Medical Center
„Jason!“
Ungeduldig auf die Uhr schauend stand Dr. Niklas Stevenson mit seinem Gefolge auf dem Flur vor dem Schwesternzimmer, als sein Praktikant angehetzt kam, während er noch eilig die letzten Knöpfe seines weißen Kittels schloss.
„Wie wäre es mit etwas mehr Pünktlichkeit? Wir haben schließlich einen Plan zu erfüllen!“
„Sorry Chef“, schnaufte Jason und verdrehte die Augen. „Aber meine Ablösung im Lifeguard-Turm hat mich versetzt und ich musste erst herumtelefonieren, um Ersatz zu bekommen!“
„Es interessiert mich nicht, was Sie diesmal wieder für eine Ausrede haben“, erwiderte Nick ungerührt. „Beeilen Sie sich gefälligst, ich brauche noch eine Unterschrift von Ihnen.“
Er rauschte mit seinen Unterlagen zurück ins Schwesternzimmer.
Unwillig folgte ihm Jason nach.
„Schlechte Laune, Chef?“, fragte er, während er das benötigte Formular eilig ausfüllte.
„Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht, aber ich habe letzte Nacht kaum geschlafen.“
Jason nickte beiläufig und grinste heimlich.
„Ja, an die Hitze hier muss man sich eben erst gewöhnen, wenn man aus dem ungemütlich kalten Osten kommt!“
„Nein, das ist es nicht. Die Hitze macht mir nichts aus“, entgegnete Nick und nahm das Formular wieder entgegen. „Meine Verlobte hat eine Wohnung für uns gefunden, und heute ziehen wir um. Ich hasse solche Aktionen!“
Obwohl das Wort „Verlobte“ bei Jason immer noch eine gewisse Übelkeit verursachte, frohlockte er doch innerlich. Alles war gut, was diesem arroganten Besserwisser Stress verursachte und ihm aus dem Gleichgewicht brachte. Insgeheim wünschte er ihm für den heutigen Abend das perfekte Chaos an den Hals. Laut aber sagte er:
„Wird schon nicht so schlimm werden, Doc. In Destiny Beach gibt es schöne Wohnungen. Ihre Verlobte wird sicherlich genau das Richtige ausgesucht haben!“
Zu seiner Überraschung kratzte sich Nick etwas verlegen am Kinn. Die Sache schien ihm anscheinend wirklich zu schaffen zu machen.
„Eine Wohnung ist es nicht direkt. Mehr so... so eine ... Pension. Na ja, um diese Zeit ist es wohl schwierig, etwas Geeignetes zu finden.“
Jason hätte vor Lachen platzen können. In mühevoll geheuchelter Anteilnahme nickte er.
„Was soll`s, für den Anfang ist das doch auch nicht schlecht. Irgendwann werden Sie sich ganz sicher etwas Eigenes leisten können, und die meiste Zeit verbringen Sie ja sowieso hier in der Klinik.“
Nick starrte ihn an, atmete schwer und verließ wortlos das Schwesternzimmer.
Einen kurzen Moment lang tat er Jason fast ein bisschen leid, doch dann zog wieder ein Grinsen über das Gesicht des jungen Mannes.
„Pension“, meinte er und zwinkerte Lucy, die eben das Zimmer betrat, verschwörerisch zu. „Er zieht heute Abend in eine Pension! Die armen unschuldigen Mieter, die mit unserem Doktor „Allwissend“ künftig zusammen unter einem Dach leben müssen, kann ich wirklich nur zutiefst bedauern!“
Lucy schüttelte tadelnd den Kopf.
„Ach was“, meinte sie schmunzelnd. „Vielleicht ist er ja nur dienstlich so. Privat sind manche Leute mitunter ganz anders.“
Just in diesem Augenblick rief Dr. Stevenson auf dem Flur draußen bereits wieder ungeduldig den Namen seines Praktikanten.
„Der garantiert nicht“, knurrte Jason im Brustton der Überzeugung und verließ eilig den Raum.
SUN CENTER
„Die Steaks sind fertig!“, rief Alli durch die spaltbreit geöffnete Küchentür, während gleichzeitig ein köstlicher Duft durchs Haus zog.
Tom kam in halsbrecherischem Tempo das Treppengeländer hinuntergerutscht, stibitzte im Vorübergehen die Zeitung, die Jack eben entspannt auf der Couch im Wohnzimmer las und warf sie auf den Tisch.
