Die Station der Lifeguards
„Du begleitest uns wirklich die ganze Woche lang? Cool!“ Randy, Jasons jüngerer Kollege ließ seine Augen wohlwollend über Selinas schlanken Körper wandern. Sie trug ihren grünen Bikini und hatte sich einen dazu passendes Pareo um die Hüften geschlungen. „Na dann, herzlich willkommen in unserem Team, Beauty Queen.“
„Hey, krieg dich gefälligst wieder ein“, brummte Jason missbilligend und blinzelte Randy von seinem Schreibtisch aus warnend an. „Außerdem bist du jetzt dran mit Wachdienst. Raus auf den Balkon!“
„Ist ja gut. Kein Grund mich gleich anzumotzen Alter“, beschwerte sich der junge der Rettungsschwimmer und lächelte Selina noch einmal zu. „Bis später, Schönheit!“
Tom lachte und nahm seine Mitbewohnerin bei der Hand.
„Komm mit, ich zeige dir erst einmal alle Räume hier oben.“ Er wandte sich nach Jason um, der noch immer mit finsterem Blick hinter seinem Schreibtisch saß. „Schreibst du gerade den Dienstplan? Am besten du teilst Selina mit in meinen Dienst ein, dann ist sie in den besten Händen.“
„Sie geht mit Trisha“, knurrte Jason kompromisslos und sah den beiden nach, wie sie lachend zu den Waschräumen hinübergingen.
Seufzend machte er sich daran, die angefallene Schreibarbeit zu erledigen.
Er hätte Selina von Herzen gern in seinen eigenen Dienst eingeteilt, aber andererseits wäre sie dann den ganzen Tag in seiner Nähe. Erbarmen, das würde er bestimmt nicht unbeschadet überleben!
CEC Corporation
„Wollen Sie mich für dumm verkaufen, Raves?“, fauchte George Carrington den Mann an, der eben sein Büro betreten hatte. „Ich habe Ihnen eine nahezu unrealistische Summe dafür bezahlt, dass Sie mir meinen Geschäftspartner für eine Weile vom Hals schaffen! Und Sie? Kassieren die Kohle und tun gar nichts! Währenddessen lässt mich Edwards hier vor unseren Geschäftsfreunden wie einen kompletten Idioten dastehen und macht mir mit seinem Auftauchen sämtliche Transaktionen zunichte! Zu allem Unglück hat er nun auch noch den Braten gerochen und blockiert meine Aktivitäten, wo immer er kann.“ Er begann ungehalten im Zimmer auf und ab zu gehen, während sich sein Besucher seelenruhig in einem der Sessel niederließ und lässig die Beine übereinander schlug.
George fuhr sich wütend über die Stirn.
„Und als ob das nicht schon genug wäre, versuchen Sie mir nun auch noch einzureden, dass sich David Edwards tatsächlich in Ihrer Gewalt befindet! Für wie blöd halten Sie mich eigentlich?“
„Vorsicht!“
Das während Georges Zornesausbruch regelrecht unbeteiligt wirkende Gesicht des Besuchers im dunklen Anzug veränderte sich schlagartig und nahm nun einen lauernden Ausdruck an. „Halten Sie die Luft an, Carrington, und überlegen Sie gut, was Sie sagen.“
Er stand auf und nahm langsam seine dunkle Sonnenbrille ab. Kalte graue Augen musterten George so finster, dass dieser sofort verstummte. Die selbstsichere Gelassenheit, die der Mann ausstrahlte, wirkte nun, da man seine Augen sehen konnte, umso bedrohlicher. Langsam glitt seine Hand in die Innentasche seines Jacketts, und George hielt aufgrund dieser Geste erschrocken inne.
„Was haben Sie vor?“, fragte er heiser, und seine Wut war augenblicklich verraucht. Er wusste, mit William Raves Geschäfte zu machen, war alles andere als ungefährlich. Mit einem Mann wie ihm war nicht zu spaßen.
