Irgendwo in der Nähe von Destiny Beach
John und Alli waren zum Wagen zurückgegangen, den John am Waldrand hatte stehen lassen. Der Agent hatte ein paar wichtige Telefongespräche geführt und seine Einheit auf den neuesten Wissenstand gebracht. Das FBI war William Raves zwar auf der Spur, aber der gerissene Mafiaboss war ihnen irgendwie immer wieder durch die Lappen gegangen. Seine jüngsten Aktivitäten in Destiny Beach waren der Unit allerdings bislang nicht bekannt gewesen. Grund genug, einige Leute hierher zu beordern, um ihn gegebenenfalls bei seinem nächsten Auftauchen zu fassen.
„Raves wird von unseren Leuten gestellt, sobald er wieder einen Fuß in die Stadt setzt.“ John blickte Alli vielsagend an. „Trotzdem wäre es besser, hier zu verschwinden. Zumindest so lange, bis wir den Kerl endlich dingfest gemacht haben.“
Alli schnaufte erbost.
„Ihr seid ihm schon auf den Fersen, seitdem er auf so mysteriöse Weise aus dem Gefängnis entkommen konnte. Er hat euch die ganze Zeit an der Nase herumgeführt. Seine Geschäfte, seine Rachefeldzüge und alles, wofür er hätte lebenslang sitzen sollen, läuft weiter, als wäre nichts geschehen. Morde und Gewalttaten bleiben ungesühnt. Der Mann ist wie ein Geist. Er tut, was er will und läuft frei herum. Wie lange soll ich warten, bis das irgendwann ein Ende hat?“
John konnte nur stumm nicken. Er wusste nur zu gut, dass sie im Grunde recht hatte. Sie jagten auf der Basis des Gesetzes einen Gesetzlosen, der ihnen immer wieder entkam. Eine Schmach für die geschulte Sondereinheit und genau genommen ein Hohn für das gesamte FBI. Raves war skrupellos, gerissen und kannte keine Gnade. Und obwohl einige seiner besten Leute noch immer hinter Gittern schmorten, arbeitete der Rest des Syndikates so gut, dass es Raves nach einer Weile gelungen war, da weiterzumachen, wo man ihn vor Jahren gestoppt hatte. Da, wo Alli ihn gestoppt hatte - mit Mut und Entschlossenheit und unter Einsatz ihres Lebens. Sie war es gewesen, die gegen ihn ausgesagt und ihn und einen Großteil seiner Leute damit ins Gefängnis gebracht hatte. Und nun war sie auf der Flucht und musste schon so lange um ihr Leben fürchten, weil Raves sie verfolgen ließ und ihr rachsüchtig nach dem Leben trachtete.
Das war nicht fair!
John startete den Motor, um Alli zurück zu ihrem Motorrad zu bringen, dass sie kurz hinter der Stadt auf einem verlassenen Waldweg hatte stehen lassen.
„Und ich kann dich wirklich nicht umstimmen?“, fragte er noch einmal nach, obwohl er die Antwort bereits kannte. Wie erwartet schüttelte sie entschlossen den Kopf.
„Nein, das kannst du nicht. Ich bleibe hier. Vorerst zumindest.“
„Also gut.“ Er legte den Gang ein und lenkte den Wagen zurück auf die Straße, während ihm deutlich anzusehen war, dass er sich ihrer Entscheidung nur widerwillig beugte. „Wenn du dich unbedingt auf einen Tanz mit dem Teufel einlassen willst, dann solltest du allerdings gut vorbereitet sein. Wie sieht es mit deinem Training aus? Ich denke, du könntest mal wieder ein paar Einheiten gebrauchen.“
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Was hast du vor?“
„Das Polizei- Trainingszentrum in Santa Monica ist wirklich gut. Ich trainiere zurzeit öfter dort. Sie halten mich für einen Bullen aus L.A. Ich könnte dich als meine Kollegin vorstellen.“
„Gibt es da auch einen Schießplatz?“
„Alles was du willst.“
„Na dann los! Ich werde dir beweisen, wer von uns beiden Trainingseinheiten nötig hat!“
Medical Center
Nick Stevenson zog die Einweg-Handschuhe aus und warf sie im Vorübergehen in den Abfallbehälter an der Tür, während er schnellen Schrittes den OP verließ und den Ruheraum ansteuerte.
