Am Strand
Wann immer die Lifeguards in Destiny Beach zu ihrem beliebten Strandfest einluden, herrschte jenseits der Strandpromenade ein ausnahmslos buntes Treiben. An diesem Tag blieb kein Mensch zu Hause. Alle schienen am Nachmittag auf den Beinen zu sein, um das lustige Geschehen zwischen Pier und Felsenhöhlen live mitzuerleben. Die mitreißende Musik der zahlreich vertretenen Straßenmusikanten und nicht zuletzt der versprochene Liveauftritt eines an der Westküste überaus beliebten Rockstars lockte selbst den griesgrämigsten Mitmenschen hinter seiner Haustür hervor.
Am Strand wurden verschiedene Spiele durchgeführt, zu denen auch Beachvolleyball und ein Basketballturnier gehörten, das von zwei Lifeguard-Mannschaften ausgetragen wurde. Begeisterte Zuschauer feuerten ihre Favoriten an und spendeten bei jedem Treffer jubelnd Beifall.
Für die Kinder war ein Karussell aufgestellt worden, auf dem die kleinen Gäste auf dem Rücken von schaukelnden Spielzeugdelfinen im Kreis herumreiten durften. Daneben gab es Eis und bunte Zuckerwatte, kandierte Früchte und kühle Limonade. Die Ballwurf- Wand, die Selina so kunstvoll gestaltet hatte, erfreute sich besonderer Beliebtheit. Unermüdlich versuchten die Kinder ihre Bälle durch die unterschiedlich großen, runden Öffnungen in der Wand zu werfen, denn für jeden Treffer gab es einen kleinen Überraschungspreis von Trisha, die diese Station betreute.
Am Fuße des Piers boten verschiedene Lebensmittelhändler lecker duftende Speisen vom Grill an.
Der mit leuchtenden Lampionketten geschmückte Pier hatte sich für diesen besonderen Tag in einen langgestreckten, bis weit ins Meer hineinreichenden fröhlichen Flohmarkt verwandelt, auf dem man alles kaufen konnte, was das Herz begehrte. Die Händler aus den umliegenden Orten nutzten das Strandfest gerne, um ihre Waren anzupreisen, und die Gäste selbst zeigten sich äußerst interessiert an ihrem vielfältigen Angebot.
Nur die Plattform am Ende des Piers war den Showgästen des Strandfestes vorbehalten. Die Crew des Rockstars und die der anderen Livebands hatten ihre gigantischen Anlagen dort draußen zwischen Himmel und Meer aufgebaut, um von diesem herrlichen Platz aus ihr Publikum zu unterhalten.
Alli bummelte am Strand entlang und beobachtete interessiert das geschäftige Treiben ringsum.
Sie trug ein weißes Top, das einen wirkungsvollen Kontrast zu ihrer sonnengebräunten Haut bildete, und hatte einen bunten, wadenlangen Pareo um ihre Hüften geschlungen. Ihr Haar wehte offen im Wind und verlieh ihrem Aussehen etwas von der Exotik und Unnahbarkeit, die sie zuweilen unbewusster Weise ausstrahlte.
Sie blieb stehen und blickte interessiert zu dem laufenden Beachvolleyballspiel hinüber, an dem Jack teilnehmen sollte, aber sie konnte ihn durch die zahlreichen Zuschauer hindurch nirgends entdecken. Auch Tom und Jason waren nicht zu sehen.
Unschlüssig stand sie eine Weile da, ohne zu merken, dass sie bereits seit geraumer Zeit heimlich beobachtet wurde...
DESTINY INN
Nach einem kleinen Einkaufsbummel in Santa Monica kehrten Nick und Selina am Abend ins Hotel zurück.
Selina warf ihre Einkäufe achtlos auf die Couch und wollte im Badezimmer verschwinden, doch Nick hielt sie zurück.
