Unter dem Pier
Jason hatte den eingeklemmten Fuß des verunglückten Jungen endlich aus dem unter Wasser zerborstenen Holz befreit, als ihm Jeff zu Hilfe kam und ihm ein Zeichen gab, dass er ab hier übernehmen würde.
Er war schon ziemlich lange unter Wasser und seine Luft wurde langsam knapp, so dass er bereits ein leichtes Kreislaufproblem verspürte und nun versuchte, möglichst schnell an die Oberfläche zu gelangen. Dabei machte er den fatalen Fehler, nicht nach oben zu sehen, und als er aus dem Wasser auftauchte, um seine Lungen mit Luft zu füllen, stieß er mit dem Kopf an einen der querstehenden Balken des Piers, an dem sich zu allem Unglück auch noch ein Nagel befand, der etwas aus dem Holz herausragte.
Jason spürte nur noch einen heftigen Schmerz über dem linken Ohr, dann schwanden ihm sekundenlang die Sinne...
Dieser unkontrollierte Augenblick reichte jedoch aus, um zu einem Spielball der unberechenbaren Strömung werden zu lassen. Sie erfasste ihn, trieb ihn unter dem Pier hindurch und riss ihn erbarmungslos mit sich in die Tiefe.
Als er wieder zu voller Besinnung kam, hatte er das Gefühl als würde sein Brustkorb in Flammen stehen. Sofort versuchte er, mit aller Kraft gegen die Strömung anzukämpfen, doch seine Arme und Beine erlahmten schnell im Kampf gegen diese mächtigen Naturgewalten. Mit eisernem Überlebenswillen tat er das in dieser Situation einzig Richtige: Er nutzte das aufwärtsströmende Wasser, um damit wieder an die Oberfläche zu gelangen.
Dort angekommen umklammerte er das erstbeste Hindernis, das ihm in den Weg kam, einen der kleineren Stützbalken auf der anderen Seite des Piers. Von da aus konnte er zwar das Rettungsboot nicht mehr sehen, aber er hatte erst einmal einen Halt, bevor ihn die quirlende Strömung erneut mit sich in die Tiefe zu reißen drohte.
Allerdings war der Balken rutschig und voller glitschiger Algen.
Jason spürte, wie seine Hände langsam abglitten. Seine Lungen brannten wie Feuer. Vor seinen Augen tanzten schwarze Schatten, und er hoffte, dass die anderen ihn finden würden, bevor es zu spät war...
Luiccis Taverne
„Jacko Bennetto... Hallo, meine Freund!“ Der kleine rundliche Wirt kam sofort auf Jack zugelaufen und umarmte ihn stürmisch. „Wie geht es dir, alles bene?“ Dann erblickte er Alli, die etwas zögernd an der Eingangstür stehengeblieben war. „Oh, wie kann ich fragen... natürlich es geht dir gut, du alter Gauner, mit so eine wunderscheene Seniorita an deiner Seite... bellissima...“ Er eilte ihr entgegen, fasste ihre Hand und drückte geräuschvoll einen feuchten Kuss darauf. „Willkommen bei Luicci, Seniorita!“
„Allison… Alli“, stellte sie sich lachend vor.
„Ah... bella Allison... fantastico! Kommt mit, nella mia umile dimora! Ihr sollt haben meine beste Tisch!“ Er watschelte eilig voraus und wies auf den Tisch in einer kleinen Nische am Fenster.
„Per favore!“ Galant rückte er Alli den Stuhl zurecht. „Nemmen Sie Platz, bella Seniorita, ich bringen gleich etwas zu trinken!“
Alli sah Jack amüsiert an.
“Das ist also der geheimnisvolle alte Freund?”
„Ja“, nickte er. „Luicci ist in Ordnung. Einer von der Sorte, auf die man sich immer und überall verlassen kann.“
Sie lächelte.
„Das ist gut. Davon gibt es nämlich nicht viele.“
Luicci war schon wieder zurück und hielt eine Glaskaraffe mit leuchtendem Rotwein in der Hand. Gekonnt füllte er drei Gläser, indem er die Karaffe dabei weit nach oben anhob und erst wieder senkte, als die Gläser fast voll waren. Auf diese Art perlte der Wein wie Champagner.
Alli beobachtete den Wirt beeindruckt und überlegte, wieviel sie wohl bei solch einer Aktion von dem edlen Tropfen vergossen hätte.
„Auf euch, meine Bambini, auf die Liebe und das scheene Leben!“, rief Luicci enthusiastisch, hob sein Glas und zwinkerte Jack vertraulich zu. „Und auf amore, auf deine bella Seniorita, amico!“
Sie ließen lachend die Gläser klingen und nahmen einen Schluck.
