahre hin!“, erbot sich Selina, tief beunruhigt vor Sorge um Carla und Eliot, diese beiden selbstlosen Menschen, die so viel aufgegeben hatten, um anderen zu helfen.
„Nein, ich habe einen anderen Reporter, in dessen Zuständigkeitsbereich das fällt“, erwiderte Sullivan wenig begeistert und griff zum Telefon.
„Von wem reden Sie, Boss?“ fragte Peter verwirrt. „Wir haben niemanden vor Ort. Rick, der das normalerweise übernehmen könnte, ist verreist. Alle anderen sind bereits unterwegs, und ich selbst muss den Bericht über den Surfer- Wettbewerb in Long Beach vom Wochenende fertigmachen. Den wollten Sie doch unbedingt so schnell wie möglich haben!“
Der Chefredakteur schluckte. Da blieb ihm wohl keine andere Wahl.
„Also gut, okay“, bellte er und wedelte ungeduldig mit der Hand. „Gehen Sie schon, Selina, aber beschränken Sie sich auf das Wesentliche.“
„Natürlich Sir“, nickte sie erleichtert und wollte bereits zur Tür hinaus, als Peter sie zurückrief.
„Hey Selina! Bis dorthin ist es ein ganzes Stück zu laufen. Hier... nehmen Sie den Dienstwagen! Es ist der Jeep neben dem Eingang!“ Er warf ihr die Wagenschlüssel zu, und sie fing sie mit einer geschickten Handbewegung auf.
„Danke Peter. Bis dann.“
„In spätestens zwei Stunden will ich Ihren Bericht!“, rief Sullivan ihr noch nach.
SUN CENTER
„Das ist unglaublich!“
Alli starrte Jack aus weit aufgerissenen Augen fassungslos an. Was sie da eben zu hören bekam, war ungeheuerlich.
Sie saßen in seinem Zimmer, und er versuchte ihr zu erklären, dass ihr Boss, der sich seit einiger Zeit etwas merkwürdig verhielt, angeblich gar nicht David, sondern dessen Zwillingsbruder Dylan war, während der richtige David Opfer einer heimtückischen Entführung geworden sei, deren Auftraggeber allem Anschein nach George Carrington zu sein schien.
„Und damit der feine Herr in der CEC nach Davids Verschwinden nicht einfach schalten und walten kann, wie es ihm beliebt, hat Dylan den Platz seines Bruders eingenommen und George auf diese Art einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.“
Alli fuhr sich ungläubig über die Stirn und hob dann die abwehrend die Hände.
„Warte mal... warte... Nur, dass ich das jetzt richtig verstanden habe: Dylan spielt die Rolle von David, und der richtige David wurde in Georges Auftrag verschleppt.“
„Ja genau, jedenfalls vermuten wir, dass Carrington dahinter steckt“, bestätigte Jack. „Deshalb haben wir es auch vermieden, die örtlichen Behörden einzuschalten. Davids Zwillingsbruder Dylan arbeitet ja selbst bei der Polizei, und zwar als verdeckter Ermittler gegen das organisierte Verbrechen. Er und seine Partnerin Renee haben sofort unbezahlten Urlaub genommen und sind inoffiziell aus New York hergeflogen, um sich der Sache anzunehmen. Dylan kennt sich in Undercover-Aktionen bereits bestens aus. Daniel und ich helfen ihm dabei, so gut wir können. Schließlich wollen Daniel und Dylan ihren Bruder um jeden Preis aus den Händen der Entführer befreien. Wir hoffen, dass wir George Carrington durch unsere Vorgehensweise aus der Reserve locken und gleichzeitig die Hintermänner der Aktion erwischen.“
„Und ihr glaubt, dass George nicht gemerkt hat, dass ein anderer Davids Platz eingenommen hat?“ Alli verzog skeptisch das Gesicht. „Also ich weiß nicht, er mag skrupellos und hinterhältig sein, aber er ist ganz bestimmt nicht dumm.“
„Natürlich hat er gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Daniel und Dylan sind sich ziemlich sicher, dass er den Leuten, die David entführt haben, deswegen auch schon gewaltig auf den Pelz gerückt ist. Anscheinend glauben die jetzt, sie haben versehentlich Davids Zwillingsbruder entführt.“
Alli verdrehte die Augen und schüttelte dann den Kopf.
