Long Beach, North Virginia Waldgebiet
Renee spielte ihre Rolle hervorragend.
In einem zartgeblümten, leichten Sommerkleid, das sie sehr naiv und jugendlich wirken ließ, mimte sie die überforderte Touristin, die sich hoffnungslos verfahren hatte. Sie hatte entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten ein wenig dezentes, äußerst wirkungsvolles Make-up aufgelegt und trug ihr leuchtend blondes Haar offen. Mit einer riesigen Landkarte bewaffnet stieg sie aus ihrem Wagen, schob die monströse Sonnenbrille nach oben und sah sich suchend um.
In der Nähe des Einganges befanden sich zwei Männer, die sicherlich als eine Art Wachposten oder Patrouille für das Anwesen fungierten.
Zielgerichtet steuerte Renee auf die beiden zu.
„Oh… Mister, hallo! Bitte warten Sie!“ Scheinbar schweratmend von der Hitze und dem schnellen Laufen kam sie am Eingang an.
Die beiden Männer blickten ihr überrascht entgegen.
„Haben Sie sich verfahren, Miss?“, fragte der Ältere von beiden, ein ziemlich schwergewichtiger, pockennarbiger Fleischertyp mit Robbenschnurrbart, während er die junge Frau mit seinen unspektakulären Knopfaugen regelrecht abscannte.
„Das kann man wohl sagen“, stöhnte Renee und verdrehte genervt die Augen. „Eine furchtbare Gegend, hier sieht eine Straße aus wie die andere, ich bin völlig konfus!“
„Wo soll`s denn hingehen?“, fragte der andere, ein etwa dreißig jähriger, drahtig aussehender Latino mit einem glimmenden Zigarillo im Mundwinkel.
„Ich komme extra von Las Vegas und bin auf dem Weg zu einem wichtigen Date“, schwindelte Renee mit Oscar verdächtigem Augenaufschlag. „Hier ist die Adresse…“ Sie brachte irgendwo hinter der Landkarte einen zerknitterten Zettel zum Vorschein. „West-Virginia-Avenue.“
Die beiden Männer starrten erst auf die Karte, dann auf den Zettel und dann wieder auf Renee.
„West-Virginia-Av? Gibt’s die hier überhaupt?“
Der Latino paffte ratlos an seinem Zigarillo.
„Keine Ahnung, nie gehört.“ Er grinste Renee dümmlich an. „Wir sind nämlich auch nicht von hier.“
„Halt die Klappe, Josè“, knurrte der Robbenschnurrbart, der die junge Frau noch immer ungeniert taxierte. „Wer guckt heutzutage denn noch auf eine Landkarte? Hamm`se denn kein Navi, Gnädigste?“
„Funktioniert nicht“, erwiderte Renee und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Genauso wie die blöde Klimaanlage in diesem verdammten Mietwagen.“ Sie wedelte mit der Karte vor ihrer Nase herum. „Mein Gott, ist das heiß heute!“
Der Latino hob hilflos die dürren Schultern.
„Tja, wir hätten Ihnen wirklich gern geholfen, Missi, aber leider…“
Renee lächelte entwaffnend und schien völlig hilflos.
„Vielleicht könnten wir jemanden fragen, der hier wohnt und sich in der Gegend auskennt! Den Hauseigentümer vielleicht?“
„Ähm… ja…“ Die beiden Männer sahen einander irgendwie einfältig an.
„Wir könnten Rodriguez fragen“, meinte der Robbenschnurrbart schließlich. „Der war schon öfter in der Gegend.“
„Oder den Boss, falls er schon da ist.“
„Boss hört sich gut an“, warf Renee schnell ein, doch der Schnurrbart schüttelte seinen fleischigen Schädel.
„Der weiß hier nicht Bescheid.“
Der Latino hatte eine Erleuchtung.
„Wir fragen Liz. Die könnt`s wissen.“
Der Robbenschnurrbart nickte.
„Stimmt. Warten Sie einen Augenblick!“ Er schickte sich an ins Haus zu gehen, doch Renees lautes Aufstöhnen hielt ihn zurück.