„Was ist denn los mit dir?“, fragte er und runzelte besorgt die Stirn. „Du hast die ganze Zeit über kaum ein Wort gesagt. Bedrückt dich irgendetwas?“
Selina blickte ihn einen Augenblick lang wie abwesend an und nickte dann mit zusammengepressten Lippen.
Nick zog sie zu sich heran.
„Komm schon, sag mir was los ist, Liebling!“
Mit einer unwilligen Bewegung befreite sie sich aus seinen Armen und starrte in den großen, verzierten Wandspiegel.
„Ich habe Heimweh“, brach es plötzlich aus ihr heraus. „Ich kann so nicht leben, hier in dieser wildfremden Stadt, wo alles derart still und friedlich ist, dass man nur das Meer rauschen und ab und zu eine Möwe kreischen hört! Mir fehlt das Großstadtleben, der Lärm, das Hupen der Autos, von mir aus auch der Regen und die Kälte. Mir fehlt einfach das Gefühl, gebraucht zu werden!“
Nick hatte aufmerksam zugehört. Er trat einen Schritt auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Schultern.
„Aber natürlich wirst du gebraucht, Liebling! Ich brauche dich, denn ohne dich hätte ich doch diesen Neuanfang gar nicht gemacht!“
„Da bin ich mir nicht so sicher“, murmelte Selina.
Nick stutzte kurz, berührte dann mit den Fingerspitzen ihr Kinn und zwang sie mit sanftem Druck ihn anzusehen.
„Aller Anfang ist schwer, das weißt du doch, für mich genauso wie für dich. Für uns beide.“
„Nein, da gibt es einen ganz entscheidenden Unterschied“, entgegnete sie heftig, „Du hast deine Arbeit, die dich ausfüllt und die deine ganze Zeit in Anspruch nimmt! Ich wette, wenn du in deiner Klinik bist, dann weißt du nicht einmal, ob du dich noch in Chicago befindest oder in Destiny Beach! Ich dagegen hocke den ganzen Tag in diesem tristen Hotelzimmer oder gehe shoppen in der einzigen Einkaufsstraße, die diese Stadt hat, oder ich liege gelangweilt am Strand herum. Noch nie in meinem ganzen Leben bin ich mir so nutzlos vorgekommen! Wenn das hier ein Urlaub wäre, okay, der geht vorbei. Aber das hier ist unser neues Leben, Nick, und so kann ich nicht leben! Diese ewige Ruhe und dieses Zimmer, das Alleinsein, das alles erdrückt mich!“
Nun war es heraus, und sie sah ihn erwartungsvoll an, doch er schüttelte nur verständnislos den Kopf.
„Entspann dich, meine Liebe. Andere Frauen wären mehr als froh, wenn sie so ein Leben führen könnten.“
„Das ist alles, was dir dazu einfällt? Ich soll mich entspannen?“, fuhr ihn Selina aufgebracht an und schüttelte seine Hände ab. „Ich bin aber nicht wie andere Frauen! Es reicht mir nicht, nur die nette Freundin des neuen Chefarztes zu sein, die es nicht nötig hat, einer Arbeit nachzugehen, sondern brav zu Hause hockt! Ich muss etwas tun!“
„Aber das haben wir doch alles schon hundertmal besprochen, bevor wir uns entschlossen haben, hierher zu fahren. Ich möchte nicht, dass meine zukünftige Frau arbeiten muss. Wenn du dich langweilst, dann suchen wir einen netten Wohltätigkeitsclub für dich, in den du eintreten kannst, dann lernst du gleich...“
„...die anderen netten, langweiligen Frauen der High Society kennen“, ergänzte Selina mit vor Hohn triefender Stimme. „Nein danke, kein Interesse.“
Nick verdrehte überfordert die Augen.
„In Chicago waren wir beide uns einig...“
Wieder fiel sie ihm ins Wort, und diesmal in einem Tonfall, den er gar nicht an ihr kannte.