„Die entführen David und denken, sie haben Dylan, und Dylan spielt inzwischen in der Firma Davids Rolle. Was für ein Durcheinander! Habt ihr schon eine Spur von David? Die arme Kate muss ja außer sich vor Sorge sein.“ Sie unterbrach sich und sah Jack prüfend an. „Oder weiß sie es am Ende noch gar nicht?“
„Dylan hat es ihr gesagt. Kate verhält sich sehr tapfer.“
„Und wer weiß außerdem noch von der Sache?“
„Wir haben Kontakt zu einem Polizeibeamten aufgenommen. Den brauchen wir, wenn wir David befreien wollen. Sonst ahnt niemand etwas von der Sache, denn alles läuft mehr oder weniger inoffiziell, um Davids Leben nicht unnötig zu gefährden.“
„Meine Güte.“ Alli stand auf und trat zum Fenster. „Jetzt ist mir auch klar, warum David - oder vielmehr Dylan - sich so eigenartig verhalten hat. Er konnte die Dokumente nicht unterzeichnen, das wäre ja glatte Urkundenfälschung. Und sein Verhalten mir gegenüber...“
Jack zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. Baggerte dieser Typ Alli etwa immer noch an? Darüber würde er mit Dylan unter vier Augen „reden“ müssen. Er stand auf und kramte in dem schwarzen Aktenkoffer, der auf dem Tisch lag.
„Hier ist der stick mit den Überwachungs-Aufzeichnungen, die du unbedingt haben wolltest.“
Aufatmend nahm Alli das kleine Teil entgegen.
„Okay, ich werde nachher gleich mal reinschauen“. sagte sie scheinbar gleichgültig, als handle es sich um irgendeine Nebensächlichkeit, und ließ den Chip, den Jack ihr gegeben hatte, rasch in ihrer Tasche verschwinden. Von ihrer inneren Anspannung sollte er nach Möglichkeit nichts merken.
Sie trat auf ihn zu und legte ihre Hand auf seine Schulter.
„Danke, dass du mich in euer Geheimnis eingeweiht hast. Solltet ihr in der Sache meine Hilfe brauchen, dann lasst es mich wissen.“
„Aber klar“, erwiderte er.
Sie küsste ihn auf die Wange und ging hinaus.
Er sah ihr nach, erleichtert darüber, ihr die Wahrheit gesagt zu haben, und erleichtert über sich selbst, dass er der Versuchung widerstanden und ihr keine unnötigen Fragen gestellt hatte.
Irgendwo…
David wusste nicht, wie lange er seit dem letzten Besuch des Vermummten in der Dunkelheit hatte ausharren müssen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er versuchte so viel wie möglich zu schlafen, doch selbst wenn ihm seine überreizten Nerven dann und wann ein wenig Ruhe gönnten, waren da immer noch die Albträume, die ihn heimsuchten, und die Fantasie und Realität beängstigend echt ineinander verschmelzen ließen. Aus diesen Träumen wachte er stets in kaltem Schweiß gebadet auf und wickelte sich vor Kälte zitternd fest in die dünne Decke, die auf seiner Pritsche lag.
Sein Kopf schmerzte, er fühlte sich krank und fiebrig.
So oft wie nur möglich dachte er an Kate und versuchte sich vorzustellen, wie sie auf ihn zulaufen und ihn umarmen würde, wenn man ihn endlich irgendwann aus seinem Verlies befreite.
Aber wer, zum Teufel nochmal… wer sollte ihn befreien?