„Könnte ich vielleicht einen Augenblick mit hineinkommen und ein Glas Wasser haben? Mein Kreislauf spielt total verrückt, ich glaube, ich falle gleich in Ohnmacht!“
Die beiden Männer wechselten einen bedeutungsvollen Blick miteinander. Allem Anschein nach hatten sie die strikte Anordnung, niemanden ins Haus zu lassen. Doch was sollte denn schon von dieser hinreißenden jungen Lady, die einem Kreislaufzusammenbruch nahe war, für eine Gefahr ausgehen?
„Na kommen Sie, Missi, sicher haben wir ein Glas Wasser, und dann können wir Liz auch gleich nach der Adresse fragen.“
„Danke, Sie sind wirklich freundlich!“
Renee folgte den beiden ins Haus, während sie unbemerkt hinter ihrem Rücken mit den Fingern ein Siegeszeichen formte, von dem sie wusste, dass es von den richtigen Leuten mit Hilfe eines Fernglases gesehen wurde.
Medical Center
“Entschuldigen Sie, wo finde ich Dr. Stevenson?“
Die Krankenschwester, die soeben damit beschäftigt war, einer Patientin Blut abzunehmen, blickte etwas ungehalten auf.
„Versuchen Sie es bitte in der Aufnahme.“
„Tut mir leid, wenn ich störe, aber von dort komme ich gerade, und die Schwester sagte mir, er wäre hier in diesem Behandlungszimmer.“
„War er auch, bis vor fünf Minuten. Dann ist er nach nebenan gegangen und nicht zurückgekommen.“
„Nebenan? Aber… Ist das nicht Dr. Lings Arbeitszimmer!“
Die Schwester nickte.
„Ja, genau. Sind Sie angemeldet?“
„Ich muss Dr. Stevenson möglichst sofort sprechen. Es ist äußerst wichtig!“
„Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin Selina Wood, seine Verlobte.“
„Oh! Das ist natürlich etwas Anderes.“ Sofort huschte ein Lächeln über das Gesicht der Schwester. „Miss Wood, bitte versuchen Sie es eine Tür weiter. Dieser Raum hat zwar eine Verbindungstür, aber ich darf während der Behandlung leider niemanden hier hinein lassen.“
„Schon in Ordnung. Haben Sie vielen Dank.“
Selina schloss die Tür und blieb nachdenklich stehen. Dann war Nick also im Zimmer nebenan gewesen, als sie sich vor ein paar Minuten mit Aileen unterhalten hatte? Ob er am Ende vielleicht sogar etwas von der Unterhaltung mitbekommen hatte?
Nun, wie auch immer, wenn sie schon einmal hier in der Klinik war, dann wollte sie die Gelegenheit nutzen, um noch einmal unter vier Augen mit ihm zu reden. Dieser hässliche Streit gestern, das konnte doch unmöglich das Ende sein?
Oder doch?
Verunsichert lehnte sich Selina an die kühle Wand neben Aileens Arbeitszimmer und schloss für einen Augenblick die Augen.
In ihrer fast dreijährigen Beziehung hatten Nick und sie wirklich unbestritten schöne Zeiten gehabt. Sie waren verliebt, voller Tatendrang und schufen unablässig irgendwelche Zukunftspläne. Leider war davon, seitdem sie hierher nach Destiny Beach gekommen waren, absolut nichts mehr übrig geblieben.
Was war nur geschehen, dass Nick sich so verändert hatte?
Selina gab sich einen Ruck. Genau das würde sie ihn fragen, jetzt und hier. Und von seiner Antwort darauf hing quasi ihrer beider Zukunft ab.
Sie wollte gerade anklopfen, als Stimmen aus dem Zimmer an ihr Ohr drangen, Stimmen, die ihr sehr bekannt vorkamen.
„Du könntest dort anrufen und sie fragen…“ Das war Aileen. „Sag einfach, Deine Verlobte, mit der du anreist, ist ebenfalls eine sehr begabte junge Ärztin.“
„Aileen… ich weiß nicht…“ Zweifellos Nicks Stimme.