„Hier ist aber nicht Chicago, hier ist Kalifornien! Und ich hasse es!"
„Okay“, beschwichtigte Nick seine wütende Verlobte in einem diplomatischen Tonfall, der sie nur noch mehr auf die Palme brachte. „Lass uns morgen in aller Ruhe darüber reden.“
„Nein!“ Entschieden trat sie einen Schritt vor. „Wir reden jetzt darüber! Jetzt und hier! Ich möchte, dass wir aus diesem Hotel ausziehen, so schnell wie möglich! Ein Strandhaus können wir uns noch nicht leisten, die sind zu teuer, das ist mir klar. Aber ich habe mich bereits umgehört. Eine kleine Wohnung, von mir aus auch zwei Zimmer für den Anfang, dafür dürfte unser Erspartes reichen. Hauptsache wir haben etwas für uns und müssen nicht mehr in diesem unpersönlichen Hotel wohnen.“
„Und wo willst du so schnell etwas Passendes finden?“, fragte Nick, dem deutlich anzusehen war, dass er dieses unliebsame Gespräch so schnell wie möglich beenden wollte.
Selina lächelte plötzlich.
„Du magst ja eine Menge von deiner Klinik und deinen Patienten verstehen, aber die Wohnungssuche kannst du getrost mir überlassen, mein Lieber! Ich finde schon etwas. Morgen habe ich einen Termin bei George Carrington, und danach werde ich mich auf die Suche nach etwas Geeignetem machen. Notfalls gebe ich eine Annonce im SENTINEL Stadtanzeiger auf.“
Nick zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Carrington?“, überlegte er laut. „George Carrington, der Hauptsponsor unserer Klinik? Was willst du denn bei dem?“
Selina hob die Schultern.
„Ich werde vielleicht für ihn arbeiten, als Redakteurin bei seiner Zeitung! Es ist zwar nicht der DAILY MIRROW, aber immerhin.“
„Ich habe dir doch bereits gesagt, von meinem Gehalt als Leiter der Notaufnahme können wir sehr gut beide leben, du brauchst also nicht zu arbeiten!“, wiederholte Nick ärgerlich.
„Ich will es aber“, beharrte Selina hartnäckig. „Verstehst du denn das nicht?“
Nick schüttelte genervt den Kopf.
„Nein, entschuldige, aber das ist mir zu hoch. Andere Frauen...“
„Ich bin aber nicht „andere Frauen!“, schrie sie ihn erbost an, rannte ins Bad und schlug heftig die Tür hinter sich zu.
Nick strich sich wütend über die Stirn.
Da hatte er extra einen freien Nachmittag genommen, weil sie sich ständig beschwerte, dass er so wenig Zeit hätte, und nun das!
Er konnte Selinas Frust einfach nicht verstehen. Kalifornien, das Paradies der Vereinigten Staaten schlechthin! Und seine Verlobte führte sich so auf, als hätte er sie lebenslang auf Alcatraz eingemietet. Nicht zu fassen!
„Ich bin unten in der Bar!“, rief er beleidigt und nahm seine Jacke. „Du kannst ja nachkommen, wenn du dich beruhigt hast!“
„Da kannst du lange warten“, murmelte Selina und begann frustriert, ihr langes Haar zu bürsten. Als draußen die Tür ins Schloss fiel, ließ sie die Bürste sinken und betrachtete ihr Gesicht gedankenverloren im Spiegel.
„Du verstehst nichts von alledem, was ich gesagt habe, Doktor Niklas Stevenson“, sagte sie anklagend. „Dabei müsstest du doch am besten wissen, was ich denke und fühle! Schließlich bin ich deine zukünftige Frau!“
Doch im nächsten Augenblick musste sie sich eingestehen, dass sie gar nicht mehr so sicher war, ob sie das unter den gegebenen Umständen überhaupt noch wollte.