„Essen fassen, Alter! Los, beweg dich!“
Mit ungeahnter Geschwindigkeit sprang Jack auf und packte den Störenfried am Kragen. Übermütig miteinander rangelnd erreichten sie die Küche, wo Alli soeben die verführerisch duftenden Steaks auf die Teller verteilte. Lachend schüttelte sie den Kopf über das alberne Verhalten ihrer beiden Mitbewohner.
„Nun hört schon auf! Ein Rudel hungriger Wölfe wirkt geradezu zahm gegen euch!“
Tom knurrte zum Spaß und umkreiste sie, als sie die Bratpfanne wieder abstellte. Sobald sie die Hände frei hatte, umfasste er ihre Taille und schwenkte sie herum.
Zappelnd befreite sie sich.
„Noch so eine Aktion, und du bekommst gar nichts, nicht einmal Nachtisch!“
„Was ist denn hier los?“, fragte Jason, der eben hereinkam, erstaunt.
„Ich kämpfe um mein Abendessen“, grinste Tom, und während Alli zum Spaß warnend nach der Bratpfanne griff, fügte er schnell hinzu: „…und um mein Leben!“
Angesteckt von der guten Laune der anderen setzte sich Jason an den Tisch und ließ es sich schmecken.
„Mh... köstlich!“ Zufrieden kauend spießte Jack ein weiteres Stück Fleisch auf seine Gabel und nickte anerkennend. „Woher wusstest du so genau, wie ich meine Steaks mag, Schatz?“
Alli warf die Steakgabel, mit der sie soeben das restliche Fleisch in der Pfanne gewendet hatte, spielerisch in die Luft und fing sie gekonnt wieder auf.
„Ich weiß viel mehr über dich, als du ahnst, Liebling“, ging sie auf seine Neckerei ein. Er zwinkerte ihr über den Tisch hinweg verschwörerisch zu, und sie lächelte, froh darüber, dass er nach ihrem nächtlichen Streit anscheinend nicht mehr böse auf sie war. Sie hatten seitdem noch keine Gelegenheit gehabt, allein miteinander zu reden, denn Jack war vor ein paar Minuten erst von einem Besuch an seiner Universität in LA nach Hause gekommen, während Alli den Tag am Strand verbracht und dann spontan beschlossen hatte, ihre Mitbewohner mit einem zünftigen Abendessen zu überraschen. Zu den Steaks gab es Pommes und frischen Salat, und die drei jungen Männer langten tüchtig zu.
„Gibt es Nachschlag?“, fragte Tom mit vollem Mund und hob hoffnungsvoll seinen Teller.
„Das ist ja wohl die Höhe“, beschwerte sich Jason. „Verfressen ist bei dir noch ein Kompliment!“ An Alli gewandt meinte er lachend: „Du darfst ihn nicht so gut füttern, sonst platzt er aus der Badehose!“
Jack rieb sich seinen Bauch und lehnte sich schmunzelnd zurück.
„Das befürchte ich bei mir allerdings auch. Vielleicht wäre es besser, etwas für unsere neuen Mitbewohner aufzuheben, sozusagen als nette Begrüßung!“
„Stimmt“, rief Tom. „Das hätte ich fast vergessen, wir haben ja ab heute zwei neue Mieter! Los, Jack, erzähl mal, wer sind sie, und woher kommen sie?“
In diesem Moment klingelte es draußen an der Tür.
Vor dem SUN CENTER
„Nick, das hier ist unser vorläufiges neues Zuhause!“, rief Selina begeistert und wies auf das einstöckige, weißverputzte Strandhaus am Ende der Ocean Avenue. Auf den ersten Blick schien es nicht allzu groß, und Nick hoffte inbrünstig, dass sich Selina vielleicht geirrt hätte und hier unmöglich ausreichend Wohnraum für mindestens sechs Leute vorhanden wäre, doch dann bemerkte er zu seinem Leidwesen, dass das sogenannte „SUN CENTER“ etwas verwinkelt gebaut war und hinter der Ecke zudem eine wunderschöne Veranda mit Blick aufs Meer zu bieten hatte. Über der Doppelgarage war anscheinend sogar noch ein Appartement zusätzlich ausgebaut worden.