„Sie sind sich also ganz sicher, dass es wirklich Ihr Geschäftspartner war, der in den letzten Tagen hier aufgetaucht ist?“, fragte Raves lauernd und holte ein Foto aus der Jackentasche, das er dem Firmenboss reichte. Sichtlich erleichtert griff dieser nach dem Bild und warf einen Blick darauf. Was er sah, ließ ihn erstarren. Das Polaroid-Foto zeigte David gefesselt mit verbundenen Augen in einem düster wirkenden Raum mit kahlen Wänden im Hintergrund.
„Das hier ist genau der Mann, den meine Leute für Sie kidnappen sollten. Und er befindet sich dort, wo wir ihn hingebracht haben, in sicherer Verwahrung.“
Raves´ Finger wies auf die Person auf dem Foto. „Wer auch immer hier gewesen ist und Ihnen Ihr Geschäft versaut hat, es war unter Garantie nicht dieser Mister Edwards!“
George lehnte sich an die Kante des Schreibtisches und starrte fassungslos auf das Polaroid in seiner Hand.
„Ich verstehe das nicht.“
„Ich ebenso wenig“, meinte Raves in gleichgültigem Tonfall. „Aber ich muss es auch nicht verstehen, das überlasse ich Ihnen, mein Lieber. Ich für meinen Teil habe mich an alle Vereinbarungen gehalten. Dasselbe erwarte ich von Ihnen.“ Er kam näher und blieb dicht vor George stehen. Sein unverhohlen drohender Blick aus dem kantigen Gesicht schien sein Gegenüber förmlich zu durchbohren. „Und merken Sie sich Folgendes für die Zukunft: Beordern Sie mich nie wieder telefonisch hierher wie einen Ihrer Lakaien. Ist das klar?“
George schluckte und nickte dann grimmig.
„Gut.“ Sichtlich zufrieden setzte Raves seine Sonnenbrille wieder auf und schloss den Knopf seines Jacketts. „Ich erwarte dann Ihren Anruf, und zwar mit klaren Anweisungen, was mit Mister Edwards weiter geschehen soll. Aber warten Sie nicht zu lange. Ihr Geschäftspartner ist hungrig, müde, etwas unterkühlt und wirkt bereits leicht desorientiert.“
Grußlos verließ er das Büro.
Erschöpft ließ sich George in den Sessel fallen. Sein Blick wanderte wieder zu dem Foto, welches er noch immer in seiner Hand hielt, während er verstört murmelte:
„Verdammt, was treibst du für ein Spiel mit mir, David?“
CEC Corporation
Alli stieg aus dem diensteigenen Geländewagen der CEC und überquerte schnellen Schrittes den Parkplatz in Richtung des Firmeneinganges. Sie war auf der Baustelle der Ferienanlage gewesen um einige Unterlagen zu holen, die David am späten Nachmittag dringend benötigte.
Als sie die Eingangshalle betrat, fiel ihr sofort wieder jener unbekannte Mann auf, mit dem sie vor ungefähr einer Woche schon einmal draußen auf dem Parkplatz fast zusammengelaufen wäre. Hochgewachsene, drahtig wirkende Gestalt, dunkler Anzug, dunkle Sonnenbrille...
Die Erinnerung ließ sie erschauern, denn sie wusste noch genau, an wen der Fremde sie damals nach längerem Grübeln erinnert hatte:
An jenen Mann, der ihr alles genommen hatte, was ihr in ihrem Leben wichtig gewesen war.
Der Mann, der ihr nach dem Leben trachtete und den sie so abgrundtief hasste, wie ein Mensch nur hassen kann.
Der Mann, vor dem sie seit Monaten auf der Flucht war:
William Raves, allmächtiger Mafiaboss, skrupelloser Mörder, gewissenloser Verbrecher.
"Er ist hier in Kalifornien!", klang Johns Stimme erneut in ihrem Ohr.