Am Strand
Miguel und Brad, die beiden Rettungssanitäter, hatten heute ihren freien Nachmittag und waren, vom Festgetümmel angelockt, ebenfalls an den Strand gekommen. Ein großes Bier in der Hand schlenderten sie gemeinsam unter dem Pier entlang in Richtung der Plätze, wo die Mannschaftsspiele stattfanden, sahen den Mädels nach und schienen ansonsten recht gelangweilt.
Plötzlich blieb Brad stehen und hielt seinen jungen Kollegen spontan am Arm fest.
„Hey... Wen haben wir denn da? Ist das nicht unser Schutzengel von dem Unfall neulich?“
„Welcher Unfall?“, fragte Miguel begriffsstutzig, doch dann sah er in die Richtung, in die sein Partner wies und nickte zustimmend.
„Aber klar, das ist sie. So eine hübsche Frau vergisst man nicht so schnell.“
„Vielleicht sollten wir mal hinübergehen und sie begrüßen“, meinte Brad und grinste verhalten. Der junge Mexikaner sah ihn zweifelnd an.
„Hältst du das für klug, Mann? Ich denke, sie wollte nicht, dass jemand erfährt...“
„Eben drum, du Idiot!“, knurrte Brad und maß Alli mit wohlgefälligem Blick. „Ich habe mir nämlich überlegt, dass sich aus dem Vorfall vielleicht noch ein wenig Profit schlagen lässt, wenn wir es richtig anfangen.“
Miguel kniff skeptisch die Augen zusammen.
„Was hast du vor?“
Brad strich sich über seine Stirnglatze und verzog das Gesicht zu einem hässlichen Grinsen.
„Lass mich nur machen.“
Zielstrebig ging er hinüber zu Alli und näherte sich ihr zunächst unbemerkt von hinten.
„Hallo Doc!“
Erschrocken fuhr sie herum und starrte die Männer sekundenlang fragend an. Fieberhaft überlegte sie, wo sie die beiden schon einmal gesehen hatte, doch dann fiel es ihr schlagartig ein. Natürlich! Der Unfall auf der Küstenstraße vor zwei Tagen!
„Hi“, sagte sie und lächelte so unverbindlich wie möglich. „In Zivil hätte ich euch fast nicht wiedererkannt. Wie geht’s dem Patienten?“
„Dank Ihrer Hilfe schon viel besser“, erwiderte Brad. „Sie haben wirklich gute Arbeit geleistet, Doc!“ Er bemerkte mit Genugtuung, wie sie tief Luft holte und sich damit anscheinend mühsam zur Ruhe zwang.
„Wir hatten uns doch geeinigt, dass ihr meine Mithilfe nicht erwähnt.“
„Haben wir auch nicht“, platzte Miguel heraus und fing sich daraufhin einen giftigen Blick seines Partners ein. Gleich darauf wandte sich Brad wieder mit einem aufgesetzt liebenswürdigen Lächeln an Alli.
„Nein, haben wir nicht. Allerdings lügen wir nur sehr ungern, Gnädigste, und wenn wir es aus einer Notlage heraus doch tun müssen, dann soll es sich auch lohnen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Alli starrte ihn an und bemerkte den lauernden Ausdruck in seinen Augen. Natürlich verstand sie, sehr gut sogar.
Sie strich ihr Haar zurück und zwang sich zu einem zuckersüßen Lächeln.
„Woran habt ihr denn dabei gedacht, so als kleines... Schweigegeld?“, fragte sie scheinbar ruhig.
Brad registrierte angenehm überrascht, wie schnell sie auf seine Forderung einzugehen schien und wechselte einen kurzen Blick mit seinem Partner, der sich offensichtlich ziemlich unwohl bei der ganzen Sache fühlte.