Seine Entführer wollten an seine Konten, das war ihm inzwischen klar. Eine Lösegeldforderung gab es demnach nicht. Trotzdem würden Jack, Daniel und vor allem Kate in großer Sorge über sein Verschwinden sein. Hatten sie bereits die Polizei informiert oder suchten sie auf eigene Faust nach ihm?
Plötzlich hörte er Schritte. Kurz darauf drehte sich ein Schlüssel im Schloss und die Tür wurde aufgerissen.
Es wurde hell im Raum, viel zu hell.
David stöhnte schmerzlich und versuchte zu blinzeln, doch seine Augen versagten zunächst ihren Dienst. Erst ganz allmählich vermochte er erste Umrisse zu erkennen.
Der Vermummte hatte sich, wie schon beim ersten Mal, an den Tisch gesetzt. Aber da war noch ein zweiter Mann, der ihm befahl aufzustehen und ihn grob und ungeduldig von seiner Liege hochzerrte.
„Wie ist dein Name?“, fragte der Vermummte.
„Soll das ein Witz sein?“, knurrte David und versuchte, gegen das aufkommende Schwindelgefühl in seinem Kopf anzukämpfen.
„Dein Name!“
„David Edwards, verdammt!“
„Du lügst.“
„Was? Wieso sollte ich das tun?“ Davids Augen hatten sich endlich an das Licht gewöhnt. Er warf einen vorsichtigen Blick auf den Mann, der neben ihm stand. Dieser war nicht sehr groß, wirkte jedoch drahtig und gut trainiert. Sein Gesicht war genau wie das des anderen hinter einer Maske verborgen.
„Weil du nicht David Edwards bist“, sagte der Vermummte am Tisch in einem schleppendem Tonfall, der nichts Gutes verhieß.
„Natürlich bin ich…“, wollte David widersprechen, bekam jedoch in diesem Augenblick von dem Maskierten einen gezielten Faustschlag in die Magengegend.
Stöhnend krümmte er sich zusammen und fiel hintenüber auf die Liege.
„David Edwards sitzt nach wie vor in seinem Büro in Destiny Beach und pfuscht seinem Partner in die Geschäfte“, erklärte der Vermummte seelenruhig.
„Das kann nicht sein“, keuchte David. „Ich bin doch hier. Wie kann ich da gleichzeitig in meinem Büro sitzen?“
„Das haben wir uns auch gefragt.“ Der Mann stand auf und kam langsam auf ihn zu. „Inzwischen kennen wir dein Geheimnis, mein Freund. Wir haben herausbekommen, dass es noch Jemanden mit deinem Gesicht gibt. Einen Zwilling. Damit konnte niemand rechnen. Und allem Anschein nach haben meine Leute in ihrer grenzenlosen Dummheit den falschen Zwilling erwischt, denn mein Auftraggeber ist sich ziemlich sicher, dass sich der echte David Edwards noch immer in Destiny Beach aufhält.“ Er blieb ganz dicht vor seinem Gefangenen stehen und beugte sich leicht zu ihm hinunter. „Also, Edwards, ich frage jetzt nur noch einmal: Wie ist dein richtiger Vorname?“
Davids Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Seine Entführer wussten von Dylan?
Daniel musste wohl ahnen, um was es ging und ihn zu Hilfe geholt haben! Also hatte Dylan seinen Platz in der CEC eingenommen und George davon überzeugen können, dass sein Partner noch immer präsent sei. Wenn er jetzt etwas Falsches sagte, würde Dylan auffliegen. Also musste er das Spiel vorerst mitspielen.“
„Ich warte auf eine Antwort“, verlangte der Vermummte mit schneidender Stimme, während der Maskierte eine unmissverständlich drohende Haltung einnahm. „Sag die Wahrheit, sonst dürfte es gleich ziemlich unangenehm für dich werden!“
„Okay“, gab David scheinbar klein bei. „Okay, ich gebe zu, ich bin Dylan Edwards, Davids Zwillingsbruder. Und ich habe weder zu den Privat- noch zu den Geschäftskonten meines Bruders Zugang.“ Trotz des beklemmenden Gefühls in seiner Brust gelang ihm ein Grinsen. „Pech für Sie, meine Herren!“
Der Maskierte griff blitzschnell zu, fasste David am Hemdkragen und zog ihn unsanft hoch.
