SUN CENTER
Selina schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch. Draußen dämmerte es bereits.
Sie sprang aus dem Bett und wollte zum Fenster, als sie beinahe über einen Gegenstand gestürzt wäre, der da mitten im Zimmer stand.
Nicks Reisetasche...
Sie hatte sie gestern Abend, als sie nach Hause gekommen war, im Wohnzimmer vorgefunden, doch von ihrem Verlobten fehlte seitdem jede Spur. Bis in die späten Abendstunden hatte sie gewartet, doch er tauchte nicht auf. Auch auf seinem Handy war er nicht zu erreichen, und als sie schließlich sogar in der Klinik anrief, schienen die dort noch nicht einmal zu wissen, dass er überhaupt schon zurück war.
Ein ungutes Gefühl beschlich Selina. Sollte er vielleicht gesehen haben, als sie und Jason...
Oh nein! Unmöglich!
Diesen Gedanken schob entschlossen von sich.
Trotzdem war ihr nicht ganz wohl nach dem, was da gestern geschehen war. Ihre Gefühle hatten sie einfach übermannt, die nervliche Anspannung, die Angst um Jason und diese furchtbaren Momente, als er so endlos lange Zeit unter Wasser verschwunden war. Dann die unbeschreibliche Erleichterung, als er endlich wiederauftauchte, da hatte sie ihn einfach umarmt, und dann...
Sie seufzte sehnsüchtig, als sie daran dachte.
„Was ist nur mit dir los, verdammt?“, schalt sie sich einen Augenblick später und riss mit einem energischen Ruck die Fenster auf. Gierig atmete sie die frische, würzige Seeluft ein und fühlte sich sofort besser. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht.
Nick würde sein Gepäck vorausgeschickt haben und mit der ersten Maschine heute nachkommen.
So einfach war das. Genauso musste es sein.
DESTINY INN
Als Nick die Augen aufschlug, wusste er nicht genau, wo er sich befand.
Ein fremdes Zimmer, ein fremdes Bett...
Stöhnend schloss er die Augen wieder, weil das grelle Tageslicht, das durch das große Terrassenfenster drang, ihn schmerzlich blendete. Sein Kopf dröhnte, und seine Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an. Mühsam versuchte er, seine Gedanken zu ordnen und sich einigermaßen zu orientieren, als er plötzlich eine Bewegung neben sich wahrnahm.
Erschrocken drehte er den Kopf und erstarrte.
Da lag eine unbekannte junge Frau an seiner Seite! Sie schlief und hatte die Bettdecke bis zum Hals hinaufgezogen, so dass nur ihr schwarzglänzendes, langes Haar zu sehen war.
Er starrte fassungslos auf den Kopf in den Laken und wagte sich nicht zu rühren.
Langsam, Stück für Stück kam die Erinnerung. Nein, so unbekannt war ihm die Dame in seinem Bett dann doch nicht. Gestern Abend...
Er hatte Selina gesehen, am Strand, zusammen mit seinem Praktikanten, diesem Jason Stone, und die beiden schienen ziemlich vertraut miteinander zu sein. Ja, eindeutig zu vertraut, denn sie hatten sich in einem Rettungsboot ganz ungeniert in den Armen gelegen und geküsst.
Daraufhin war wütend weggegangen. Er hatte weggehen müssen, denn sonst hätte er diesen Jason an Ort und Stelle glatt erwürgt! Nach seinem Rückzug vom Strand war er schließlich in dieser Bar gelandet und hatte sich, enttäuscht und zutiefst verletzt über das treulose Verhalten seiner Verlobten, aus lauter Frust ein paar Drinks genehmigt.
Dann war sie dort aufgetaucht... Dr. Aileen Ling, seine Vorgängerin und derzeitige Vertretung in der Klinik, eine hinreißende, asiatische Schönheit mit dunklen Mandelaugen zum Dahinschmelzen.