„Na ja also, um ehrlich zu sein, damit wir weiter den Mund halten...“, begann er umständlich, verstummte jedoch erschrocken, als er die plötzliche Veränderung in Allis Gesicht wahrnahm. Ihr bezauberndes Lächeln verschwand so schnell, wie es erschienen war, und ihre schönen, dunklen Augen blitzten gefährlich auf, bevor sie diese warnend zusammenkniff und scheinbar ohne jede Furcht mit einem Schritt ganz dicht an die beiden herantrat.
„Jetzt hört mir mal verdammt gut zu, ihr Profis“, sagte sie leise, aber sehr eindringlich. „Ihr solltet langsam damit anfangen euch darüber klar zu werden, wer hier wem einen Gefallen getan hat.“ An Brad gewandt fügte sie mit einem kalten Lächeln hinzu: „Ich selbst habe bei der Angelegenheit absolut nichts zu verlieren. Bei Ihnen jedoch sieht die ganze Sache etwas anders aus. Ich frage mich nämlich ernsthaft, was Ihr Vorgesetzter wohl dazu sagen würde, wenn er erfährt, dass ein Unfallopfer fast gestorben wäre, weil Sie einen Anfänger mit zu einem schweren Unfall genommen haben. Ein Anfänger, der ohne Anleitung noch gar nicht arbeiten durfte. Und dann kommt obendrein eine vorsätzliche Lüge hinzu.“ Sie schüttelte gespielt missbilligend den Kopf. „Nun meine Herren, noch irgendwelche Fragen? Oder sind wir uns einig? Ach übrigens, nur um weiteren Missverständnissen vorzubeugen: Nennen Sie mich nie wieder Doc!“
Die beiden Sanitäter blickten einen Moment lang ziemlich verblüfft drein, denn mit dieser Reaktion hatte keiner von ihnen gerechnet. Aber Allis äußerst selbstbewusst dargebrachte Argumente ließen keinen Zweifel daran, dass sie jedes Wort ernst gemeint hatte und mit ihr in dieser Hinsicht nicht zu spaßen war. Brad knirschte wütend mit den Zähnen, während er einen Schritt zurücktrat.
Er wollte noch etwas erwidern, doch jemand kam ihm zuvor.
„Irgendwelche Unstimmigkeiten?“, erklang Jacks Stimme hinter ihnen.
Überrascht drehte sich Alli um und sah ihn eine Sekunde lang erschrocken an, fasste sich jedoch sofort wieder und lächelte unschuldig wie ein Engel.
„Aber nein! Diese beiden netten Herren arbeiten als Rettungssanitäter, und wir haben uns ein wenig über ihre verantwortungsvolle Arbeit unterhalten. Ich habe die größte Hochachtung vor dem, was sie jeden Tag tun. Zu helfen und dazu beizutragen, Menschenleben zu retten, das ist schon etwas ganz Besonderes, findest du nicht auch?“
„Ja sicher“, erwiderte Jack und betrachtete die beiden Männer abschätzend. „Ein harter Job.“
„Also dann.“ Alli warf Miguel und Brad zum Abschied einen Blick zu, der keine Fragen offenließ. „Hat mich gefreut, Sie beide kennenzulernen.“
Sie wandte sich wieder an Jack, bei dem sie sich vertrauensvoll einhakte. „Wo warst du denn so lange? Ich habe dich schon vermisst.“
Jack lächelte zurück, doch sobald die Sanitäter außer Hör- und Sichtweite waren, verschwand dieses Lächeln abrupt aus seinem Gesicht.
Er blieb stehen und blickte Alli abwartend an.
„Was war hier eben wirklich los? Haben die beiden dich belästigt?“
Allis Gesicht verfinsterte sich ebenfalls schlagartig.
„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich meine Angelegenheiten sehr gut selbst regeln kann“, erklärte sie mit Nachdruck und strich mit einer wütenden Handbewegung ihr Haar aus der Stirn. „Das hat bisher wunderbar geklappt, und so wird es auch weiterhin sein. Also spiel gefälligst nicht meinen Beschützer, Jack! Ich will das nicht.“
Er schluckte und überlegte einen Moment lang, ob er sich umdrehen und einfach weggehen sollte, doch er wusste, dass sie ihm mit Sicherheit nicht folgen würde. Also würgte er seinen Frust hinunter und nickte lächelnd.