„Rufen Sie mich, wenn die Patientin wieder bei vollem Bewusstsein ist“, befahl er einer der anwesenden Schwestern. „Ich habe rasende Kopfschmerzen und möchte ein paar Minuten ungestört sein.“
„In Ordnung Doktor.“
Er betrat den abgedunkelten Raum und schloss mit Nachdruck die Tür hinter sich. Frischer Kaffeeduft stieg ihm in die Nase, und er ließ in Gedanken die unbekannte gute Seele hochleben, die daran gedacht hatte, dass ein abgespannter Arzt nie genug von diesem würzigen Gebräu bekommen konnte. Aufseufzend ließ er sich in den Sessel fallen, legte die Beine auf den Tisch und trank seinen heißen, schwarzen Kaffee in kleinen Schlucken. Seine Gedanken wanderten zu der jungen Patientin, wegen der er hergerufen worden war, und die ihm mit Sicherheit ihr Leben verdankte, dass er ihr in den letzten Stunden in mühsamer Kleinarbeit wiedergeschenkt hatte. Siebzehn Jahre jung war sie und bereit, für eine unglückliche Liebe zu sterben. Weil ihr Freund sie angeblich mit einer anderen betrog, hatte sie eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt, die sie mit mindestens einer halben Flasche Whisky hinunterspülte, während sie es sich auf dem Fenstersims der elterlichen Wohnung im zweiten Stockwerk gemütlich gemacht hatte. Als dann die betäubende Wirkung des Medizin- und Alkoholgemisches einsetzte, dauerte es nicht lange und die lebensmüde junge Frau war aus dem Fenster in die Tiefe gestürzt. Dabei musste sie wohl eine ganze Armee von Schutzengeln gehabt haben, denn sie war unten in einem Busch gelandet, der ihren Aufprall gebremst und ihr ein paar gebrochene Rippen, Prellungen und eine offene Fraktur am linken Oberschenkel eingebracht hatte.
Der Fahrer eines zufällig vorbeifahrenden Notarztwagens war glücklicherweise Augenzeuge der Aktion gewesen und hatte das Mädchen sofort in die Klinik gebracht, wo man ihr als Erstes den Magen auspumpte, bevor die starken Medikamente ihre volle Wirkung entfalteten und ihr Herz-Kreislaufsystem völlig zum Erliegen brachten.
Die entsetzte Mutter des Teenagers war inzwischen auch eingetroffen und heulte sich draußen auf dem Flur fassungslos die Augen aus. Und zur Krönung der ganzen Tragödie tauchte vor ein paar Minuten auch noch der vermeintlich untreue Freund des Mädchens auf und erklärte, alles sei doch lediglich ein dummer Irrtum gewesen. Daraufhin war die Mutter hysterisch kreischend auf ihn losgegangen, und nur dem schnellen Eingreifen des Sicherheitspersonals war es zu verdanken, dass Nick nicht noch mehr Arbeit bekommen hatte.
Eine verrückte Welt.
Das Mädchen würde es überleben, aber die Schmerzen, sowie die Narben an Körper und Seele würden sie sicher noch sehr lange Zeit an ihre eigene Dummheit erinnern.
„Hey, du siehst müde aus“, riss ihn eine sanfte Stimme aus seinen Gedanken. Er hatte niemanden hereinkommen gehört und fuhr erschrocken herum. Aileen Ling stand in der Tür, die Hände in den Taschen ihres Arztkittels vergraben und musterte ihn mit ihren dunklen Mandelaugen interessiert. „Haben sie dir den Sonntag verdorben?“
„Nein, daran ist nun wirklich nichts mehr zu verderben. Der ist sowieso schon mehr als chaotisch“, erwiderte er unwillig und stellte die leere Kaffeetasse auf den Tisch zurück. Sie trat hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern.