War er dahingeschmolzen?
Er blickte sich wieder ungläubig um. Immerhin lag er hier mit ihr im selben Bett! Und ein vorsichtiger Blick unter die Bettdecke bestätigte seine böse Vorahnung:
Er war tatsächlich splitterfasernackt!
Angestrengt dachte er über die vergangene Nacht nach, doch sein schmerzender Schädel weigerte sich immer noch, alles auf die Reihe zu bringen. Er wusste nur, dass sie beide gemeinsam die Bar irgendwann verlassen hatten und danach in der Hotelbar des Destiny Inn gelandet waren. Aileen erwies sich im Laufe des Abends als eine ausgezeichnete Zuhörerin, und so hatte er ihr von seinem Kummer erzählt, worauf sie ihm später anvertraute, dass auch sie mit Liebeskummer zu kämpfen hatte. Irgendwann, einige Drinks später machte ihnen der Barkeeper recht unmissverständlich klar, dass er jetzt schließen würde.
Und dann?
Ungeachtet der grässlichen Kopfschmerzen setzte sich Nick vorsichtig auf und ließ seinen Blick noch einmal herumwandern. Sie befanden sich in einem Hotelzimmer, soviel war klar.
Aileen Lings Zimmer?
Überall lagen Kleidungsstücke achtlos auf dem Boden verstreut.
Was… war… passiert?
Aileen stöhnte leise und rollte sich herum. Dabei stieß sie an Nick und öffnete schlaftrunken die Augen. Einen Augenblick lang blickten sie sich beide an, dann fuhr Aileen erschrocken hoch und zog die Bettdecke bis zum Kinn.
„Was tust du denn hier?“
„Dasselbe könnte ich dich auch fragen.“ erwiderte er.
Aileen sah sich kurz um.
„Das ist aber mein Zimmer... ähm... Zumindest glaube ich das.“ meinte sie etwas unsicher. Er nickte.
„Wenn du das sagst...“
Sie sahen sich beide an wie zwei Kinder, die man jeden Augenblick bei etwas Verbotenem erwischen könnte.
„Haben wir etwa...“
„Keine Ahnung...“
„Wir waren ziemlich betrunken...“
„Viel zu betrunken...“
Aileen griff sich an die Stirn.
„Oh Gott, mein Kopf fühlt sich an, als wäre ich vor einen Bus gelaufen!“
Nick verdrehte mitfühlend die Augen.
„Geht mir genauso!“
Betreten schwiegen beide.
„Ich... ähm... ich geh dann mal duschen“, murmelte Aileen beschämt und wickelte sich umständlich in ihre Bettdecke, bevor sie unbeholfen ins Bad stolperte.
Sobald sich die Tür hinter ihr schloss, sprang Nick aus dem Bett und suchte eiligst seine Sachen zusammen. In fliegender Eile zog er sich an.
So etwas war ihm in seinem wohlgeordneten Leben noch nie passiert!
Verdammt! Daran war nur Selina schuld! Sie und sein Praktikant, dieser nervige Rettungsschwimmer!
Als Aileen aus dem Bad kam, war Nick bereits vollständig angezogen.
„Darf ich wohl mal dein Bad benutzen?“ fragte er zutiefst verlegen.
„Ja, natürlich... klar“, nickte sie hastig und sah ihm betreten nach, wie er hinter der Tür verschwand. „Fühl dich wie zu Hause“, murmelte sie und fuhr sich nervös mit den Fingern durch ihr Haar. „Meine Güte, ich habe einen totalen Filmriss, was letzte Nacht betrifft. So ein Mist! Daran ist nur Jack schuld! Er... und diese verdammte Fremde!“
SUN CENTER
Jack erwachte, als auf dem Flur draußen eine Tür zuklappte. Er richtete sich blinzelnd auf. Ein Blick auf den Wecker bestätigte ihm, dass es schon ziemlich spät war.