„Nu… è buono?“, forschte Luicci in Allis Gesicht. „Gute Tropfen, ja?“
„Fantastico!“, erwiderte sie.
Luicci strahlte und zwinkerte Jack dann zu.
„Heute du bekommst keine Basilikum auf deine Essen, bist mit die Motor-Bike über Beet von mia Donna gefahren... grande entusiasmo… sie schimpfen ... wie sagt man... ganz fürchterlich mit arme unschuldige Luicci...“
Jack lachte.
„Oh Mann, tut mir echt leid, aber der Weg war so schmal!“
„Wovon redet ihr beide?“, fragte Alli verständnislos.
Die beiden Männer blinzelten sich verschwörerisch zu.
„Oh, wenn Jacko war vor ein paar Tagen in Venice Beach, er nahm gleich Abkürzung mit seine Pferd durch Taverne und Garten, um schneller bei bella Alli zu sein!“
Er lachte schallend und wechselte dann blitzschnell das Thema. „So, jetzt ich muss wissen - Was wollt ihr essen?“
„Lasagne!“ sagten beide gleichzeitig.
Unter dem Pier
Das Seil erreichte Jason in letzter Sekunde, bevor er endgültig den Halt verlor. Er klammerte sich daran fest und sah für einen kurzen Augenblick zwischen den aufschäumenden Wellen Stevens Gesicht. Dann ging er unter, schluckte Wasser und hatte das Gefühl zu ertrinken. Kurz darauf spürte jedoch zu seiner Erleichterung, wie das Seil sich plötzlich straffte und ihn vorwärts zog. Mit letzter Kraft hielt er die Luft an und ließ sich treiben, bis er wieder oben war. Mühevoll drehte er den Kopf und sah das Rettungsboot vor sich. Sie zogen ihn am Seil heran und halfen ihm hinein. Dort brach er zunächst erschöpft und nach Atem ringend zusammen.
Tom war sofort bei ihm und untersuchte vorsichtig die stark blutende Wunde am Kopf.
„Das muss schnellstens genäht werden“, meinte er fachmännisch und holte zunächst eine Kompresse. „Drück das hier fest drauf!“
„Was… ist mit dem… Jungen?“, fragte Jason, noch immer atemlos.
„Er lebt, es geht ihm den Umständen entsprechend gut, aber er muss in die Klinik“, erwiderte Tom und fügte mit einem bedeutungsvollen Blick hinzu: „Und du wirst dich dort auch gleich verarzten lassen! Keine Widerrede!“
„Schon gut“, knurrte Jason wenig begeistert. „Kümmert euch lieber um die anderen.“
Während Tom das Boot zum Ufer zurücksteuerte, wo bereits zwei Rettungswagen warteten, fiel Jason plötzlich ein, dass Selina mit an Bord war. Suchend sah er sich um.
Sie stand noch immer wie versteinert an derselben Stelle wie vorhin und kam erst jetzt, als ihre Blicke sich trafen, langsam näher. Direkt neben ihm ließ sie sich auf die Knie fallen, hob etwas zögernd die Hand und legte sie sanft auf seine Wange.
„Ich hatte solche Angst um dich“, sagte sie mit zitternder Stimme.
Jason richtete sich auf, sah ihr in die Augen und legte dann beruhigend seine Hand über ihre. Noch immer schweratmend brachte er ein schwaches Grinsen zustande.
„Ich bin… ein ziemlich zäher Brocken… Schreib das mit... in deine Charakteristik!“
Keiner von ihnen wusste, wie es geschah, aber plötzlich lagen sie einander in den Armen, und ihre Lippen fanden sich zu einem leidenschaftlichen Kuss, in dem sich all diese widersprüchlichen Gefühle zu entladen schienen, die sich seit vielen Tagen in ihnen aufgestaut hatten. Sehr zu seinem Leidwesen hinderte Jasons derzeitige Kurzatmigkeit ihn daran, den Kuss weiter zu vertiefen, doch der Augenblick reichte aus, um beide für Sekunden alles um sich herum vergessen zu lassen.
Inzwischen hatte das Boot das Ufer erreicht.
Eine schaulustige Menge machte Platz für die herbeieilenden Rettungssanitäter.
Nur widerwillig gab Jason Selina wieder frei.
„Wir sehen uns später“, flüsterte er ihr zu und sprang auf. Selbst noch wackelig in den Knien und die Kompresse an die Schläfe gepresst, half er den drei unfreiwilligen Passagieren von Bord, während seine Kollegen vorsichtig den wiederbelebten Jungen auf der Vakuummatratze an Land brachten, wo er sofort von den Sanitätern übernommen wurde.
Alles ging schnell und professionell. Die Lifeguards hatten hervorragende Arbeit geleistet und einmal mehr wegen dem Leichtsinn anderer Leute ihr Leben riskiert.