Zitternd versteckte sie sich hinter einem der Pfeiler vor den Aufzügen und beobachtete, wie der Mann vorüberging.
War es nur eine zufällige Ähnlichkeit? Spielten ihr die überreizten Nerven einen Streich? Oder war Raves ihrer Spur bereits bis hierher gefolgt?
Der Mann ging vorüber ohne sich umzublicken. Sollte er wirklich ihretwegen hier gewesen sein, so hatte er sie eben gewiss nicht entdeckt.
Alli atmete auf, als sich die Türen des Aufzuges öffneten. Schnell sprang sie hinein und fuhr nach oben.
In den Büroräumen der Geschäftsleitung angekommen verließ sie, innerlich noch immer aufgewühlt und mit zittrigen Knien, den Lift und prallte Sekunden später mit ihrem Boss zusammen, der eben nach unten fahren wollte. Erschrocken ließ sie die mitgebrachten Unterlagen fallen. Diese verteilten sich raschelnd auf dem Boden.
„David... Entschuldigung“, murmelte sie verlegen und bückte sich eilig hinunter, um rasch alles wieder einzusammeln, doch er war ebenso schnell unten wie sie, und sein Gesicht kam ihrem dabei ziemlich nah.
„Kein Problem“, sagte er freundlich. „Ich helfe Ihnen.“
Alli schielte verstohlen zu Brendas Schreibtisch hinüber und schickte insgeheim ein Stoßgebet zum Himmel, als sie sah, dass der Platz von Georges persönlicher Assistentin leer war.
„Wieso sind Sie denn so früh schon da?“, fragte sie hastig, um die prekäre Situation zu überspielen. „Ich hatte Sie heute erst am späten Nachmittag erwartet.“
David lächelte und berührte beim Einsammeln der Unterlagen wie zufällig ihre Hand.
„Ich habe mich beeilt“, erwiderte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Seitdem Sie für mich arbeiten, würde ich am liebsten meine gesamte Zeit im Büro verbringen.“
Alli hatte die meisten losen Blätter zusammengerafft. Sie zog ihre Hand weg, als hätte sie sich verbrannt und sprang auf.
David erhob sich ebenfalls und reichte ihr den Rest der Unterlagen.
„Würden Sie heute Abend mit mir essen gehen?“, fragte er unvermittelt.
„Also, ich finde, das geht jetzt entschieden zu weit“, erwiderte Alli, trat einen Schritt zurück und funkelte ihn empört an. „Denken Sie bei dem, was Sie hier tun, gelegentlich auch einmal an Kate?“
Er musterte sie verdutzt und lachte dann plötzlich ganz unverfroren.
„Aber natürlich denke ich an Kate, nur keine Sorge. Ich bin sicher, dass sie mit allem einverstanden ist, was ich tue. Also, mein Engel... Wann und wo soll ich Sie abholen?“
Alli starrte ihn sprachlos an.
“Spar dir die Mühe, sie wird nicht mit dir ausgehen“, durchbrach plötzlich eine Stimme die peinliche Stille. Weder David noch Alli hatten gehört, dass Jack hinter ihnen über den Treppenaufgang den Bürovorraum betreten hatte. Seine dunklen Augen funkelten grimmig. David alias Dylan fasste sich jedoch erstaunlich schnell und setzte ein verbindliches Lächeln auf.
„Jack! Was kann ich für dich tun, mein Freund?“
„Komm mit in dein Büro, ich muss mit dir reden, mein Freund“, erwiderte Jack ungerührt und mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Er warf Alli, die erschrocken von einem zum anderen sah, im Vorübergehen einen bedeutungsvollen Blick zu. „Entschuldige uns bitte einen Augenblick.“
Mit diesen Worten schob er „David“ unsanft in den Raum hinein. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter den beiden Männern ins Schloss.
„Was gibt es denn so Wichtiges?“ fragte Dylan mit Unschuldsmiene, während er zunächst erst einmal Zuflucht hinter seinem Schreibtisch suchte.