Gestern Abend war er noch einmal in der Firma gewesen, um diese Videoaufnahmen zu überprüfen, die den Mann zeigten, der aus Georges Büro gekommen war. Leider konnte man sein Gesicht nicht so genau erkennen, aber Jack war sich dennoch ziemlich sicher, dass es sich hier um William Raves handelte, jenen als unantastbar geltenden Boss des mächtigsten Drogenkartells der Ostküste. Raves galt als ein äußerst gerissener Fuchs, der die Fahnder und das FBI nach Belieben an der Nase herumführte und ein wahres Netz an Dealern, Zuhältern und Verbrechern aller Art aufgebaut zu haben schien. Irgendwann erfuhr man aus diversen Insiderkreisen, der Drogenring sei aufgrund der Aussage eines geheimnisvollen Kronzeugen gesprengt worden, und Raves sowie seine wichtigsten Leute säßen im Gefängnis, wo ihnen der Prozess gemacht werden sollte. Eigenartigerweise drang davon kaum etwas an die Öffentlichkeit, und es wurde vermutet, das FBI wolle damit vielleicht gewisse Personen schützen. Aber dann, vor ein paar Monaten, gelangte Jack an vertrauliche Informationen, die daraufhin deuteten, dass sich Raves wieder auf freiem Fuß befand. Und was fast noch schlimmer war, er schien seine schmutzigen Geschäfte nun auch auf die Westküste ausbreiten zu wollen. Was auch immer ihn bewogen haben mochte, sich hier niederzulassen, er musste gestoppt werden, bevor er in Kalifornien seine totbringenden Wurzeln schlagen konnte.
Was Jack dabei noch Kopfzerbrechen bereitete, war eine mögliche Verbindung zwischen Alli und Raves. Er hatte ihre Augen gesehen, als sie ihn nach dem Fremden fragte, dem sie in der CEC begegnet war.
Sie hatte Angst.
Und wenn seine Vermutung richtig war, und Alli irgendetwas mit diesem Mann zu tun haben sollte, so musste er schnellstens herausfinden, was es war, um ihr helfen zu können, sonst war sie verloren. William Raves galt als absolut gnadenlos.
Ob Alli wohl noch schlief?
Gestern Abend, als er nach Hause kam, war das Licht in ihrem Zimmer bereits aus gewesen. Aber was sprach dagegen, sie jetzt vielleicht mit einem zärtlichen Kuss aufzuwecken?
Er sprang aus dem Bett, zog seine Jeans an und machte sich im Bad schnell frisch. Noch einmal kurz mit den Fingern durchs Haar... fertig.
Im Haus war alles still.
Leise klopfte er an Allis Tür. Drinnen rührte sich nichts. Sie musste wohl noch sehr fest schlafen. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter. Die Tür war nicht verschlossen.
Er trat ein. Ein kühler Windzug wehte ihm entgegen. Die Vorhänge waren aufgezogen und das Fenster stand einen Spaltbreit offen.
Allis Bett war leer...
Irgendwo in der Nähe von Destiny Beach
Der Morgen war angenehm kühl. Bald aber würde die Sonne ihre heißen Strahlen über die Berge schicken und eins werden mit den sanften Santa Ana- Winden, die dann alles ringsum in die typisch kalifornische Wärme tauchten.
Die beiden Menschen liefen eine Weile stumm nebeneinander die einsame Strandpromenade entlang. Erst als sie ganz sicher waren, dass ihnen hier niemand begegnen würde, nahm der Mann seine dunkle Sonnenbrille ab und wies auf jene versteckte Bank, auf der sie beide schon vor einiger Zeit einmal gesessen hatten.
„Setz dich, Sam.“
Seine Begleiterin kam der Aufforderung nach und sah ihn aufmerksam von der Seite an. Irgendwie schien er verärgert, das spürte sie genau.