Respektvoll beobachteten die umstehenden Badegäste, wie sie nach dem Einsatz das Boot befestigten und aufräumten. Dann verlief sich die Menge allmählich.
Der Mann im feinen Anzug, der ein Stück entfernt stand und die Rettungsaktion ebenfalls sehr interessiert beobachtet hatte, blieb noch einen Moment länger stehen. Dann drehte er sich abrupt um und ging zurück in Richtung Strandpromenade.
Dr. Niklas Stevenson hatte genug gesehen...
Pacific Coast Highway
Alli hatte ihren Autositz ein wenig nach hinten geklappt und hielt sich stöhnend den Bauch.
„Wie kannst du nach dieser Riesenportion Lasagne eigentlich noch Auto fahren? Ich kann mich nicht mehr bewegen!“
Jack lachte.
„Aber es war lecker, stimmt’s?“
„Oh ja. Und Luicci ist sehr nett. Genauso habe ich mir den Wirt einer italienischen Taverne immer vorgestellt.“
„Schade, dass du Señora Francesca noch nicht kennengelernt hast. Er liebt sie abgöttisch, sie ist so eine typische Italiana Mama, rund und gesund, sie schwingt in Luiccis Familie das Zepter. Alle lieben sie, und haben gleichzeitig einen Heidenrespekt vor ihr. Sie kann sehr temperamentvoll sein.“
Alli nickte verständnisvoll.
„Vor allem, wenn jemand durch ihr Basilikum-Beet fährt.“ Sie richtete sich in ihrem Sitz auf und musterte ihn prüfend von der Seite. „Was war denn da wirklich los, Jack? Wieso fährst du mit dem Motorrad durch Tavernen und Gemüsegärten?“
„Das war doch nur ein Spaß“, versuchte er sich mehr schlecht als recht aus der Affäre zu ziehen und fing sich einen sehr skeptischen Blick ein. „Sozusagen… eine Wette!“
„Ah ja. Und?“
„Und… Was?“
„Hast du sie gewonnen, deine Wette?“
Er atmete sichtlich erleichtert auf.
„Aber klar, was denkst du denn!“
Alli nickte und lehnte sich still lächelnd wieder zurück. Sie glaubte ihm kein Wort, aber sie ahnte, was sich zugetragen hatte. Schon die Sache mit dem Nummernschild hatte sie ihm nicht abgekauft. Vermutlich war er auf Grund ihrer Maschine verfolgt worden, und der Gedanke, dass er vielleicht sein Leben für sie riskiert hatte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Er hatte das Nummernschild wechseln lassen, um sie aus dem Fokus ihrer Verfolger zu nehmen und sie rechnete es ihm hoch an, dass er ihr keine Fragen stellte. Er wusste, sie hatte Geheimnisse, und er akzeptierte es. Dafür liebte sie ihn umso mehr. Irgendwann würde sie ihm alles erzählen, falls sie noch Gelegenheit dazu haben würde.
Sie spürte wie er sie kurz von der Seite musterte.
„Alles klar?“
„Aber sicher. Es war ein schöner Ausflug, Jack. Ich fürchte nur, dass ich wegen Luiccis fantastischer Lasagne morgen meine Jeans nicht mehr zubekomme.“
Im DESTINY NIGHT
Eigentlich hatte Nick Selina überraschen wollen, indem er einen früheren Flug von San Francisco nahm, um den Nachmittag noch mit ihr verbringen zu können. Nun war sie es, die ihn überrascht hatte. Und diese Überraschung war alles andere als angenehm gewesen.
Er war wie vor den Kopf gestoßen.
Wenn er mit allem gerechnet hätte, aber nicht damit, dass er seine Verlobte in einem Rettungsboot vorfinden würde, eng umschlungen mit ihrem gemeinsamen Mitbewohner, der obendrein noch sein Praktikant in der Klinik war.
Zum Teufel nochmal!
Er stürzte den Drink, den Jennifer ihm wortlos hinstellte, hastig mit einem Zug hinunter.
„Das wirst du mir büßen, Jason Stone“, murmelte er grimmig und schob das leere Glas über die Theke. „Noch einen!“
Jennifer warf dem Doktor einen kritischen Blick zu. Sie konnte sich genau erinnern, dass er einmal mit zwei seiner Kollegen aus der Klinik hier gewesen war, und auch daran, dass er an jenem Abend nicht einen Tropfen Alkohol angerührt hatte. Doch heute schien er umso entschlossener, sich sinnlos zu betrinken, und so grimmig, wie er dreinblickte, war mit ihm bestimmt nicht zu spaßen.