„Komm schon, Doc…“ Wieder Aileen, und der Tonfall, in dem sie sprach, gefiel Selina ganz und gar nicht.
Von einer merkwürdigen Vorahnung getrieben drückte sie vorsichtig die Klinke herunter und öffnete leise die Tür.
Was sie sah, ließ sie mitten in der Bewegung erstarren.
Nick, ihr Nick, in einer hemmungslos wilden Umarmung mit Dr. Aileen Ling!
Sein Hemd war geöffnet, und die Hände der jungen Ärztin strichen mit ungezügelter Leidenschaft über seinen Hals und seine nackte Brust, während ihre Lippen regelrecht mit den seinen zu verschmelzen schienen.
Der Anblick der beiden verschlug Selina die Sprache. Siedend heiß traf sie die Erkenntnis dessen, was sich hier in diesem Moment vor ihren Augen abspielte. Sie schluckte und atmete tief durch, um ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen, was ihr wenige Augenblicke später mit eiserner Selbstdisziplin tatsächlich gelang.
Sie ignorierte ihre zitternden Knie, lehnte sich scheinbar seelenruhig gegen den Türrahmen und verschränkte provokativ die Arme vor der Brust.
„Würden Sie bitte für einen Augenblick Ihre Zunge aus dem Hals meines Verlobten nehmen, Dr. Ling?“
Zu Tode erschrocken fuhren Nick und Aileen auseinander und starrten Selina an wie eine Fata Morgana.
„D…du?“, stotterte Nick völlig konfus.
„Ich wollte mich nur verabschieden“, erwiderte Selina mit schneidender Stimme. „Und ich danke euch beiden, dass ihr mir mit eurer interessanten kleinen Vorstellung eben eine äußerst wichtige Entscheidung abgenommen habt.“
„W…was meinst du, Selina?“, fragte Nick unsicher und versuchte mit ein paar linkischen Bewegungen verzweifelt sein Hemd in Ordnung zu bringen. „Welche Entscheidung?“
„Dich zu verlassen“, erwiderte sie und lächelte wie eine Eiskönigin, als sie sich Aileen zuwandte. „Ihr Fable für vergebene Männer ist bemerkenswert, meine Liebe. Soviel Initiative sollte belohnt werden. Diesen hier können Sie haben, er ist frei.“
Sie wartete keine Antwort ab, sondern wandte sich noch ein letztes Mal an den Mann, von dem sie bis vor kurzem geglaubt hatte, ihr weiteres Leben gemeinsam mit ihm zu verbringen.
„Leb wohl, Nick, ich wünsche dir alles Gute für deine Zukunft.“
„Selina, warte!“
Eine Eiseskälte breitete sich in Sekundenschnelle in ihrem Inneren aus, als sie sich wie im Trance umwandte und den Raum verließ.
„Selina, lass dir doch erklären…“
Es gab nichts mehr zu erklären, das wussten sie beide.
Es war vorbei.
Long Beach, North Virginia Waldgebiet
„Was zum Teufel tut sie denn da?“, fluchte Dylan mit verhaltener Stimme, während er unablässig durch sein Fernglas in Richtung des Hauseinganges starrte, durch den Renee vor ein paar Sekunden in Begleitung der beiden Männer verschwunden war.
„Was meinst du damit?“, flüsterte Jeff irritiert. „Was ist los?“
„Renee ist im Haus.“ raunte Dylan und reichte ihm das Fernglas. „Das war so nicht abgemacht.“
„Aber auf die Art erfährt sie doch viel besser, wie viele Leute anwesend sind.“
„Sie sollte nicht da drin sein“, beharrte Dylan und kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, während er mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Haus starrte. „Das ist viel zu gefährlich!“
„Beruhige dich, Bruderherz“, beschwichtigte ihn Daniel, der das Anwesen ebenfalls durch ein Fernglas beobachtete.