„Was ist los, John? Warum dieser Anruf außer der Reihe?”
Er lehnte sich zurück und starrte aufs Meer, das man hier oben über den Klippen sehen konnte.
„Wie gut kennst du Jack Bennett?“
Irritiert strich sie sich durch ihr blondgesträhntes dunkles Haar.
„Warum willst du das wissen?“
Er drehte sich zu ihr und sah ihr in die Augen.
„Bitte beantworte meine Frage: Was weiß er von dir?“
„Nichts. Jedenfalls nichts, was er nicht wissen dürfte. Nur das übliche“, erwiderte sie und lächelte dann etwas versonnen. „Allerdings mag ich ihn sehr, er ist der erste Mann nach Andy, der mir wirklich etwas bedeuten könnte.“
„Vergiss ihn.“ Johns Stimme klang hart und entschlossen. „Du musst so schnell wie möglich weg aus Destiny Beach.“
„Nein!“ Alli fuhr herum und starrte ihn mit eben solcher Entschlossenheit an. „Nein, ich werde nicht gehen. Diese Stadt und die Menschen hier bedeuten mir etwas. Ich fühle mich endlich wieder ein bisschen zu Hause. Nein, John, du kannst alles von mir verlangen, aber nicht das!“
John presste die Lippen aufeinander und schluckte. Dann lehnte er sich wieder zurück und atmete tief durch, als müsse er sich erst einmal beruhigen.
„Hör zu, Sam... Ich weiß inzwischen genau, dass sich Raves hier irgendwo aufhält. Möglicherweise weiß er bereits, wo er dich finden kann. Und dieser Jack hat begonnen, unangenehme Fragen über ihn zu stellen. Er muss etwas ahnen.“
„Das kann nicht sein. Er weiß nichts. Und auch Raves weiß nicht, dass ich hier bin.“
„Wieso bist du dir da so sicher?“
„Weil ich ihm begegnet bin, zufällig, schon zweimal, und er hat mich nicht erkannt.“
John fuhr erneut herum und starrte sie fassungslos an.
„Was?“
Alli nickte heftig.
„Raves macht anscheinend Geschäfte mit dem Firmenpartner von meinem Boss. Dubiose Geschäfte, von denen keiner wissen darf. Und aus diesem Grund ist Jack garantiert hinter ihm her. Er ist David Edwards Freund und zudem der Chef des Sicherheitsdienstes der Firma, und da gehört es zu seinen Aufgaben, jede verdächtige Person zu überwachen. Außerdem misstrauen er und David dem anderen Firmenboss, George Carrington. John...“ Sie sah ihn eindringlich an. „Es ist unmöglich, dass Jack in irgendeiner Weise William Raves mit mir in Verbindung bringt.”
John hatte aufmerksam zugehört und betrachtete Alli nachdenklich. Seine Stimme war weich und fast zärtlich, als er plötzlich leise sagte:
„Am liebsten würde ich dich einfach mit dem nächsten Flieger zurück nach New York schicken oder irgendwohin bringen, wo du vor ihm und seinen Leuten in Sicherheit bist.“
Sie sah ihn ungläubig an.
„Du willst aufgeben? Du willst mich nun endgültig in dieses verdammte Zeugenschutzprogramm stecken, aus dem ich nie wieder zurückkehren kann? Oh nein, da mache ich nicht mit!“
„Es tut mir weh, wenn ich sehe, wie du leidest. Ich will dir helfen, so oder so, ganz egal, ob dienstlich oder privat.“
„John...“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Ich leide doch nicht, zumindest im Augenblick nicht. Im Gegenteil, es ist mir seit langem nicht so gut gegangen wie hier in Destiny Beach.“
`Bei ihm...`, dachte John verbittert und blinzelte, als habe er etwas ins Auge bekommen. Er konnte ihr doch nicht sagen, dass ihn gerade die Tatsache, dass sie sich in diesen Jack Bennett verliebt hatte, fast um den Verstand brachte. Nein, er durfte sich nicht von persönlichen Gefühlen beeinflussen lassen. Zu viel hing von seiner Loyalität ab. Unter anderem Allis Leben. Und ganz nebenbei auch sein eigenes.