„Freu dich nicht zu früh, du bist nämlich so gut wie tot!“
„Lass ihn in Ruhe“, ermahnte ihn der Vermummte, und David landete erneut ziemlich unsanft auf seiner Liege, während sein Gegenüber voller Genugtuung hinzufügte: „Hör zu, Mister Dylan Edwards, eigentlich müsste ich dich auf der Stelle töten, denn du bist wertlos für mich. Aber ich werde zuvor darüber nachdenken, wie sich aus deiner Gegenwart vielleicht doch noch etwas Profit schlagen lässt. Wo du doch nun einmal hier bist…“
Am Stadtrand
„Oh mein Gott!“
Fassungslos starrte Selina auf das bis auf die Grundmauern niedergebrannte Gebäude. Die einzelnen Mauerreste, die aus einem Berg von Schutt und qualmender Asche emporragten, ließen nicht mehr erahnen, dass dies noch gestern ein Zufluchtsort für jene bedürftigen Menschen gewesen war, die hier täglich mit einer kostenlosen Mahlzeit ihren Hunger stillen durften.
Selina schluckte betreten und sah sich suchend um. Die Feuerwehrleute beendeten eben ihren Einsatz und waren dabei, ihre Löschgeräte zusammenzupacken. Rund um die Brandstelle hatten sich riesige Pfützen und Rinnsale aus dem Löschwasser gebildet, das sich mit der schmutzigen Asche der Überreste vermischt hatte. In der Luft hing ein Gestank, wie ihn nur ein gewaltiges, verheerendes Feuer verursachen konnte, schwer, beißend und vernichtend.
Vor den zwei großen Löschzügen standen mehrere Männer in Uniformen und diskutierten heftig miteinander.
Entschlossen trat die junge Reporterin auf sie zu.
„Ich bin Selina Wood vom SENTINEL“, stellte sie sich betont selbstbewusst vor. „Wer ist der Verantwortliche für diesen Einsatz?“
„Das bin ich, Lady“, erwiderte einer der Männer. Er war um die Fünfzig und von kräftiger Statur. „Lieutenant Reynolds, Leiter dieser Einsatztruppe.“
Selina lächelte verbindlich.
„Hätten Sie einen Augenblick Zeit für ein paar kurze Fragen, Lieutenant Reynolds?“
Er tauschte einen kurzen Blick mit seinen Kollegen und nickte dann.
„Was wollen Sie wissen?“
„Nun, zuerst einmal, wann brach das Feuer aus und wann wurden Sie benachrichtigt?“
„Tja, schwer zu sagen, wann genau das Feuer ausbrach. Ein Passant informierte uns heute Morgen so gegen fünf Uhr, er meinte, er sei zufällig hier vorbeigekommen und habe starken Rauch aufsteigen sehen. Nachdem die Zentrale seinen Anruf an unsere Feuerwache weitergeleitet hatte, sind wir sofort ausgerückt. Als wir hier eintrafen, brannte das Gebäude bereits lichterloh. Wir bekamen das Feuer nicht gleich unter Kontrolle und forderten dann noch Verstärkung von Oceanside drüben an. Die Kollegen waren kurz danach vor Ort. Leider war nicht mehr viel zu retten, wie Sie ja selbst sehen können.“
Selina nickte und machte sich eifrig Notizen auf ihren Block.
„Was ist mit den Leuten, die hier gewohnt haben?“, fragte sie.