Der Robbenbartmann erschien zurück an der Eingangstür. Anscheinend hatte er Renee in der Obhut des Latino zurückgelassen und sich sichtlich widerwillig zu einem Kontroll-Rundgang ums Anwesen überwunden. Gemächlich dackelte er in Richtung Straße.
„Renee ist Profi genug, um zu wissen, was sie tut.“
„Ich hoffe nur, du hast Recht“, knurrte Dylan und nahm Jeff das Fernglas wieder ab. „Ich verspüre nämlich wenig Lust, gleich zwei Geiseln befreien zu müssen.“
Daniel hob die Hand.
„Still, da drüben tut sich etwas!“
Die Männer beobachteten mit angehaltenem Atem jede Bewegung auf dem Anwesen.
„Moment mal, hier stimmt was nicht“, murmelte Daniel, und Sekunden später sahen auch die anderen, was er meinte:
Aus der entgegengesetzten Richtung, in die der Robbenbartmann soeben verschwunden war, erschienen zwei weitere Männer auf der Bildfläche.
Sie hatten jemanden in ihrer Mitte, der offensichtlich nicht freiwillig mit ihnen ging.
Dylan drehte an seinem Fernglas, um besser zu sehen.
„Was geht da vor?“, flüsterte Jeff angespannt. „Wer zum Teufel…“
„Jack“, stellte Dylan fest und fluchte leise. „Verdammt nochmal, die haben Jack!“
„Na ganz toll“, unkte Officer Coleman und verdrehte die Augen. „Und was nun, werte Gemeinde? Soll ich vielleicht besser gleich die Kavallerie anrufen?“
„Nicht nötig, meine Herren“, ertönte eine leise Stimme dicht hinter den Männern. „Die Kavallerie ist schon da!“
Long Beach, North Virginia Waldgebiet
David lag zusammengerollt auf seiner Pritsche. Inzwischen hatte er hier unten in der Dunkelheit jegliches Zeitgefühl verloren. Manchmal raffte er sich auf, massierte seine vom langen Sitzen und Liegen schmerzenden Beine und lief in dem winzigen Raum hin und her wie ein gefangenes Tier oder versuchte seinen Kreislauf durch ein paar Sportübungen in Schwung zu halten. Die meiste Zeit jedoch verbrachte er in einem Dämmerzustand zwischen schlafen und wachen, denn der Versuch, die Gedanken abzuschalten, war besser als die endlose Grübelei und die damit einhergehende Gefahr, durchzudrehen und verrückt zu werden. Leider konnte man den Verstand nicht einfach abschalten wie einen Computer. Deshalb hatte er begonnen, sich Situationen auszumalen, die ihn beruhigten und Trost spendeten.
Unzählige Male versuchte er sich vorzustellen, wie er mit Kate Hand in Hand am Strand spazieren ging, abends bei Sonnenuntergang. Der Wind spielte mit ihrem Haar und in ihren Augen spiegelten sich die warmen Farben der untergehenden Sonne, als sie stehenblieb und sich zu ihm umwandte…
Irgendwann schreckte David aus seinem Wachtraum auf, als er aufgeregte laute Stimmen vernahm, die von oben deutlich an sein Ohr drangen.
„He… verrückt geworden?“ Das war eindeutig die Stimme der Frau, die ihm immer das Essen brachte.
„… ist was faul!“ Diese Stimme kannte er nicht, aber er vermutete, dass es der massige Kerl war, der die Frau jedes Mal begleitete und wortlos an der Luke wartete, wenn sie sein Verlies betrat. „…ein verdammter Cop!“
Cop? War die Polizei etwa vor Ort?
Hellhörig geworden richtete sich David auf und lauschte angespannt.
„Waaas? Sind Sie völlig übergeschnappt, Sie Idiot?“ Die aufgeregte Stimme einer Frau.
Das klang, als ob diese sich in Schwierigkeiten befand!