„Dann sollten wir unbedingt etwas dagegen tun“, meinte sie und begann ihn sanft, aber wirkungsvoll zu massieren. Zuerst wollte er protestieren, doch dann spürte er zu seiner Verwunderung, wie er sich zu entspannen begann. Ein wohltuendes Kribbeln zog sich durch sein Genick bis hinauf in den Kopf und bekämpfte äußerst erfolgreich seinen bohrenden Kopfschmerz. Er schloss die Augen und stöhnte leise.
„Das kannst du aber wirklich gut.“
Aileen lächelte.
„Ich stamme aus Asien, schon vergessen? Bei uns zu Hause bekommt man diese Gabe in die Wiege gelegt.“
„Beneidenswert“, murmelte Nick und gab sich willig ihren begnadeten Händen hin. Nach einer Weile beendete sie die Massage und setzte sich vor ihm auf den Schreibtischrand.
„Ich habe nachgedacht“, sagte sie unumwunden und sah ihn herausfordernd an. „Der Zufall hat uns zusammengeführt, und wir sollten das Beste daraus machen.“
„Wie meinst du das, Aileen?“, fragte er misstrauisch.
Da war es wieder, dieses geheimnisvolle asiatische Lächeln, von dem man nie genau wusste, was es zu bedeuten hatte.
„Du bist unglücklich verliebt und ich bin es auch.“
„Ja, und?“
„Nun, du hast mir ein gutes, berufliches Angebot gemacht, und ich habe daraufhin beschlossen, noch etwas länger in Destiny Beach zu bleiben. Vielleicht sollten wir diesen Umstand nutzen und überlegen, wie wir gemeinsam etwas gegen unseren Herzschmerz tun können.“
„Und wie stellst du dir das vor?“
„Das weiß ich auch noch nicht so genau, mein Lieber. Aber zwei sind besser als einer, und ich denke, uns wird garantiert etwas einfallen.“
Kurz vor Destiny Beach
Die Sonne war fast untergegangen, und es dämmerte bereits, als Alli stadteinwärts fuhr. Jeder Knochen tat ihr weh, nachdem sie mit John in diesem Trainingszentrum gewesen war. Aber sie hatte sich tapfer geschlagen und es ihrem Gegner weder auf dem Schießstand noch im Nahkampf leichtgemacht. Dass John am Ende gewonnen hatte, war nach ihrer Meinung nur dem Umstand zu verdanken, dass er einfach öfter trainierte als sie. Aber sie war dennoch mit sich zufrieden. Auf jeden Fall würde sie sich zu wehren wissen, wenn irgendwer sie angreifen sollte. Trotzdem nahm sie sich vor, in den nächsten Tagen besser nicht im Bikini an den Strand zu gehen, denn die zahlreichen blauen Flecke an ihrem Körper würden sicher nicht zu übersehen sein. Und sollten sie und Jack einander nahekommen, dann möglichst im Dunkeln.
Oder sie sagte ihm einfach, dass sie den ganzen Nachmittag über im Fitness-Studio an ihrer Kondition gearbeitet hatte. Warum sollte sie ihn anlügen? Sie hatte die ewigen Notlügen sowieso reichlich satt. Und bei dieser Gelegenheit kam ihr auch gleich eine tolle Idee, auf welche Weise sie gemeinsam mit Jack den Abend gestalten und zugleich ihrem schmerzenden Körper etwas Gutes tun konnte.
