SUN CENTER
Jason wusste nichts mit diesem Abend anzufangen. Jack und Alli waren nicht da, und Tom arbeitete heute im Spätdienst in der Strandaufsicht.
Missmutig ließ er sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen und angelte nach der Fernbedienung auf dem Tisch. Dabei fielen die Illustrierten, die dort herumlagen, herunter.
Knurrend bückte er sich um sie aufzuheben, als er plötzlich einen Schreibblock dazwischen entdeckte. „Notizen“ stand auf dem Deckblatt, und darunter Selinas Name.
Jason wollte den Block schon unbeachtet zurücklegen, doch seine Neugier war stärker. Also warf er vorsichtig einen Blick hinein. Als erstes fiel ihm ihre zierliche, ebenmäßige Schrift auf, dann las er die erste Zeile.
„Die Lifeguards von Destiny Beach“ – Bericht für den SENTINEL“
Er schluckte und kämpfte mit sich selbst. Nein, er sollte sich das wirklich nicht ansehen. Das war ja, als würde er Selina nachspionieren.
Doch bereits nach dem ersten Absatz vergaß er seine Skrupel und verschlang begehrlich jede Zeile. Erst als er alles gelesen hatte, blickte er auf und holte tief Luft.
„Wow!“
Beeindruckt lehnte er sich zurück. So hatte sie also die erste Begegnung mit ihm empfunden? Sie beschrieb seinen Einsatz voller ehrlichem Interesse und größter Hochachtung vor seiner Arbeit.
Jason schluckte.
In diesem Augenblick begriff er, dass er sie wirklich falsch eingeschätzt hatte. Wer Empfindungen derart emotional niederzuschreiben vermochte, spielte nicht leichtfertig mit den Gefühlen anderer. Gut, sie hätte ihm etwas früher sagen müssen, dass sie gebunden war, aber woher hätte sie denn wissen sollen, wieviel er bereits kurz nach ihrer ersten Begegnung für sie empfand? Und keiner hatte ihr gesagt, dass er im SUN CENTER wohnte, als sie mit dem Doc hier eingezogen war.
„Vielleicht ist es Zeit für eine Entschuldigung, alter Junge“, sagte er zu sich selbst, legte den Block zurück auf den Tisch und griff nach seiner Jacke, die achtlos über der Sessellehne hing. Er wusste zwar nicht, wo sich Selina zurzeit aufhielt, aber es trieb ihn hinaus in die Nacht. Vielleicht half ihm ein kleiner Spaziergang dabei, den Kopf wieder etwas frei zu bekommen.
Im DESTINY NIGHT
Jack, Alli und Selina verbrachten den Abend zusammen in der DESTINY NIGHT Tanzbar. Sie hatten sich eine Flasche Wein bestellt und plauderten locker über dies und jenes. Selina war froh, mit ihren neuen Freunden hier zu sein, anstatt den Abend allein im SUN CENTER verbringen zu müssen. Aber sie bemerkte, dass Alli irgendetwas beschäftigte.
Auch Jack musterte sie des Öfteren mit besorgtem Blick.
„Ich geh mich mal eben frischmachen“, meinte Selina schließlich und verschwand in Richtung Waschraum, um den beiden Gelegenheit zu geben, allein miteinander zu reden.
„Träumst du?“, fragte Jack und holte Alli damit zum wiederholten Male aus ihren Gedanken. „Du hörst mir überhaupt nicht zu.“
„Entschuldige“, murmelte sie abwesend.
„Worüber grübelst du die ganze Zeit?“
„Ich habe eben an unseren Ausflug heute Nachmittag gedacht“, erwiderte sie nach kurzem Zögern. „Als dieser Typ mich angesprochen hat. Ich war so froh, als du aufgetaucht bist und ihn vertrieben hast.“
„Das sind ja ganz neue Töne, Miss Tyler“, zog er sie auf. „Als ich dich kennenlernte, schienst du fest überzeugt davon, mit solchen Typen ganz allein fertig zu werden!“
Es sollte ein Scherz sein, doch Alli ging nicht darauf ein.
„Ich hasse so etwas“, sagte sie und verzog angewidert das Gesicht.
Jack langte über den Tisch und ergriff ihre Hand.
„Hör zu, du bist eine sehr schöne Frau, da ist es ganz normal, wenn die Männer dir hinterherschauen oder dich gar ansprechen. Auch wenn mir persönlich das ebenfalls nicht sonderlich gefällt.“
Sie lächelte nur bitter und er musterte sie prüfend.
„Sei ehrlich, Alli, wovor hast du wirklich Angst?“
Schweigen.
„Komm schon, hab doch endlich ein wenig Vertrauen zu mir!“
Für einen Moment schien es ihm, als wolle sie etwas sagen, doch dann besann sie sich, zwang sich zu einem etwas verkrampft wirkenden Lächeln und stand auf.