„Du bist nicht mehr so vorsichtig wie früher“, sagte er betont hart. „Du bist verliebt und machst Fehler, wirst leichtsinnig. Dein Leben ist in höchster Gefahr. William Raves fackelt nicht lange. Denk an Susan.“
„Hör auf!“ Alli sprang auf und funkelte ihn wütend an. „Glaubst du, das weiß ich nicht? Ich bin vorsichtig!“
„Okay.“ John atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. „Entschuldige. Trotzdem solltest du hier schnellstens verschwinden.“
„Ich bleibe.“
„Samantha!“
„Nein, du wirst mich nicht umstimmen“, erklärte sie fest. „Diesmal nicht. Ich bleibe hier, bis die Sache ausgestanden ist oder...“
John hob die Hand und unterbrach sie mit leiser, eindringlicher Stimme:
„...oder bis wir beide tot sind, Sam.“
SUN CENTER
Selina war gerade dabei, das Frühstücksgeschirr abzuwaschen, als Nick plötzlich in der Tür stand.
„Liebling!“, rief sie in einer merkwürdigen Mischung aus Freude, Erleichterung und schlechtem Gewissen. „Wann bist du denn angekommen?“
Nick trat zögernd näher, und erst als er sich mit einem prüfenden Blick vergewissert hatte, dass sie allein waren, umarmte er seine Verlobte kurz und küsste sie flüchtig auf die Wange.
„Hallo Schatz. Ich hoffe, du hast dir keine Sorgen gemacht.“
„Nun, ein wenig schon“, erwiderte sie etwas erstaunt über die kühle Begrüßung. „Dein Gepäck ist dir ja anscheinend vorausgeeilt.“
Er lächelte säuerlich.
„Ja. Eine Verwechslung während der Abfertigung. Einige Gepäckstücke waren irrtümlich in eine der Frachtmaschinen verladen worden und dadurch etwas eher da.“
„Immerhin“, nickte Selina anerkennend. „Eine tolle Serviceleistung des Flughafens, das Gepäck gleich an seinen Bestimmungsort weiterzuleiten.“
Verlegen wandte Nick sich ab und goss sich eine Tasse Kaffee ein, damit sie nicht sah, wie ihm aufgrund seiner Notlüge das Blut in die Wangen schoss.
„Wie dem auch sei“, plauderte Selina scheinbar unbefangen weiter. „Ich hätte dich natürlich vom Flughafen abgeholt, wenn du angerufen hättest.“
„Mh“, machte Nick und verschluckte sich beinahe an seinem Kaffee. „Das Handy war leer und der Akku in der Reisetasche.“
Somit wäre die Sache erklärt und erledigt gewesen, hätte nicht genau in diesem Augenblick das „leere“ Handy zu läuten begonnen. Erschrocken griff er in seine Jackentasche und bekleckerte sich dabei die Hose mit dem Kaffee.
Selina musterte ihn nachdenklich.
„Anscheinend hat sich dein Handy inzwischen von selbst wieder aufgeladen“, meinte sie trocken und wandte sich dann wieder ihrem Abwasch zu, während Nick nahezu kommentarlos den Anruf entgegennahm.
„Tut mir leid, Selina“, sagte er entschuldigend, als er aufgelegt hatte. „Ich muss in die Klinik. Ein Notfall.“
Es klang fast so, als sei er erleichtert darüber, nicht mehr länger hierbleiben zu müssen.
Selina zog verwundert die Augenbrauen zusammen.