„Okay, ich hab`s verstanden. Können wir jetzt gehen?“
Sein gegensätzliches Verhalten zeigte Wirkung.
Alli starrte ihn einen Augenblick lang irritiert an, dann jedoch hängte sie sich erneut bei ihm ein und folgte ihm widerspruchslos.
„Wo gehen wir hin?“, fragte sie nach ein paar Schritten.
„Zum Schießstand“, erklärte er, als sei es das natürlichste der Welt, dass er seine Begleiterin dorthin einlud. „Du wolltest mir doch beweisen, dass du besser bist als ich. Jetzt hast du Gelegenheit dazu.“
In Richtung der Felsen war ein Stück des Strandes aus Sicherheitsgründen für die Schützen abgegrenzt, und vor den Steinen waren in etwa dreißig Meter Entfernung Schießscheiben aufgestellt. Einige Besucher des Strandfestes übten sich dort im Pistolenschießen.
Der Veranstalter erklärte Jack und Alli kurz die Handhabung der Kleinkaliberwaffen und reichte ihnen ein paar Schallschutz- Kopfhörer.
Jack beobachtete Alli aus dem Augenwinkel heraus. Sie schien gar nicht hinzuhören, sondern wog die Waffe in ihrer Hand und betrachtete sie prüfend.
„So, wir sind soweit. Legen Sie los, Mister!“ Der Veranstalter trat zurück und gab Jack ein Zeichen.
Der hob die Pistole, zielte kurz und feuerte den ersten Schuss ab. Kurz danach einen zweiten und dritten. Dann ließ er die Waffe sinken und grinste zufrieden.
„Du bist dran“, nickte er Alli zu.
Sie ging in Position, streckte den Arm aus, zielte wesentlich kürzer als er und feuerte die drei Schüsse direkt aufeinanderfolgend ab.
„Einen Moment, Herrschaften.“ Der Veranstalter gab seinem Mitarbeiter ein Zeichen, und dieser kontrollierte die Schießscheiben.
„Der Erste zweimal die Zehn und einmal die Zwölf“, rief er und besah sich die andere Scheibe. Dabei pfiff er anerkennend durch die Zähne.
„Zweimal die Zwölf angerissen und einmal mittenrein!“
Der Veranstalter maß Alli mit einem fassungslosen Blick.
„Zufall, Lady?“
„Kommt auf einen weiteren Versuch an.“ Sie sah zu Jack hinüber. „Bist du dabei?“
Er nickte nur und versuchte sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.
Diese Frau steckte voller Rätsel!
Der zweite Versuch überzeugte ihn und alle Anwesenden schließlich vollends davon, dass Alli Taylor nicht zum ersten Mal eine Waffe in den Händen hielt. In der Mitte der Scheibe klaffte ein großes Loch, das von allen drei Kugeln stammte.
„Lady, das hat heute noch keiner geschafft“, meinte der Veranstalter tief beeindruckt. „Darf ich Ihren Namen an die Spitze meiner Bestenliste setzen?“
Alli reichte ihm lächelnd ihre Pistole.
„Nein, das wäre unfair. Ich bin den anderen gegenüber im Vorteil, denn ich hatte einen ziemlich guten Lehrer. Lassen wir es bitte dabei bewenden. Ich wollte heute nur einem Freund beweisen, dass ich mit einer Waffe umgehen kann.“
„Ja, das kannst du allerdings. Gratuliere“, gab Jack neidlos zu und reichte ihr die Hand. „Du hattest anscheinend wirklich einen sehr guten Lehrer.“
Alli nickte lächelnd.