„Schau mal, ist das nicht hübsch?“ Selina wies auf die kunstvoll aufgemalte Sonne über der Eingangstür. „Es wirkt so fröhlich!“
Nick rümpfte verächtlich die Nase. Er vermochte weder dem Haus noch der ganzen Situation irgendetwas Fröhliches abzugewinnen.
„Ja, sehr hübsch“, knurrte er übellaunig und ignorierte ihren warnenden Blick. „So fröhlich wie auf einem Rummelplatz. Dr. Niklas Stevenson, zu finden in einer Surfer-WG am Ende der Welt, direkt unter der aufgemalten Sonne. Also ich weiß nicht, Selina...“
Doch bevor er noch etwas sagen konnte, hatte sie bereits auf den Klingelknopf gedrückt.
„Es wird dir hier gefallen, glaub mir!“
SUN CENTER
„Herzlich willkommen im SUN CENTER!“, grüßte Jack freundlich, als er den Neuankömmlingen die Tür öffnete. „Kommt rein, ihr beiden, und fühlt euch wie zu Hause.“
„Das wird nicht ganz einfach, befürchte ich“, murmelte Nick so leise, dass nur Selina es hören konnte, doch sie ignorierte die Bemerkung und stellte die beiden Männer stattdessen einander vor.
„Jack Bennett, unser Vermieter – Niklas Stevenson, mein Verlobter.“
Etwas widerwillig ergriff Nick Jacks Hand, die dieser ihm reichte.
„Ich bin Doktor Niklas Stevenson.“
Jack stutzte kurz, sagte aber nichts. Stattdessen half er spontan, die vier großen Reisekoffer mit hereinzutragen.
„Ist das alles?“, fragte er beiläufig.
„Momentan brauchen wir nicht mehr als unsere ganz persönlichen Sachen aus Chicago“, erwiderte Nick frostig. „Das hier ist für uns ja nur eine Übergangslösung. Wir werden uns so bald wie möglich nach einem eigenen Haus umsehen, und dann kümmern wir uns um eine Einrichtung.“
„Ah ja.“ Jack bemerkte, wie Selina ihrem Verlobten einen wütenden Blick zuwarf.
„Nick muss sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass wir in eine Wohngemeinschaft ziehen.“ meinte sie entschuldigend.
Jack unterdrückte ein Grinsen. Genau diese Befürchtungen hatte er auch gehabt, als Selina gestern so spontan und ohne Rücksprache mit ihrem Verlobten den Vertrag unterschrieb. Und nun stellte sich heraus, dass dieser Verlobte, der momentan so aussah, als hätte er eine Miesmuschel verschluckt, vor seinem Namen auch noch einen dicken Doktortitel trug, auf den er anscheinend ziemlich viel Wert zu legen schien.
„Ihre Vorgängerin war auch Ärztin“, versuchte er die Situation etwas zu entspannen, doch Nick schnaufte nur.
„Was ist mit ihr passiert? Hat sie den Hausschlüssel verloren?“
„Nein, sie ist weggezogen, aus beruflichen Gründen“, erwiderte Jack gelassen und wechselte schnell wieder das Thema. „Also wir teilen uns hier ein Badezimmer mit Dusche, außerdem diesen offenen Wohnbereich und die angrenzende Küche, ansonsten hat jeder seine eigene Privatsphäre“, erklärte er und fügte mit einem gewissen Sarkasmus hinzu: „Allerdings wäre es ratsam, den Lieblingsjogurt im Kühlschrank mit einem Zettel zu versehen, ansonsten könnte es passieren, dass er gewissen ausgehungerten Mitbewohnern zum Opfer fällt.“
Selina lachte, doch Nick verzog keine Miene, sondern sah sich in dem geräumigen Wohnbereich um, als führte man ihn geradewegs in die Todeszelle des Bezirksgefängnisses.
„Ich werde wahrscheinlich nicht allzu oft hier sein“, erklärte er mürrisch. „Die meiste Zeit werde ich in der Klinik gebraucht.“
Jack stellte die Koffer an der Treppe ab und atmete tief durch.
Dieser Kerl ging ihm jetzt schon auf die Nerven! Es wäre wirklich besser gewesen, Selina hätte ihren Herrn Doktor vorher in ihre spontanen Pläne eingeweiht. Dieser miesepetrige Stockfisch passte genauso wenig in die Gemeinschaft des SUN CENTERS wie an die Seite dieser hübschen, lebenslustigen jungen Frau, und wenn es sich bei ihm wirklich um jenen neuen Chefarzt handelte, dem Jason neuerdings als Praktikant zugeteilt war, so tat ihm sein Freund von ganzem Herzen leid!