Jack blieb mit finsterem Gesicht an der Tür stehen und atmete tief durch.
„Sag mir, auf welcher Seite dich meine Faust gestern getroffen hat, damit ich mir fairerweise dieses Mal die andere vornehme.“
Dylan rieb sich in guter Erinnerung an die Begegnung mit Jacks Faust bedeutungsvoll das Kinn.
„Haben dir deine Jura-Professoren an der Uni nicht beigebracht, dass Gewalt keine Lösung ist?“
Jack musterte ihn herablassend.
„Oh doch, das haben sie. Allerdings haben sie uns auch darauf hingewiesen, dass es Menschen gibt, die gut gemeinte Ratschläge aus Gründen mangelnder Intelligenz nicht verstehen können. Und für diejenigen ist diese Methode die einzig wirkungsvolle. Also, mein Freund... du weißt ganz genau, weshalb ich hier bin! Es gefällt mir nicht, dass du deine Krallen nach Alli ausstreckst. Ich wiederhole mich nur ungern, aber ich warne dich: Lass sie in Ruhe!“
„Hey, Moment mal“, wehrte Dylan ab. „Soviel ich weiß, bist du nicht mit ihr verheiratet! Außerdem dürfte es dich überhaupt nichts angehen, wenn ich versuche, ein gutes Verhältnis zu meinen Angestellten aufzubauen. Ich bin nur freundlich zu meiner Assistentin.“
„Davids Assistentin, nicht deine, mein Lieber“, verbesserte Jack bedeutungsvoll. „Du bist hier lediglich die „zweite Besetzung“, schon vergessen?“
Dylan stemmte verärgert die Hände in die Hüften.
„Was zum Teufel willst du eigentlich von mir?“
„Das weißt du verdammt gut. Du vertrittst hier deinen Bruder, also benimm dich auch entsprechend. Und zwar in jeder Beziehung! Merkst du denn nicht, wie sehr du Alli verunsicherst? Sie hält dich für David! Alle hier tun das!“
„Nicht mehr lange, hoffe ich“, erwiderte Dylan grimmig.
Jack verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete ihn abschätzend.
„Es ist dir schon klar, dass es hier um Davids Leben geht?"
„Natürlich, ich bin ja nicht blöd."
„Gerade du solltest diese Leute nicht unterschätzen. Ein Fehler von dir, und sie bringen David um, ohne auch nur im geringsten mit der Wimper zu zucken."
Ungeduldig spielte Dylan mit einem der teuer aussehenden Stifte von seinem Schreibtisch.
„Was willst du, Jack?
„Hast du vor, noch länger hier zu bleiben, wenn deine Mission erledigt ist?“
„Darüber habe ich mir, um ehrlich zu sein, noch keine Gedanken gemacht“, erwiderte Dylan. „Aber wie ich gehört habe, soll unsere gemeinsame Freundin in letzter Zeit auch nicht besonders sesshaft gewesen sein. Und sie scheut sich vor festen Bindungen. Genau wie ich. Bisher.“
„Woher willst du das wissen?“ fragte Jack gespannt.
Dylan schmunzelte nur geheimnisvoll.
„Ich habe meine Quellen. Das gehört zu meinem Beruf.“
„Ah ja“, meinte Jack spöttisch. „Dann will ich deine Kenntnisse mal auf den neuesten Stand bringen: Alli und ich sind ein Paar, und ich werde alles dafür tun, dass das auch so bleibt. Dein Verhalten verunsichert sie, denn sie fühlt sich deinem Bruder gegenüber zur Loyalität verpflichtet. Also noch ein letztes Mal zum Mitschreiben: Allison ist tabu für dich“
Dylan schüttelte missbilligend den Kopf.
„Was ist eigentlich dein Problem, Jack? Bist du einfach nur eifersüchtig, oder hast du Angst, Alli könnte sich am Ende vielleicht für mich entscheiden?“
Jack trat langsam näher und blieb dicht vor Dylans Schreibtisch stehen.