„Ich dachte, die hätten eine Vertretung für dich... diese Ärztin... wie heißt sie doch gleich? Ling... Dr. Ling, Jacks ehemalige Verlobte.“
„Ähm... ja. Die ist nicht da.“ Abermals bekam sie einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Tut mir leid, aber es ist wirklich wichtig.“
„Ja klar, das ist es doch immer“, seufzte sie resigniert. „Geh nur. Aber zieh dich vorher wenigstens noch um. Es sieht merkwürdig aus, wenn der korrekte Dr. Stevenson einen Kaffeefleck auf der Hose hat.“
Er nickte nur wortlos und ging beschämt hinaus. Ihm war absolut nicht wohl dabei, Selina belügen zu müssen, aber er konnte ihr schließlich nicht erzählen, wo und vor allem mit wem er die letzte Nacht verbracht hatte! Außerdem, so tröstete er sich auf dem Weg nach oben, das alles war ja sowieso nur wegen ihr passiert. Warum musste sie sich auch diesem Jason an den Hals werfen!
Das hatte sie nun davon...
Am Strand
Jason hatte seinen dienstfreien Sonntag endlich wieder einmal mit einem ausgiebigen Morgenlauf begonnen. Zu seinem Ärger bekam er recht schnell zu spüren, dass er sein persönliches Fitness-Training in der letzten Zeit etwas vernachlässigt hatte. Nach den ersten Kilometern hechelte er bereits wie ein Anfänger und blieb schließlich stehen, um ein paar Mal tief durchzuatmen. Außerdem schmerzte seine Kopfverletzung, die er sich gestern bei der Rettungsaktion zugezogen hatte. Direkt in der Wunde schien ein kleiner Vorschlaghammer jeden seiner Schritte mitzuzählen.
„Kein Wunder, dass ich den Kopf nicht freikriege“, murmelte er wie zu seiner eigenen Entschuldigung, stützte die Hände auf seine muskulösen Oberschenkel und verharrte einen Moment lang so. Es war zum Verzweifeln, was er auch tat, wo auch immer er sich gerade befand, dachte er an sie, sah ihr hübsches Gesicht vor sich, hörte ihre rauchige Stimme, und sogar der Wind schien heute ihren Namen zu säuseln.
Selina…
„Verdammt Jason“, schalt er sich in Gedanken. „Du bist verliebt wie ein Schuljunge! Du wirst dir Ärger ohne Ende einhandeln.“
Trotzdem spürte er wie zum Trotz schon wieder ihre weichen Lippen auf seinem Mund, er sah ihre Augen und die Erleichterung darin, als er sich nach der Rettungsaktion später im Boot nach ihr umgedreht hatte. Er vermeinte noch immer ihren Körper zu spüren, der sich so warm und weich anfühlte, als sie sich beide für diesen kurzen, aber unvergesslichen Moment in den Armen gehalten hatten.
Jason richtete sich wieder auf, blinzelte in die Sonne und atmete noch einmal tief durch.
„Ich muss herausfinden, was sie wirklich fühlt“, murmelte er. „Und wenn sie das selbe für mich empfindet, wie ich für sie, dann kann sich dieser arrogante Doktor auf was gefasst machen! Dann werde ich um sie kämpfen!“
Entschlossen rannte er wieder los, und diesmal liefen seine Beine wie von selbst.
„Die Liebe verleiht einem Flügel, an diesem Spruch ist wirklich etwas dran“, dachte er und grinste, als er nach einer Stunde im SUN CENTER ankam. Leichtfüßig sprang er die drei Stufen hoch, als plötzlich die Eingangstür schwungvoll von innen geöffnet wurde, und Nick Stevenson heraustrat.
Im nächsten Augenblick standen sie sich gegenüber, die beiden Männer, denen Selina Wood so viel bedeutete.
Während Jason geistesgegenwärtig zurückwich, um nicht die Tür vor den Kopf zu bekommen, begegneten sich ihre Blicke, und spätestens in diesem Moment wussten beide, dass es nie eine Freundschaft zwischen ihnen geben würde.