„Ärger gehabt, Doc?“, fragte sie vorsichtig, während sie das Glas wieder füllte.
Er hob nicht einmal den Kopf.
„Mm“
Sie nickte verständnisvoll.
„Ärger kommt und geht. Nehmen Sie`s nicht so tragisch.“
„Was wissen Sie schon“, brummte er unhöflich und griff nach dem Glas, doch Jennifer hielt es fest. Erstaunt blickte er hoch, genau in ihre Augen.
„Ich weiß so manches“, sagte sie leise, aber bestimmt. „Und eines weiß ich ganz genau: das, was Sie hier tun wollen, ist keine Lösung! Das bringt Ihnen, rein medizinisch gesehen, höchstens einen ziemlich schweren Kopf ein.“
Nick starrte sie sprachlos an, dann musste er wider Willen über ihre Unverfrorenheit lachen.
„Na toll. Vielleicht sollte ich mir schon mal ein Rezept über Kopfschmerzmittel ausstellen, solange ich noch dazu in der Lage bin!“
„Das ist die eine Möglichkeit“, erwiderte sie ernst und gab endlich das Glas frei. „Die andere wäre, nach diesem Drink aufzuhören und nochmal in Ruhe über alles nachzudenken.“
Er nickte mit einem undefinierbaren Grinsen.
„Nach dem Drink werde ich darüber nachdenken, nochmal über alles nachzudenken. Vielen Dank für den Tipp.“
„Keine Ursache.“
Mit einem vielsagenden Lächeln wandte sich Jennifer dem nächsten Gast zu.
„Hallo Dr. Ling! Feierabend für heute?“
„Ja Jennifer, für heute und vielleicht auch für länger. Meine Vertretungszeit ist leider fast schon wieder vorbei.“
„Oh, wie schade! Können Sie nicht für immer hier bleiben?“
Hellhörig geworden drehte Nick den Kopf und sah neben sich eine zierliche und ausgesprochen gutaussehende junge Asiatin mit langem schwarzem Haar, das ihr seidig glänzend über die schmalen Schultern fiel.
Das war also Dr. Aileen Ling... Seine Vorgängerin und derzeitige Vertretung! Interessiert betrachtete er sie von der Seite.
Sie bemerkte seinen Blick und schien nicht erfreut darüber.
„Irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte sie etwas schnippisch.
Er fühlte sich ertappt. Schnell straffte er die Schultern und grinste etwas unbeholfen.
„Sie sind also die berühmte Dr. Ling?“ Spontan hielt er ihr seine Hand hin. „Freut mich, Sie kennenzulernen, ich bin Dr. Stevenson, der neue Leiter der Notaufnahme und quasi Ihr Nachfolger.“
Aileen, die bemerkte, dass er bereits mit etwas schwerer Zunge sprach, warf Jennifer einen fragenden Blick zu, doch die zog nur bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch.
Zögernd ergriff die junge Ärztin Nicks Hand.
„Ganz meinerseits, Doktor.“
„Niklas! Nennen Sie mich bitte Nick, wir sind doch Kollegen.“
„Okay... Nick. Ich bin Aileen.“
„Darf ich Sie zu einem Abschiedsdrink einladen?“, fragte er so galant, wie das in seinem angetrunkenen Zustand noch möglich war.
Aileen überlegte einen Augenblick und nickte dann.
„Klar, warum nicht.“
Nick gab Jennifer ein Zeichen.
„Bitte noch zwei Drinks für die Frau Doktor und für mich!“
Die Zeit verging plötzlich wie im Fluge. Nach dem Drink hatte Nick seinen Ärger mit Selina fast vergessen, und nach zwei weiteren fühlten Aileen und er sich wie alte Bekannte. Sie diskutierten und fachsimpelten um die Wette und schienen sich prächtig zu amüsieren.
Jennifer schüttelte verständnislos den Kopf, verdrehte die Augen und sah gelangweilt auf die Uhr. Einen pünktlichen Feierabend konnte sie heute vergessen.
Gegen Mitternacht waren die beiden per „Du“. Nick hatte Aileen bereits einen festen Arbeitsplatz in der Klinik angeboten, den sie mit Freuden annahm, ebenso wie seinen spontanen Vorschlag, mit ihm noch die Hotel-Bar im DESTINY INN zu besuchen. Das war ganz bestimmt amüsanter als ihr leeres Hotelzimmer.
Nick zahlte seine und ihre Rechnung inklusive eines mehr als großzügigen Trinkgeldes für Jennifer, legte vertraulich den Arm um Aileens schmale Taille und schwankte mit ihr hinaus. Keine zehn Pferde hätten ihn jetzt in dieses verhasste SUN CENTER gebracht.
Nein, da wollte er nicht wieder hin... Nie wieder!