„Wir wissen beide verdammt gut, dass das nicht passieren wird. Deshalb lass dir eines gesagt sein, Amigo: Daniel und dir bei der Suche nach David zu helfen, ist die eine Sache, immerhin ist er einer meiner besten Freunde. Aber mitzuerleben, wie du die Frau, die ich liebe, schamlos anflirtest und damit verunsicherst, ist eine andere. Eine, bei der ich keinesfalls tatenlos zusehen werde.“ Er stützte die Hände auf die Tischplatte und sah Dylan drohend an. „Also, mein Freund, benimm dich gefälligst, solange du anstelle deines Bruders hier bist und die Firma repräsentierst.“
Die beiden fixierten einander einen Augenblick lang abschätzend, dann hob Dylan resigniert die Hände und grinste süffisant.
„Okay okay“, lenkte er halbherzig ein. „Ich hab`s ja verstanden. Allerdings sollten wir Allison bei passender Gelegenheit auch einmal nach ihrer Meinung fragen. Immerhin könnte es durchaus möglich sein, dass sie inzwischen insgeheim absolut verrückt nach mir ist.“
„Träum weiter“, erwiderte Jack ungerührt und richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. „Ansonsten solltest du dich besser etwas intensiver auf die Suche nach deinem Bruder konzentrieren, anstatt anderen Leuten hier das Leben unnötig schwer zu machen und darüber hinaus bei der Belegschaft für den neusten Klatsch zu sorgen. Benimm dich einfach ein ganz klein wenig wie David, auch wenn dir das offensichtlich schwerfällt.“
Er drehte sich um und ging hinaus, wobei er die Tür absichtlich sperrangelweit offen ließ.
„Komm mit, Alli“, sagte er und trat zu ihr an den Schreibtisch, wo sie die durcheinander geratenen Unterlagen einsortierte und beunruhigt hochblickte, als die Bürotür sich öffnete. Die Spannung zwischen den beiden Männern war nur zu deutlich zu spüren gewesen, und es gefiel ihr ganz und gar nicht, allem Anschein nach der Grund dafür zu sein.
Lächelnd nahm Jack ihre Hand, zog sie sanft zu sich heran und legte den Arm um ihre Schultern.
„Warum nutzen wir den herrlichen Nachmittag nicht für einen entspannenden Strandspaziergang? Mein Dienst ist für heute beendet, und David meinte eben, du könntest ebenfalls nach Hause gehen.“
Überrascht blickte sich Alli nach David um, der mit verschränkten Armen scheinbar lässig im Türrahmen lehnte und die Szene genau beobachtete.
„Ist das wahr?“, fragte sie unsicher.
Ihr vermeintlicher Arbeitgeber nickte und rang sich ein Grinsen ab.
„Aber ja, gehen Sie nur. Wir sehen uns dann morgen. Viel Spaß, ihr beiden.“
„Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, mein Freund!“
Jack warf „David“ einen letzten bedeutungsvollen Blick zu und folgte Alli zum Lift.
Dylan knurrte etwas Unverständliches und schlug ärgerlich die Tür hinter sich zu.
Am Strand
Eine ganze Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Alli betrachtete Jack mehrmals verstohlen von der Seite, aber sein Gesicht ließ keine nennenswerten Regungen erkennen.
„Hast du dich mit David gestritten?“, fragte sie schließlich, weil sie das Schweigen nicht länger aushielt.
„Gestritten? Nein, wie kommst du denn darauf?“, erwiderte er mit Unschuldsmiene.
Sie verdrehte genervt die Augen.
„Komm schon, irgendetwas ist doch vorhin zwischen euch vorgefallen!“
„Es ging um etwas Geschäftliches“, log er notgedrungen. „David und ich sind in einer Sache verschiedener Meinung, und das haben wir ausdiskutiert.“
„Für eine einfache geschäftliche Diskussion hast du aber verdammt wütend ausgesehen“, bemerkte Alli skeptisch.