Alli lächelte und ihr wurde ganz heiß bei dem Gedanken, doch schon die nächste Straßenunebenheit ließ sie erneut schmerzlich das Gesicht verziehen. Ein bestimmter Körperteil tat ihr ganz besonders weh, nachdem sie ein paar Mal mit aller Härte darauf gelandet war. Nicht umsonst war sie auf dem Feldweg, von dem sie vorhin mit ihrem Motorrad gestartet war, konsequent jeder Bodenwelle ausgewichen. John war nicht begeistert, dass sie in Destiny Beach bleiben wollte, aber er hatte sie nicht mehr umstimmen können. Zugegeben, wenn Raves sich wirklich hier aufhielt, war das lebensgefährlich für sie. Gegen eine gezielte Kugel half auch kein Nahkampf-Training, dessen war sie sich bewusst. Aber andererseits war sie es inzwischen leid, immer wieder aufs Neue davonzulaufen. Ihr Leben hatte in letzter Zeit nur noch aus Flucht und Angst bestanden. Das konnte nicht so weitergehen. Das Zeugenschutzprogramm kam für sie nicht in Frage, denn sie war nach wie vor nicht bereit, ihr altes Leben für immer aufzugeben. Also würde sie sich endlich ihrem Schicksal stellen müssen. Wenn es wirklich soweit kommen sollte, das alles zu Ende war, dann hier, an dem Ort, wo sie seit Monaten der quälenden Einsamkeit endlich wieder ein bisschen glücklich war. Hier in Destiny Beach, bei Jack. Sie setzte den Blinker und lenkte die schwere Maschine in Richtung der Ocean Avenue.
`Nein`, dachte sie voller Überzeugung. `Ich werde nicht sterben. Ich muss nur ganz einfach schneller sein als Raves und seine Leute, schneller und besser. Schließlich habe ich ihn schon einmal besiegt, und es wird mir wieder gelingen. Nur diesmal sollte es endgültig sein!`
SUN CENTER
„Wo warst du letzte Nacht?“
Die Frage ließ Nick erstarren. Die ganze Zeit über war Selina ziemlich einsilbig gewesen. Seitdem er aus der Klinik zurückgekehrt war, hatte sie keine drei zusammenhängenden Sätze mit ihm gewechselt.
Und nun das!
„Was meinst du?“, fragte er unsicher, doch sie schnaufte nur verächtlich.
„Tu bloß nicht so scheinheilig! Oder willst du mir weismachen, dein Flieger hat von San Francisco bis hierher mehr als zwölf Stunden gebraucht? Bist du etwa über Paris nach Hause geflogen, oder was?“
Seine Gedanken überschlugen sich. Wusste Selina am Ende von seiner Nacht mit Aileen Ling im DESTINY INN? Nein, unmöglich! Ihre Frage musste einen anderen Grund haben. Er entschloss sich, zunächst erst einmal den Unschuldigen zu spielen.
„Könntest du mir bitte sagen, wovon du sprichst?“, fragte er und gab seiner Stimme absichtlich einen leicht ungehaltenen Klang. Selina sah ihn mit zusammengekniffenen Augen kampflustig an.
„Ich spreche davon, dass du im Placa Hotel bereits Samstagmorgen ausgecheckt hast. Hier“, sie reichte ihm den Zettel mit der Telefonnummer. „Du sollst dort anrufen, damit sie dir dein Geld für die letzte Übernachtung, die du nicht in Anspruch genommen hast, zurücküberweisen können. Ist doch äußerst großzügig, findest du nicht auch?“
Nick starrte auf den Zettel und fluchte innerlich. Na ganz toll! Andere gingen jahrelang fremd und wurden nicht erwischt, und er ließ sich ein einziges Mal zu einer Dummheit hinreißen, und sofort kam irgend so ein dämlicher Anruf, und seine Verlobte begann kompromittierende Fragen zu stellen! Da er sowieso schon wütend war, beschloss er, in die Offensive zu gehen, anstatt sich lange zu verteidigen.