„Sie meinen den Mann und die Frau, die diese Küche hier betrieben haben?“ Reynolds nahm seinen Helm ab und fuhr sich mit den Fingern durch sein kurzes, graumeliertes Haar. „Das Feuer hat sie anscheinend im Schlaf überrascht. Meine Leute konnten sie zum Glück gerade noch herausholen, bevor in den unteren Räumen die ganze Decke herunterkam. Man hat sie ins Krankenhaus gebracht, vermutlich haben beide eine Rauchvergiftung.“
„Wissen Sie, in welche Klinik man sie gebracht hat?“
„Soweit ich weiß ins Oceanside Memorial.“
„Und weshalb nicht ins Destiny Beach Medical Center? Das ist doch gleich um die Ecke!“
„Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen, Ma`m, das fällt nicht in unsere Zuständigkeit.“
Selina spielte nachdenklich mit ihrem Stift.
„Ich verstehe nicht, wieso man nicht munter wird, wenn es ringsherum brennt. Das macht doch Lärm! Und dazu die unerträgliche Hitze.“
Reynolds nickte verständnisvoll.
„Tja, das denken die meisten. Aber es kommt immer darauf an, wo genau man sich befindet, wenn ein Brand ausbricht. Immerhin hat man für gewöhnlich vorher eine sehr starke Rauchentwicklung, und wer diese Kohlenmonoxyd-Dämpfe einatmet, wird sehr schnell bewusstlos. So etwas erleben wir bei Einsätzen sehr oft.“
„Haben Sie schon eine Vermutung, wodurch das Feuer ausgebrochen sein könnte?“
Der Lieutenant schüttelte den Kopf.
„Nein, keine Ahnung. Unsere Experten werden sich aber so bald wie möglich darum kümmern und alles untersuchen.“
„Okay.“ Selina klappte ihren Block zu. „Danke für Ihre Auskunft, Lieutenant Reynolds.“ Sie war bereits ein paar Schritte gegangen, als ihr noch etwas einzufallen schien.
„Eine abschließende Frage hätte ich allerdings noch.“
„Ja bitte?“
„Sie sagten, der Passant hätte starken Rauch aufsteigen sehen. Wie kann es sein, dass in der kurzen Zeit, die sie brauchten, um vor Ort zu sein, das ganze Gebäude bereits lichterloh brannte?“
Der Lieutenant schien einen Moment zu überlegen, bevor er ihre Frage beantwortete.
„Tja, also... Es dauert mitunter nur Sekunden, je nachdem wie stark die Rauchentwicklung ist, bis sich ein Feuer entzündet. Manchmal geschieht das fast explosionsartig. Und wenn dann genügend Sauerstoff vorhanden ist, der den Flammen Nahrung gibt...“
Selina nickte.
„Alles klar. Vielen Dank, Lieutenant Reynolds.“
Als sie zurück zu ihrem Wagen ging, fielen ihr zwei Feuerwehrleute auf, die soeben ihre Arbeit beendet hatten und sich eine Zigarettenpause gönnen wollten.
Sie nickte ihnen grüßend zu und war schon fast vorbei, als sie hörte, worüber die beiden sich in diesem Augenblick unterhielten.
„… eindeutig ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Da brauchen wir gar nichts mehr nachzuprüfen.“
„Bist du dir sicher, Mike?“
„Klar doch. Ich weiß, was ich gesehen habe. Spätestens in ein paar Stunden werden hier jede Menge oberschlaue Leute in der heißen Asche herumstochern und garantiert zu demselben Schluss kommen. Eine Schweinerei.“
„Ich würde lieber den Mund halten, wenn ich du wäre. Lass die Leute von der Polizei die Spuren sichern, wir haben jedenfalls unsere Arbeit getan, auch wenn nicht mehr viel von dem Haus übrig ist.“
Selina war stehengeblieben. Bei dem, was sie soeben gehört hatte, fiel ihr schlagartig wieder jener Zettel ein, den Carla ihr bei ihrem ersten Besuch hier in der Küche gezeigt hatte und dessen Inhalt sich förmlich in ihr Gedächtnis eingebrannt zu haben schien: „Hört auf, mit eurem Essen das Ungeziefer an unseren Strand zu locken. Verschwindet, bevor es zu spät ist!“
Einer plötzlichen Eingebung folgend drehte sie sich um und ging auf die beiden Männer zu, die angesichts dessen sofort verstummten und ihr erwartungsvoll entgegenblickten.