„Lass uns tanzen, Jack.“
Irgendwann stand Jason vor dem Eingang des DESTINY NIGHT, und weil er sowieso nichts weiter vorhatte, ging er kurzentschlossen hinein und fand gerade noch einen freien Platz am Tresen. Um diese Zeit war die Bar sehr gut besucht. Alle Tische waren besetzt, und auf der Tanzfläche bewegte sich eine muntere Schar von Gästen zu den heißen Rhythmen der Discomusik.
„Na Jason, wie geht’s dir heute?“, fragte Jennifer und zwinkerte ihm aufmunternd zu. „Hast du dein kompliziertes Liebesleben wieder im Griff?“
„Wie kommst du denn darauf?“, erwiderte er und winkte ab, während er theatralisch die Augen verdrehte. „Ich habe momentan gar kein Liebesleben, und der Rest meines Daseins gestaltet sich mit jedem Tag chaotischer.“ Er bemerkte ihren entsetzten Blick und lachte. „Schon gut, du kannst die hochprozentigen Getränke im Keller lassen, Mädchen. Ein Bier reicht mir.“
Sie hob skeptisch die Augenbrauen.
„Sicher?“
„Ganz sicher.“ Er beugte sich vertraulich zu ihr hinüber. „Ich brauche einen klaren Kopf, denn ich werde mich bemühen, alles wieder hübsch ordentlich auf die Reihe zu bekommen.“
„Na dann“, nickte sie beeindruckt, während sie ein Bier eingoss und vor ihm abstellte. „Eigentlich kannst du ja gleich damit anfangen.“
„Wie meinst du das?“, fragte er verständnislos, doch sie grinste nur vielsagend und wies mit einer Kopfbewegung in eine bestimmte Richtung. Er folgte ihrem Blick und entdeckte zuerst nur Jack und Alli auf der Tanzfläche. Doch dahinter, an einem der Tische... Selina!
Sie saß dort ganz allein und wirkte irgendwie verloren und einsam.
„Na geh schon, Cowboy“, meinte Jennifer lachend. „Auf eine Abfuhr mehr oder weniger kommt es doch nun wirklich nicht an!“
„Hallo…“
Obwohl sich Jason verlegen wie ein Schuljunge fühlte, versuchte er dennoch, absolut cool aufzutreten, als er schließlich vor Selina stand, und sie erstaunt zu ihm aufblickte. „Irgendwie scheinen wir uns ja ständig über den Weg zu laufen.“
„Ja, lässt sich wohl nicht vermeiden“, erwiderte sie kühl. „Aber diesmal war ich zuerst da.“
„Hey, ich bin nicht hier, um mit dir zu streiten“, versuchte er sofort einzulenken und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich nach dir gesucht.“
„Ach ja?“ Argwöhnisch zog sie die Augenbrauen zusammen. „Wie auch immer, nun hast du mich ja gefunden.“
„Was dagegen, wenn ich mich einen Moment setze?“
Sie wies auf den freien Platz ihr gegenüber.
„Ich denke, das geht in Ordnung. Jack und Alli werden sich freuen, dich zu sehen.“
„Du nicht?“, entfuhr es ihm.
Sie sah ihn überrascht an.
„Wieso sollte ich?“
„Ja, wieso solltest du“, murmelte er nachdenklich.
Es war Selina anzusehen, dass sie ihre letzte Bemerkung schon wieder bereute. Sie mochte solche Katz- und- Maus- Spiele nicht. Mit einem resignierten Seufzen musterte sie Jason.
„Was willst du?“
„Mich bei dir entschuldigen.“
„Aus welchem Grund?“
„Na ja, ich denke, ich habe dich falsch eingeschätzt. Ich war nur enttäuscht, dass du... wie soll ich sagen…“ Er schaute sie ratlos an. Große Worte lagen ihm nicht sonderlich, und außerdem konnte er schlecht eingestehen, dass er heimlich ihre Notizen gelesen hatte. „Es ist nur so, dass ich dich wirklich sehr gerne mag, und es wäre schön, wenn... na ja, wenn wir wenigstens Freunde sein könnten. Wo wir doch nun zusammenwohnen und uns jeden Tag sehen. Ich will nicht mit dir streiten.“
Selina hatte ihn die ganze Zeit über unverwandt angesehen, und am liebsten wäre sie ihm für dass, was er eben gesagt hatte, um den Hals gefallen. Vor allem aber wegen der Dinge, die er nicht ausgesprochen hatte, die aber deutlich in seinen Augen zu lesen waren. Ihr Mund verzog sich zu einem zauberhaften Lächeln.
„Glaub mir, Jason, ich will auch nicht mit dir streiten. Das wollte ich nie. Wir beide hatten einfach nur einen denkbar schlechten Start.“
„Ja, so sehe ich das inzwischen auch.“ Er hob sein Bier und deutete auf das halbgefüllte Weinglas, das vor ihr auf dem Tisch stand.
„Lass uns darauf trinken, dass das ab heute anders ist, Selina. Freunde? “
Sie nickte erleichtert, wenn auch mit einem etwas eigenartigen Gefühl im Magen.