„Du glaubst also allen Ernstes, ich hätte die Nacht mit einer Frau verbracht?“
„Das habe ich nicht gesagt, Nick“, erwiderte Selina ungehalten. „Aber was würdest du denn an meiner Stelle denken, wenn du erfährst, dass der Mensch, dem man vertraut, einfach eine Nacht lang verschwindet?“
Er nickte mit verkniffenem Gesicht und funkelte sie herausfordernd an.
„Wo wir gerade dabei sind, Selina, was würdest du wiederum an meiner Stelle empfinden, wenn du dich beeilst, vorzeitig nach Hause zu kommen, weil dich die Sehnsucht nach dem geliebten Menschen verzehrt, und dann siehst du deine Verlobte in den Armen eines anderen?“ Er sah wie sie erblasste. „Tja, genauso war es. Ich komme nach Hause und erfahre, dass du entgegen meiner Bitte einen Job angenommen hast, und dass dein neuer Arbeitgeber obendrein auch noch verlangt, dass du dich tagelang bei einer Truppe von halbnackten Lifeguards aufhältst! Na gut, das hätte ich ja noch ertragen, aber dann stehe ich am Strand und muss mit ansehen, wie du vor allen Leuten ungeniert mit diesem... diesem Jason Stone herumknutschst!“
Für einen Augenblick wurden Selinas Knie weich. Er hatte also alles gesehen! Er war beleidigt und absolut sauer!
„Das war doch alles ganz anders“, versuchte sie sich zu verteidigen. „Jason wäre bei dem Einsatz beinahe ums Leben gekommen und wir waren alle froh, dass er am Ende heil und gesund war.“
„Mag sein, dass alle froh darüber waren“, warf Nick spöttisch ein. „Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du ihn geküsst hast, und zwar als Einzige!“
„Ich sage doch, das war ein rein freundschaftlicher Kuss, nicht mehr und nicht weniger.“
„Das sah alles andere als freundschaftlich aus!“
Selina war zwar verunsichert, aber dennoch nicht bereit, sich von ihm in die Enge treiben und von dem eigentlichen Problem ablenken zu lassen. Also entschied sie sich stattdessen erneut für den Angriff.
„Versuch jetzt gefälligst nicht, das Thema zu wechseln! Ich weiß nämlich noch immer nicht, wo du letzte Nacht gewesen bist!“
Nick brauchte drei Schritte bis zum Kleiderschrank. Wütend zog er zwei Hemden vom Bügel und warf sie über die Reisetasche, die noch immer fertig gepackt mitten im Raum stand.
„Ich war im Hotel. Und dort wirst du mich auch die kommenden Nächte finden!“ Er nahm die Tasche und ging zur Tür. „Und noch was, Selina... falls du irgendwann zur Vernunft kommst, dann kannst du dich gerne bei mir melden. Aber erwarte nicht, dass ich dieses... dieses Gemeinschaftshaus jemals wieder betrete!“
„Niklas!“, schrie sie ihn erbost an. „“Was soll denn dieser Unsinn? Komm zurück!“
Bereits an der Tür, drehte er sich noch einmal um und lachte verbittert. „Ich wollte nie hierher ziehen. Jetzt weiß ich auch, warum.“ Er sah sie fast bedauernd an. „Wir beide gehören zusammen, Baby, das weißt du so gut wie ich. Aber das wird erst wieder funktionieren, wenn du diesen lächerlichen Job aufgibst und den Rettungsschwimmer ebenfalls. Du weißt, wo du mich findest, falls du irgendwann wieder zur Vernunft kommen solltest. Ich wohne im DESTINY INN.“
Selina stand da und starrte fassungslos auf die Tür, lange nachdem Nick sie geräuschvoll hinter sich geschlossen hatte.