„Ich hatte den Besten.“
An den bunten Flohmarktständen auf dem Pier blieb Alli mehrmals stehen und betrachtete interessiert die vielfältigen Sachen, die dort angeboten wurden. Am Stand einer alten Indianerin verweilte sie besonders lange.
„Sieh nur, Jack“, rief sie begeistert, „Was für wundervoller Schmuck!“
Doch Jack hatte einen alten Bekannten getroffen, den er wohl lange nicht gesehen hatte. Er stand wenige Schritte entfernt und war ins Gespräch vertieft, so dass Alli genug Zeit hatte, sich die handgearbeiteten Stücke an dem Verkaufsstand in aller Ruhe anzusehen.
Ein Anhänger an einem zarten Silberkettchen fiel ihr besonders auf. Etwas Derartiges hatte sie noch nie gesehen.
Der Anhänger war nicht viel größer als eine Vierteldollarmünze. Der schmale Silberring war mit hauchdünnen Gold- und Silberfäden bespannt, und bei genauerem Hinsehen konnte man in dem Geflecht die Form einer dünnblättrigen Blume erkennen.
Etwas außerhalb des Mittelpunktes war eine winzige blassblaue Perle eingearbeitet, die in ihrem geheimnisvoll wirkenden matten Perlmuttglanz das letzte Sonnenlicht des Tages reflektierte.
Fasziniert hielt Alli das Schmuckstück in ihrer Hand und betrachtete es von allen Seiten.
„Das ist ein Traumfänger“, erklärte die alte Indianerin und nickte ihr lächelnd zu.
Alli blickte erstaunt auf.
„Ein Traumfänger? Was bedeutet das? Fängt er Träume ein?“
Die Indianerin nickte.
„Im Inneren des Traumfängers befindet sich ein perlenförmiger Edelstein, ein Lapislazuli. Er lässt nur die guten Träume durch das magische Netz, die bösen Träume dagegen fängt er ein und hält sie fest, bis die Sonne wieder aufgeht. Trage ihn um den Hals, und beim ersten Sonnenstrahl, der den Traumfänger trifft, lösen sich die bösen Träume auf und haben keine Macht mehr über dich“, erklärte sie weise.
Alli strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über den Anhänger.
„Wenn das so einfach wäre“, sagte sie leise.
Die Indianerin betrachtete sie aufmerksam.
„Es ist wahr, du musst nur fest daran glauben.“
Alli überlegte einen Moment, dann schüttelte sie entschieden den Kopf und legte die Kette zurück.
„Bei mir funktioniert so etwas nicht. Ich befürchte, ich muss auf andere Art mit meinen Albträumen fertigwerden.“ Sie nickte der alten Frau freundlich zu und ging schnell davon.
Ein paar Meter weiter setzte sie sich auf eine der Bänke, um auf Jack zu warten. Sie starrte auf die Wellen, die sich unaufhörlich an den Balken des Piers brachen.
`Ein Traumfänger`, dachte sie und lächelte. Die Indianer waren zu beneiden, sie hatten so unzählig viele wunderschöne Legenden, und ihr Glaube an diese übernatürlichen mystischen Dinge war derart stark, dass er am Ende wahrscheinlich sogar funktionierte.
Jack war unbemerkt hinzugetreten.
„Sie hat vergessen zu sagen, das der Traumfänger nur dann wirkt, wenn man ihn von jemandem geschenkt bekommt, dem man etwas bedeutet“, sagte er und setzte sich neben sie. „Du hast diese schlimmen Albträume, und wir sollten langsam anfangen, etwas dagegen zu tun.“
Sie zog spöttisch die Augenbrauen zusammen.
„Ach ja? Willst du sie auch wegzaubern?“
Anstatt einer Antwort öffnete er wortlos seine Hand. Darin lag die Kette mit dem Traumfänger.
„Ich möchte, dass du sie trägst.“
Alli blickte auf das Schmuckstück und hob dann abwehrend beide Hände.