„Hi Chef“, sagte Jason und rang sich ein schiefes Lächeln ab. „Wieder zurück? Wie war der Kongress?“
Nicks dunkle Augen durchbohrten ihn förmlich, während er hinaustrat.
„Stone“, grüßte er kurz angebunden mit einem flüchtigen Nicken und ging davon.
Jason sah ihm nach.
Ob er etwas ahnte? Oder hatte Selina ihm alles erzählt?
Ganz egal, ihm schwante, dass er die nächste Zeit in der Klinik als Dr. Stevensons Praktikant nicht viel zu lachen haben würde.
SUN CENTER
Selina hatte die Küche aufgeräumt und war nach oben gegangen, um an ihrem neuesten Artikel für den SENTINEL zu schreiben, als plötzlich ein Handy klingelte. An dem Ton erkannte sie sofort, dass es sich dabei um das von Nick handeln musste. Und richtig, dort drüben auf dem Tisch lag es. Er musste es wohl in der Eile vergessen haben. Sie ging hinüber und nahm es zögernd in die Hand.
„Unbekannter Teilnehmer“ stand auf dem erleuchteten Display, während es weiterläutete.
Sollte sie rangehen? Vielleicht handelte es sich ja um einen dringenden Notfall.
Kurzentschlossen drückte sie den grünen Knopf.
„Hallo?“
„Ist dort der Anschluss von Mister Nick Stevenson?“, fragte eine sonore Männerstimme.
„Ja, das ist richtig“, erwiderte Selina gespannt.
„Hier ist das Placa Hotel in San Francisco, Mam`. Ich müsste Mr. Stevenson in einer dringenden Angelegenheit sprechen.“
„Leider ist er im Moment nicht da. Kann ich ihm vielleicht etwas ausrichten?“
„Darf ich fragen, mit wem ich spreche?“, erkundigte sich der Anrufer vorsichtig.
„Oh ja, natürlich. Mein Name ist Selina Wood, ich bin die Verlobte von Mister Stevenson.“
„Nun denn.“ Diese Auskunft schien den Hotelangestellten zufrieden zu stellen. „Es geht um Folgendes, Miss Wood: Ihr Verlobter hat am Samstagmorgen bereits bei uns ausgecheckt, obwohl die Zimmer für die Teilnehmer des medizinischen Kongresses bis Sonntag gebucht waren. Somit hat Mister Stevenson seine Rechnung bis einschließlich Sonntag bezahlt. Da wir aber sein Zimmer gestern sofort wieder vermieten konnten, würden wir ihm den Betrag für den einen Tag gerne zurücküberweisen. Dazu benötigen wir allerdings die Bankverbindung Ihres Verlobten.“
Selina stutzte.
Nick hatte bereits am Samstagmorgen ausgecheckt? Wieso war er dann heute erst angekommen? Sie zog irritiert die Stirn in Falten. Was war hier los?
„Miss Wood, sind Sie noch da?“, fragte die geschäftstüchtige Stimme am anderen Ende der Leitung und riss Selina aus ihren Überlegungen.
„Oh... ja natürlich, ich bin noch da“, erwiderte sie schnell. „Es tut mir leid, aber da kann ich Ihnen momentan auch nicht weiterhelfen. Wenn Sie mir Ihre Nummer hinterlassen, werde ich Mr. Stevenson sagen, dass er Sie umgehend zurückrufen soll.“
„Das wäre ausgesprochen nett von Ihnen“, säuselte der Hotelangestellte liebenswürdig und nannte die Nummer des Placa, die sie hastig auf einen Notizzettel kritzelte.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, trat sie ans Fenster und starrte hinaus.
„Wo bist du letzte Nacht gewesen, Nick?“, murmelte sie in einer Mischung aus Wut und Verunsicherung. „Was zum Teufel geht hier vor?“