Die Frau, deren Stimme er kannte, sagte etwas, das er nicht verstand. Dafür brüllte der Mann umso lauter:
„Sie sagt, sie kommt aus Vegas! Ich habe eben ihren Mietwagen gecheckt. Das verdammte Ding ist in LA zugelassen!“
Die unbekannte Frauenstimme schimpfte den Mann ein „fettes Walross“, er nannte sie „Miststück“, worauf sie ihn wütend fragte, wie blöd er denn eigentlich sei und etwas von einem Mietwagen in der Wüste verlauten ließ.
„Alter, lass sie los! Das macht tatsächlich keinen Sinn.“
David horchte auf. Das war die Stimme des Mannes, der ihn geschlagen hatte, während jener unbekannte Mann, der vermutlich hier der Boss war, ihn nach seinen Konten und Passwörtern befragt hatte. Das Gesicht seines Peinigers hatte David zwar nicht gesehen, da dieser eine Maske trug, aber die Stimme hatte er sich umso besser gemerkt. Der Mann erwähnte soeben noch etwas von einem Inlandflug und von Benzin für irgendeinen Wagen.
„Da hören Sie es!“, rief die fremde Frauenstimme aufgeregt. „Loslassen! Nehmen Sie die Pfoten von mir!“
David lauschte angestrengt. War die Frau am Ende wirklich in ernsthafter Gefahr?
Er sah sich suchend in seinem Gefängnis um. Spontan beschloss er, einen Versuch zu starten, um die da oben von ihr abzulenken und stattdessen auf sich aufmerksam zu machen. Auch wenn das für ihn vielleicht Prügel bedeuten würde, wer weiß, wofür das die Aktion am Ende gut war.
Oben wurde es für einen Augenblick ruhiger, und David verstand kaum noch etwas, bis die Stimme der Frau wieder lauter wurde:
„Was haben Sie hier eigentlich für ein Problem? Da wäre immer noch die Möglichkeit, erst zu fragen, bevor man auf unschuldige Leute losgeht, Sie dämlicher Mistkerl!“
„Jetzt reicht’s aber, du blöde…“
Mit aller Kraft schleuderte David den einzigen Stuhl im Raum gegen den Tisch, auf dem noch das Geschirr mit seinen Essensresten stand. Anschließend stemmte er sich gegen den schweren Holztisch, bis dieser krachend umkippte.
Dann hielt er inne und lauschte.
Oben war es augenblicklich still. Sekunden später hörte er die Stimmen wieder. Die „Essen-Frau" sprach von einer Katze, der „Schläger“ schimpfte laut, wobei die Worte „Vieh“ und „Ruhe“ fielen, die unbekannte Frauenstimme sprach von einem „hysterischem Anfall“, doch mehr konnte David nicht verstehen. Oben klappte eine Tür, dann war alles still.
Kurz darauf näherten sich deutliche Schritte der Luke zu seinem Verließ.
Long Beach, North Virginia Waldgebiet
„Siiiiee!“
Der Robbenschnurrbart kam schweratmend ins Zimmer gepoltert und stürzte sich ohne jede Vorwarnung auf Renee. Bevor die junge Frau irgendwie reagieren konnte, hatte er sie bereits grob in den Schwitzkasten genommen. Sie war von dem Angriff völlig überrascht und hatte keine Chance zur Gegenwehr.
„He, was soll denn das?“, rief die hagere, nicht mehr ganz junge Frau, die sich eben zusammen mit dem Latino Renees fingierten Stadtplan anschaute, verblüfft. „Bist du verrückt geworden?“
„Hier ist eindeutig was faul! Sie ist ein verdammter Cop!“
„Waaas?“ Renee versuchte sich vergeblich aus seinem Griff zu winden. „Sind Sie völlig übergeschnappt, Sie Idiot?“
„Wie kommst du denn auf die Idee?“, fragte der Latino nicht weniger überrascht.
„Sie sagte, sie kommt aus Vegas!“, schnaufte der Robbenbart. „Ich habe eben ihren Mietwagen gecheckt. Das verdammte Ding ist in LA zugelassen!“
„Weil ich mit dem Flieger in LA gelandet bin, Sie fettes Walross!“, schimpfte Renee ungeniert und trat ihren Widersacher mit dem Absatz ihrer Pumps gegens Schienbein, was ihm ein schmerzhaftes Stöhnen entlockte.