SUN CENTER
Alli stellte den Motor ihrer Honda kurz vor der großen Doppelgarage ab und ließ sich, da das automatische Tor offenstand, langsam hineinrollen. Aufmerksam sah sie sich um. Drinnen schraubte Jack an seinem Bike herum. Als er Alli bemerkte, stand er auf und wischte sich die Hände am Hosenboden seiner alten Jeans ab. Während sie ihrer Blessuren wegen betont langsam von ihrer Maschine stieg, ließ er sie nicht aus den Augen. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie unter diesem Blick und ihre Herzfrequenz erhöhte sich sofort spürbar. Jack sah schmutzig und verschwitzt aus, aber in diesem Moment fand sie ihn attraktiver und heißer denn je und verspürte plötzlich den unbändigen Wunsch, ihm nah zu sein und sich in seiner Umarmung zu verlieren.
„Hey, alles okay?“, erkundigte er sich entgegen seines festen Vorsatzes, ihr keine neugierigen Fragen zu stellen. „Ich habe mir Sorgen gemacht.“
Sie nahm den Helm ab, legte ihn auf den Sitz ihrer Honda und drehte sich langsam zu ihm um.
„Fitness für fortgeschrittene Faulpelze. Ab und zu brauche ich das, um den Kopf frei zu bekommen. Dann tobe ich mich im Fitnessstudio aus. Allerdings...“ Sie rieb sich mit schmerzlich verzogenem Gesicht ihr Hinterteil. „Es scheint fast zu viel für einen Tag gewesen zu sein. Mir tut jeder einzelne Knochen weh.“
„Hättest du mir verraten, was du vorhattest, wäre ich mitgekommen“, erwiderte Jack und legte den Schraubenschlüssel weg. „Ein bisschen Bewegung dieser Art täte mir auch mal wieder ganz gut.“
„Beim nächsten Mal“, hörte sich Alli zu ihrer eigenen Überraschung sagen. „Ich nehme dich beim Wort“, nickte Jack, während er lächelnd auf sie zukam und zärtlich ihre Schultern umfasste. „Sag einfach wo und wann und ich bin dabei.“
Statt einer Antwort schlang sie spontan die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Für einen Augenblick war er überrascht, doch dann erwiderte er ihren Kuss hungrig und voller Leidenschaft. Ihre Zungen begannen einen wilden, sinnlichen Tanz, von dem Alli ganz schwindlig wurde. Ihre Knie fingen an zu zittern, und ihr Herz klopfte wie ein Vorschlaghammer in ihrer Brust. Während sie sich dem überwältigenden Taumel hingab, der dieser Kuss in ihr auslöste, dachte sie einen Bruchteil der Sekunde daran zurück, was sie John noch vor ein paar Stunden gesagt hatte. Nein, sie würde nicht weggehen, sie gehörte ganz einfach hierher, ins SUN CENTER, zu Jack! Sie empfand nach dieser Entscheidung Erleichterung, tiefe Zufriedenheit und irgendwie auch Freude. Plötzlich hatte ihr rastloses Leben wieder einen Sinn. Sie war von Menschen umgeben, die sie gernhatten und sie hatte sich neu verliebt. Sie fühlte sich leicht und unendlich glücklich, und all diese euphorischen Gefühle entluden sich in diesem einen leidenschaftlichen Kuss. Ein wahres Feuerwerk der Gefühle schien sie zu überwältigen und die Spannungen des Tages waren augenblicklich vergessen.
„Wow... wofür war das?“ fragte Jack, als sie sich schließlich schweratmend voneinander lösten. Alli sah ihn an und hatte dieses geheimnisvolle Lächeln auf dem Gesicht, das ihn von Anfang an völlig in seinen Bann gezogen hatte. Da war auch wieder dieser besondere Ausdruck in ihren Augen, der ihn auf eine seltsame Art gefangen nahm, wann immer sich ihre Blicke begegneten. „Das war einfach dafür, dass du für mich da bist“, sagte sie leise. „Dafür, dass du mir nicht böse bist, wenn ich dir manchmal deine Fragen nicht beantworte, und dafür, dass ich nach einer langen einsamen Zeit ein Zuhause gefunden habe. Hier bei dir. Na ja, wenigstens vorläufig“, fügte sie hastig hinzu, als sie das Aufleuchten in seinen Augen sah. Sie hob die Hand und berührte zärtlich mit ihren Fingerspitzen seine Lippen. „Ich werde jetzt schnell duschen und vielleicht eine Kleinigkeit essen. Sehen wir uns noch, wenn du irgendwann hier fertig bist?“
Er zwinkerte ihr lächelnd zu.