„Das hättest du nicht tun sollen“, meinte sie vorwurfsvoll. „Ich glaube nicht an Magie, und außerdem...“
„Ja?“, fragte er gespannt.
Verlegen nagte sie an ihrer Unterlippe.
„Na ja, du kennst mich doch kaum. Wie könnte ich dir so viel bedeuten, dass du mir ein solches Geschenk machst!“
Jack sah sie lange an, dann nahm er ihre Hand und legte die Kette mit Nachdruck hinein.
„Wenn du manchmal mehr deinem Gefühl vertrauen würdest als deinem Verstand, Allison Taylor, dann würdest du es wissen.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, stand er auf und ging weiter.
Alli saß da und starrte ihm nach.
Sie fühlte das kühle Metall des Anhängers in ihrer Hand. Mechanisch öffneten sie den Verschluss der Kette. Sie legte das Schmuckstück um ihren Hals und ihre Finger strichen wieder fast beschwörend über den kleinen silbernen Ring mit dem magischen Symbol. Was Jack da eben gesagt hatte, hatte fast wie eine Liebeserklärung geklungen!
Zweifellos empfand er sehr viel mehr für sie als nur Freundschaft oder Sympathie.
Diese Erkenntnis stürzte sie erneut in einen Zwiespalt der Gefühle. Seine Aussage machte sie glücklich, verursachte aber zugleich wahre Panikattacken in ihrem Inneren.
„Hilf mir Jack“, dachte sie mit ebenso viel Verzweiflung wie Sehnsucht. “Hilf mir, endlich wieder ein normales Leben zu führen. Mein Leben!”
Am Strand
Nach dem Streit mit Nick entschloss sich Selina noch einen Strandspaziergang zu unternehmen, um die innere Anspannung loszuwerden, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Die Ruhe, die ihr hier eigentlich so sehr auf die Nerven fiel, würde ihr gerade jetzt gut tun.
Leider wurde aus ihrem Vorhaben nichts, denn als sie die Promenade betrat, hörte sie schon von weitem die fröhliche Musik und das Stimmengewirr, das vom Strand herübertönte.
Neugierig ging sie durch die Dünen hinunter zum Pier und fand sich plötzlich inmitten einer ausgelassenen Beachparty wieder.
Das Strandfest, von dem Jason gesprochen hatte, war heute! Das hatte sie in der Aufregung total vergessen.
Unschlüssig blieb sie stehen. Ihr Verstand warnte sie, das Fest zu besuchen.
Sie würde ihn hier treffen, ganz sicher…
Trotzdem ging sie weiter. Ihr Gefühl schien den Verstand ausgeblendet zu haben, als sie in die bunt gemischte Besuchermenge eintauchte und sich von der fröhlichen Party mitreißen ließ.
Der Tag neigte sich nun dem Ende und die Sonne versank langsam hinter dem Horizont im Meer. Heute zur Feier des Tages schien sie ihr allabendliches Farbenspiel mit besonderer Sorgfalt ausgewählt zu haben, denn der Himmel erstrahlte in allen nur möglichen Schattierungen und war schöner denn je.
Noch immer herrschte am Strand ein reges Treiben. Es war das besondere Flair dieser Sommernacht, das die Leute in Stimmung hielt. Die ganze Zeit über erklangen alte und neue bekannte Hits vom Pier her über den Strand. Einheimische und Urlauber tanzten ausgelassen im weichen Sand direkt am Wasser, während die Wellen ihre Füße umspülten.
Fasziniert blickte sich Selina um. Die gute Laune der Menschen und die heißen Rhythmen wirkten irgendwie ansteckend.
Lächelnd stieg sie die Stufen zum Pier empor und stand plötzlich dem Mann gegenüber, der ihre Gefühle seit ihrer Ankunft hier in Destiny Beach total durcheinanderbrachte...