„Freunde!“
Sie sahen einander in die Augen, und jeder von ihnen wusste insgeheim ganz genau, dass ihre Gefühle füreinander inzwischen schon weit über eine normale Freundschaft hinausgingen.
Die einfühlsamen Klänge einer traurigen Ballade erfüllten den Raum.
Alli tanzte engumschlungen mit Jack zu dem emotionalen Song. Sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und fühlte, dass sie in seinen Armen langsam ihre innere Ruhe wiederfand. Es tat so gut, seine Nähe zu spüren.
„Schau mal, Jason ist da“, holte er sie mit leiser Stimme aus ihren Gedanken, als das Lied fast zu Ende war.
Sie öffnete die Augen, doch was sie sah, war nicht Jason, sondern Aileen Ling, die auf den Stufen am Eingang stand und suchend in die Runde blickte.
„Deine Frau Doktor ist auch eben eingetroffen, welch ein Zufall.“
Jack folgte ihrem Blick und sein Gesicht verfinsterte sich zusehends.
„Lass uns gehen.“
„Weshalb?“, fragte Alli erstaunt. „Das klingt ja fast so, als würdest du vor ihr davonlaufen!“
„Nein, so ist es nicht. Ich will sie nur nicht sehen. Nicht mehr.“
„Weil es dir noch immer wehtut?“
„Nein, das ist es nicht. Ich will nur nicht mit ihr reden müssen.“
„Musst du ja nicht. Du bist ja schließlich mit mir hier.“
Der Song war zu Ende.
Jack und Alli sahen sich einen Moment lang schweigend an, dann hob er die Hand und strich ihr zärtlich über die Wange, eine Geste, die viel mehr sagte, als tausend Worte.
„Du hast recht“, flüsterte er. „Lass uns trotzdem bald verschwinden.“
Sie verstand und lächelte.
„Okay.“
Aileen betrat das DESTINY NIGHT und blieb auf den unteren Treppenstufen, von wo aus man die Bar gut überblicken konnte, zunächst zögernd stehen. Suchend blickte sie sich um.
Es war Samstagabend, und um diese Zeit herrschte hier Hochbetrieb. Ein paar der Anwesenden waren ihr noch bekannt, immerhin hatte sie einige Zeit am einheimischen Medical Center gearbeitet und eine Menge Leute kennengelernt.
Und nun war sie nach Monaten wieder hier. Zwar voraussichtlich nur für ein paar Tage, aber als sie heute Morgen in Destiny Beach angekommen war, empfand sie das wie die Heimkehr nach einer langen ermüdenden Reise. Dieses Empfinden hatte sie erschreckt und zugleich irgendwie mit freudiger Erwartung erfüllt.
Erwartung?
Sie fragte sich, worauf eigentlich. Auf die Arbeit in der Klinik?
`Sei doch verdammt nochmal ehrlich zu dir`, schalt sie sich selbst. Sie hatte diese dienstliche Vertretung nur aus einem einzigen Grund angenommen. Sie hatte sich insgeheim auf das Wiedersehen mit Jack gefreut. Und in ihrer Eitelkeit hatte sie überhaupt nicht damit gerechnet, dass er inzwischen sein Leben ohne sie weitergeführt haben könnte.
Und dann sah sie ihn.
Er bewegte sich auf der Tanzfläche zu den Klängen einer gefühlvollen Ballade, und er hielt dabei diese hübsche Fremde im Arm, mit der er schon heute Vormittag im SUN CENTER aufgetaucht war.
War sie die neue Frau an seiner Seite?
Aileen schluckte und ihr Herz wurde mit einem Mal unsagbar schwer.
Sie hatte Jack verlassen, doch jetzt, nachdem sie ihn wiedergesehen hatte, wurde ihr erst richtig bewusst, wie falsch das gewesen war.
Solange sie zurückdenken konnte, war da dieser traditionelle Zwang gewesen, alles richtig machen zu müssen. Mit den Jahren hatte sich daraus ein geradezu krankhafter Ehrgeiz entwickelt, dem jegliches Privatleben zum Opfer fiel. Dann war sie hierher in diese amerikanische Kleinstadt versetzt worden, fernab von allen familiären Traditionen, und hier hatte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt. Ihre Liebe wurde von Jack erwidert, und doch opferte sie ihre Gefühle letztendlich ihrem beruflichen Streben und zerstörte damit alles, bevor es richtig begonnen hatte.
Nun stand sie hier und hätte wer weiß was dafür gegeben, um die Trennung von ihm rückgängig machen zu können. Aber anscheinend war es dazu zu spät. Der Blick, den er ihr von der Tanzfläche aus zuwarf, als er sie entdeckte, schien das zu beweisen.
Aileen fühlte sich leer und einsam, als sie sich langsam umwandte und die Bar wieder verließ. Eifersucht begann wie ein hungriges Tier schmerzhaft in ihrem Inneren zu nagen.
„Du kennst mich, Jack“, sagte sie leise, wie zu sich selbst. „So leicht gebe ich nicht auf.“