`Aber was soll`s`, dachte er sich und straffte die Schultern. Schließlich musste dieses große Haus durch Mieteinnahmen finanziert werden, und irgendwie würde man sich schon miteinander arrangieren.
„Nick, Selina, ich werde euch jetzt kurz mit euren Mitbewohnern bekannt machen. Sie sind alle in der Küche beim Abendessen. Hier entlang bitte.“
Er wies auf die Küchentür und öffnete sie schwungvoll.
„Hey Leute, hört auf zu schmatzen und begrüßt unsere neuen Mieter. Selina Wood und Doktor Niklas Stevenson aus Chicago! Sie werden die beiden Verbindungszimmer am Ende des Flures bewohnen.”
Augenblicklich trat knisternde Stille ein.
Alle drehten sich neugierig nach den neuen Mitbewohnern um, doch bevor jemand etwas sagen konnte, gab es einen lauten Knall. Jasons Tasse, aus der er eben seinen Tee getrunken hatte, zerbarst auf dem Fußboden in tausend Stücke. Er selbst starrte fassungslos auf die beiden Neuankömmlinge, unfähig ein Wort zu sagen.
Selina schien es genauso zu gehen, und Nick stöhnte schmerzlich auf.
„Stone...“, brachte er mühsam heraus. „Was zum Teufel tun Sie denn hier?“
„Dasselbe könnte ich Sie fragen, Chef!“, knurrte Jason nach ein paar Sekunden, die allen wie eine Ewigkeit erschienen. „Haben Sie mir nicht vorhin in der Klinik erzählt, Sie ziehen in eine... Pension?“
Sein Blick wanderte zu Selina, die instinktiv hilfesuchend nach Nicks Hand gegriffen hatte, doch bevor er noch etwas sagen konnte, rettete Alli geistesgegenwärtig die peinliche Situation.
„Selina, was für eine nette Überraschung!“, rief sie freudig, sprang auf und umarmte die Freundin spontan. „Welch ein Zufall, wir beide im selben Haus! Ich freue mich!“
„Ich mich auch, Alli“, erwiderte Selina, sichtlich erleichtert darüber, Jasons finsterem Blick zu entgehen. „Du bist also die junge Frau, von der Jack erzählt hat, dass sie erst seit kurzem hier wohnt.“
„Und ich bin Tom Shepard“, mischte sich Tom ein und reichte den beiden Neuankömmlingen die Hand. „Herzlich willkommen in unserer Wohngemeinschaft!“
Nick grinste säuerlich.
„Na, vielen Dank.“
Tom klopfte dem Doktor in seiner direkten Art freundschaftlich auf die Schulter.
„Ach kommen Sie, Doc, so schlimm ist es hier bei uns gar nicht. Ich finde es wirklich gut, dass endlich wieder ein Arzt im Haus ist, nachdem uns Aileen Ling verlassen hat.“
„Dr. Ling also“, wiederholte Nick nachdenklich und nickte dann. „Stimmt, ich habe ihre Praxisräume in der Klinik übernommen.“
Jack rückte zwei Stühle zurecht und forderte seine neuen Gäste mit einer einladenden Handbewegung zum Hinsetzen auf, während Alli damit begann, die Einzelteile der heruntergefallenen Tasse aufzusammeln. Sie hatte die Blicke zwischen Selina und Jason bemerkt und versuchte, die peinliche Situation etwas zu entschärfen.
„Scherben bringen Glück“, scherzte sie lachend und warf die Überreste von Jasons Tasse in den Mülleimer. „Also wenn das keine angemessene Begrüßung war!“ Sie bemerkte den grimmigen Blick ihres sonst so freundlichen Mitbewohners und räusperte sich verlegen. „Ich hole dir eine andere Tasse, Jason.“
„Nein danke, bemüh dich nicht. Ich bin hier fertig.“
Er erhob sich abrupt von seinem Stuhl, während er Selina mit einem weiteren finsteren Blick bedachte. „Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet, ich werde den Rest des Abends im DESTINY NIGHT verbringen.“
Grußlos ging er hinaus und ließ die Tür geräuschvoll ins Schloss fallen.