„Das hoffe ich doch.“
Sie zwinkerte zurück.
„Meine Zimmertür wird nicht verschlossen sein.“
Er sah ihr nach, wie sie die Garage verließ und ins Haus ging. In seinem Bauch schienen tausend Schmetterlinge zu tanzen. Zu Hause. Sie hatte wirklich „Zu Hause“ gesagt!
„Jjiiaaa!“ Übermütig packte er den Schraubenschlüssel, warf ihn in die Luft, fing ihn geschickt wieder auf und machte sich daran, seine Arbeit so schnell wie möglich zu beenden.
Am Strand
Er war weg. Er war einfach gegangen!
In Selinas Kopf wirbelten die Gedanken wie wild herum. Nick hatte das SUN CENTER verlassen, er hatte sie verlassen! Einfach so, nur weil er eine Situation total falsch deutete!
`Er hat die Situation nicht falsch gedeutet!`, flüsterte eine kleine boshafte Stimme in ihrem Kopf. `Was du getan hast, war eindeutig!`
„Er hat mir nicht einmal die kleinste Chance gegeben, die Sache zu erklären und mich zu rechtfertigen“, knurrte Selina wie zu ihrer eigenen Verteidigung, doch das brachte ihr schlechtes Gewissen nicht zum Schweigen.
`Was gibt es denn da zu erklären? Ihr habt euch geküsst, und das war alles andere als ein freundschaftlicher Kuss!`
Ja, genau das war es gewesen, alles andere als ein freundschaftlicher Kuss. Frustriert lief Selina hinunter zum Strand, der um diese Zeit menschenleer vor ihr lag.
„Verdammt!“, rief sie in das laute Rauschen der Wellen, überzeugt davon, dass sie hier sowieso niemand hören konnte. Oh Gott, sie war so furchtbar wütend! Auf ihn, auf sich selbst, auf den Rest der Welt. Seitdem sie hier waren, lief zwischen Nick und ihr wirklich alles schief. Aber sie würde ihm nicht nachlaufen, auf keinen Fall! Schließlich war er es, der sie zu Unrecht verdächtigte und einfach gegangen war. Wenn er erst einmal in Ruhe darüber nachdenken würde, dann... Sie stutzte. Eigentlich hatte er bereits in Ruhe darüber nachgedacht! Eine ganze verdammte Nacht lang! Eine neue Welle der Hilflosigkeit überschwemmte sie und gab ihr das Gefühl, als ob sie gleich platzen müsse. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so ohnmächtige Wut gespürt zu haben. Alles kam zusammen, die Frustration über Nicks Verhalten, der Umzug, ihre eigene Einsamkeit, der neue Job, Jason...
Der Gedanke an ihn machte alles nur noch schlimmer. Sie war sich einfach nicht im Klaren darüber, was sie für ihn empfand. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen und gleichzeitig versuchte sie verzweifelt, die Distanz zwischen ihnen zu wahren, was nicht einfach war, denn schließlich wohnten sie zusammen, Tür an Tür, nur durch eine Wand getrennt.
Selina starrte aufs Meer hinaus, das sich in der hereinbrechenden Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch auf und niederbauschte, während die Brandung endlos weiß schimmernde Schaumkronen daraus hervorzauberte und ans Ufer trieb. Sie rieb sich mit den Fingerspitzen die schmerzenden Schläfen und wünschte sich, sie könnte sich in die Fluten stürzen und schwimmen. Solange, bis sie erschöpft und ihre Wut restlos verraucht war. Was sprach eigentlich dagegen? Sie war hier ganz allein, kein Mensch weit und breit zu sehen!