„Miststück!“
„Wie blöd sind Sie eigentlich, he?“, fauchte Renee unbeirrt. „Glauben Sie ernsthaft, ich fahre die ganze Strecke mit einem Mietwagen durch die Wüste?“
„Alter, lass sie los“, knurrte der Latino und verdrehte genervt die Augen. „Das macht tatsächlich keinen Sinn. Ein Inlandflug von Vegas nach LA kostet weniger als Miete und Benzin für einen verdammten Wagen.“
„Da hören Sie es! Loslassen! Nehmen Sie die Pfoten von mir!“
Sichtlich widerwillig ließ der Robbenbart Renee los.
„Mh, nichts für ungut., Lady. Heutzutage muss man eben vorsichtig sein.“
Sie rieb sich ihren Arm und maß ihren Angreifer mit wütendem Blick.
„Was haben Sie hier eigentlich für ein Problem? Da wäre immer noch die Möglichkeit, erst zu fragen, bevor man auf unschuldige Leute losgeht, Sie dämlicher Mistkerl!“
Der Robbenbart machte einen Satz nach vorn.
„Jetzt reicht’s aber, du blöde…“
Ein lautes Poltern, das von unterhalb des Raumes zu kommen schien, ließ alle Anwesenden schlagartig verstummen.
„Was war das denn?“, fragte Renee sofort neugierig, als sie bemerkte, wie sich die anderen sichtlich erschrocken verstohlene Blicke zuwarfen.
„Die Katze!“, rief die hagere Frau und nickte heftig. „Ich muss sie versehentlich im Keller eingesperrt haben!“
„Na los, mach schon, bring das verdammte Vieh zur Ruhe!“, fauchte der Latino und wandte sich mit einem aufgesetzten Lächeln an Renee. „Gehen Sie jetzt, Gnädigste! Wir können Ihnen nicht weiterhelfen. Fragen Sie woanders nach der Adresse!“
Renee blickte gespannt von einem zum anderen und nickte dann.
„Okay, ist wahrscheinlich auch besser, bevor Ihr Freund noch einen weiteren hysterischen Anfall bekommt. Einen schönen Tag noch!“
So schnell sie konnte verließ Renee das Grundstück, eilte zu ihrem Wagen und startete den Motor.
Zwei Querstraßen weiter hielt sie an und griff nach ihrem Handy.
„Dylan? Renee hier.“
„Dem Himmel sei Dank! Wo bist du?“
„Im Wagen. Im Nebengebäude sind drei Leute, zwei Männer, eine Frau, vermutlich alle bewaffnet.“
„Okay. Ist bei dir alles in Ordnung?“
„Na klar. Übrigens, David befindet sich vermutlich in einem Raum unter der Küche.“
„Wie kommst du darauf?“
„Die Frau sprach von einer eingesperrten Katze, aber so wie das da unten gepoltert hat, war das wohl eher jemand, der mit dem Lärm gezielt auf sich aufmerksam machen wollte.“
„Super! Aber jetzt verzieh dich schleunigst und warte am vereinbarten Treffpunkt.“
„Geht ihr rein?“
„Das liegt nicht mehr so ganz in unserer Gewalt.“
„Was soll das denn jetzt bedeuten?“
„Das bedeutet...“ Dylan atmete tief durch und sah sich um. „Wir haben überraschend Verstärkung bekommen.“
„Wen denn? Jack?“
„Nein, Jack ist schon im Haus.“
„Was tut er denn da?“
„Er hat eine Privat-Audienz beim Boss.“
Renee schüttelte verständnislos den Kopf.
„Ich versteh kein Wort! Was zum Geier…“
„Später, Baby“, würgte Dylan seine Partnerin ab und wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit den schwerbewaffneten Männern, die um ihn herumstanden und das Gespräch mit unbewegt finsteren Mienen verfolgten. „Jetzt muss ich erst einmal den freundlichen Herren vom Sondereinsatzkommando des FBI klarmachen, um was es hier eigentlich geht!“