„Entschuldigen Sie bitte, dürfte ich wohl ein Foto von Ihnen machen? Das wirkt in der Zeitung immer gut, die fleißigen Einsatzkräfte hautnah am Geschehen.“ Sie lächelte freundlich und hob die Kamera. „Also... darf ich?“
Die Männer wechselten einen kurzen, erstaunten Blick miteinander, nickten dann zustimmend und stellten sich in Positur. Als sie ihre Helme fürs Foto aufsetzen wollten, winkte Selina ab.
„Setzen Sie die bitte nicht auf, damit die Leser auch gut erkennen können, wer die Helden des Tages sind.“
„Helden des Tages“, wiederholte der eine geschmeichelt. „Wenn das mein Sohn in der Zeitung sieht, wird er vor Stolz platzen.“
„Mit Sicherheit“, nickte Selina und öffnete die Kamera. „Achtung - bitte hierher sehen!“
Nachdem sie das Foto gemacht hatte, zog sie ihren Notizblock hervor. „Dürfte ich nun um Ihre Namen bitten, meine Herren? Die müssen natürlich mit in den Bericht, sonst ist ja das Ganze nur eine halbe Sache.“
„Michael Miller.“
„Hank Simpson.“
Selina notierte sich die Namen und dankte den Männern freundlich, bevor sie zu ihrem Wagen ging und davonfuhr.
SUN CENTER
Alli starrte auf den Bildschirm ihres Laptops, während die Überwachungs-Aufzeichnungen liefen.
Da war er!
Sein Gesicht war auf dem Film nicht zu sehen, aber seine Gestalt, die Art wie er sich bewegte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Kein Zweifel, er war es: William Raves, ihr schlimmster Albtraum.
Er war hier in Destiny Beach, und er traf sich mit George Carrington. Sie saß also quasi in der Höhle des Löwen, denn ihr wurde schlagartig die Tragweite dieser Tatsache bewusst: Wenn Carrington geschäftlich mit Raves zusammenarbeitete, dann konnte für sie selbst in jedem Augenblick, den sie in dieser Firma verbrachte, die Bombe platzen!
Normalerweise hatte John recht, sie sollte sofort ihre Sachen packen und verschwinden, weg aus dieser Stadt, am besten ganz raus aus Kalifornien und alle Spuren hinter sich verwischen, so wie sie es in den vergangenen Monaten immer wieder getan hatte.
Aber dieses Mal spürte sie ganz deutlich, dass etwas anders war. Nicht die Umstände hatten sich geändert, denn sie wusste, Raves würde sie sofort und ohne zu zögern töten, wenn er sie fand. Aber sie selbst stand der Sache jetzt plötzlich anders gegenüber. Die Angst davor entdeckt zu werden war einer Entschlossenheit gewichen, die sie selbst überraschte. Sie war quer durch die Staaten vor ihm geflohen, und nun wollte sie sich nicht mehr länger verstecken, sondern sich dem Unvermeidlichen stellen, um endlich den erlösenden Schlussstrich zu ziehen.
Endlich wieder ganz normal leben, ohne vor dem eigenen Schatten zu erschrecken, frei durchatmen können, jeden neuen Tag genießen - oder sterben.
Sie schaltete die Aufzeichnung ab und straffte die Schultern.
„Komm und hol mich, Raves, wenn du kannst! Und mach ruhig den Fehler, mich dabei zu unterschätzen, du Mistkerl, denn dieser Fehler wird garantiert dein letzter sein!“
Sie vertraute auf ihr Gefühl und auf ihren Instinkt, denn sie wusste, mit ihrer Entscheidung war der Countdown unwiderruflich eröffnet.