Kurzentschlossen zog sie ihre Schuhe, die Jeans und den Pulli aus und lief zum Wasser, das angenehm kühl ihre Füße umspülte.
„Los Selina, kühl dein Gemüt ab“, sagte sie zu sich selbst und watete, nur mit Slip und BH bekleidet, entschlossen den Wellen entgegen.
War das herrlich!
Sie begann zu schwimmen, weiter, immer weiter, ließ sich ein Stück treiben und von den Wellen schaukeln und machte wieder ein paar kräftige Züge. Oh ja, das half wirklich, sich zu entspannen!
Sie schloss die Augen für einen Moment, als sie plötzlich spürte, wie sie mit eisernem Griff gepackt und hochgehoben wurde...
SUN CENTER
Jack hatte so schnell wie nur möglich seine Arbeit in der Garage beendet und war nach oben geeilt, um zu duschen und sich umzuziehen. Von seinen Mitbewohnern schien keiner im Haus zu sein, was bedeutete, dass er momentan mit Alli allein war.
Allein...
Was hatte sie vorhin gesagt? Ihre Zimmertür würde nicht verschlossen sein? In Erinnerung an dieses verheißungsvolle Versprechen lächelte er und konnte der Versuchung nicht widerstehen, bereits im Vorübergehen an ihre Tür zu klopfen. Drinnen blieb jedoch alles still, und als er vorsichtig die Klinke herunterdrückte, musste er leider feststellen, dass ihr Zimmer doch verschlossen war.
`Schade...`dachte er und trottete enttäuscht in sein eigenes Reich. Er schaltete das Licht ein, als sein Blick auf den Zettel fiel, den jemand unter der Tür durchgeschoben hatte.
„Wie wäre es mit einem heißen Bad? Das entspannt und wirkt Wunder!“ stand in zierlicher Handschrift darauf.
Ein breites Grinsen zog über Jacks Gesicht, während er sich in fliegender Eile seiner Sachen entledigte, ein Handtuch aus dem Schrank zog und um seine Hüften schlang. Wenig später stand er vor der Badezimmertür, an der gut sichtbar das Schild „Bitte nicht stören“ hing. Langsam und erwartungsvoll öffnete er die Tür.
Für einen kurzen Augenblick glaubte er zu träumen. Das erste, was er wahrnahm, war dieser wunderbar zarte Duft nach Jasmin und wilden Orchideen, der ihm in die Nase stieg. Überall auf dem Boden verteilt leuchteten Kerzen, deren romantischer Schein den Raum in ein geheimnisvolles Licht tauchte und von dem glitzernden Seifenschaum reflektiert wurde, der sich reichlich in der mit dampfendem Wasser gefüllten Badewanne türmte. Mitten aus dem Seifenschaum heraus blickte Alli ihm entgegen. Ihre Augen glänzten erwartungsvoll im Schein der Kerzen, und ihr Lächeln war die pure Versuchung, als sie leise sagte:
„Komm schon, schöner Mann, schließ die Tür und nimm dein heißes Bad!“
„Nichts lieber als das“, erwiderte Jack heiser vor Verlangen, drehte den Schlüssel und stand Sekunden später vor der Wanne. Wortlos beugte er sich zu ihr herunter, nahm ihr Gesicht zärtlich zwischen seine Hände und küsste sie wie vorhin in der Garage, wild, hemmungslos und voller Begierde. Wohlig aufstöhnend schlang sie die Arme um seinen Hals und zog ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich in die Fluten. Ein Schwall Wasser ergoss sich über den Rand der Badewanne, doch das störte die beiden nicht im Geringsten. Haltlos tauchten sie unter, in einem Sturm von Gefühlen und gaben sich der ungezügelten Leidenschaft hin, die heißer war, als ein Schaumbad je zu sein vermochte...