Jack grinste.
„Lass dich nicht täuschen, David kann in manchen Dingen ziemlich stur sein, da braucht man schon eine gewisse Überzeugungskraft, um ihn umzustimmen.“
„Und, hast du ihn umgestimmt?“
„Wird sich zeigen. Aber ich denke schon.“
Alli blieb stehen und blinzelte in die untergehende Sonne.
„Ich habe noch keine Lust, ins SUN CENTER zu gehen. Laufen wir ein Stück am Strand entlang?“
„Klar, gute Idee“, stimmte Jack bereitwillig zu.
Während sie zwischen den Dünen entlang gingen, dachte Alli plötzlich wieder an jenen Mann, den sie vorhin in der Eingangshalle der Firma gesehen hatte... Raves?
Schon allein der Gedanke daran, dass er sich hier in der Gegend um Destiny Beach aufhalten könnte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie musste unbedingt herausfinden, ob es nur eine zufällige Ähnlichkeit gewesen war. Was aber würde passieren, wenn William Raves wirklich hier wäre?
Sie schluckte. Dann würde sie wieder gehen müssen, weiterziehen, klammheimlich verschwinden und alle Spuren verwischen müssen.
Der Gedanke daran tat ihr unsagbar weh.
„Jack?“, begann sie vorsichtig, um keinen Verdacht zu erwecken. „Du bist doch vorhin kurz nach mir ins Büro hinaufgekommen? Ist dir in der Eingangshalle ein fremder Mann im dunklen Anzug begegnet? Er trug eine Sonnenbrille.“
Er überlegte einen Augenblick.
„Ja, ich glaube, ich weiß, wen du meinst. Der war bei George Carrington. Vermutlich ein Geschäftspartner von ihm. Warum fragst du? Kennst du ihn?“
„Nein“, beeilte sie sich zu sagen. „Vermutlich nur eine Verwechslung. Ich dachte für einen Moment, es wäre jemand, den ich kannte.“
„Jemand aus... deinem früheren Leben?“
„Ja“, erwiderte sie einsilbig.
Jack dachte sofort an die Männer, die ihn verfolgt hatten, als er mit Allis Bike unterwegs war und warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, fragte jedoch nicht weiter. Er konnte ihr nicht sagen, dass er den Mann, von dem sie sprach, heimlich beobachtete, seit dieser das erste Mal bei George aufgetaucht war. Er hatte da einen bestimmten Verdacht. Aber wenn der Unbekannte wirklich jener Mann sein sollte, den Alli aus ihrer Vergangenheit zu kennen glaubte, dann war sie in höchster Gefahr. Er würde in Zukunft noch besser auf sie Acht geben müssen.
Inzwischen waren sie am Pier angekommen.
„Sie mal, die Sonne färbt den Himmel bereits rot“, sagte Jack leise, trat hinter Alli und legte zärtlich die Arme um sie. „Weißt du, ich habe die Sonnenuntergänge hier in Destiny Beach schon immer geliebt, aber seitdem du da bist, sind sie noch viel schöner.“
Sie lehnte sich lächelnd an seine Brust und schloss die Augen.
„Ja, es ist wirklich schön hier.“
Der Augenblick der Ruhe und Entspannung dauerte jedoch nur Sekunden, dann löste sich Alli aus Jacks Armen und blickte sich suchend um.
„Was ist?“, fragte er erstaunt.
„Lass uns zurückgehen, ich sterbe vor Hunger!“ erwiderte sie gespielt fröhlich und zog ihn mit sich fort. Während sie den Strand verließen und den Weg zum SUN CENTER einschlugen, wanderten ihre Augen unruhig umher. Mit dem ihr eigenen, sicheren Instinkt verspürte sie erneut das beklemmende Gefühl beobachtet zu werden…