LeAnn`s Coffeeshop
„Schön, Sie wiederzusehen“, begrüßte LeAnn Alli sichtlich erfreut. „Und wie war Ihre erste Nacht in unserer Stadt?“
Alli lachte.
„Dank der Adresse, die Sie mir gaben, habe ich ein sehr schönes Quartier gefunden und werde vielleicht doch etwas länger bleiben.“
„Das freut mich für Sie“, strahlte LeAnn und eilte, den Kaffee für die Damen zu holen.
Selina sah sich indessen erstaunt in dem kleinen Bistro um.
„Das ist ja urig“, meinte sie anerkennend. „Eine richtige Wohlfühl-Oase.“
Alli lächelte zustimmend.
„Das selbe habe ich auch gedacht, als ich gestern hier zum ersten Mal hereinkam.“
Überrascht suchte Selina ihren Blick.
„Habe ich das eben richtig verstanden, du bist gestern erst angekommen?“
„Ja, gestern Nachmittag.“
„Na so ein Zufall! Für meinen Verlobten und mich ist das auch der erste Tag in Kalifornien."
„Und woher kommt ihr?“, fragte Alli interessiert und nickte LeAnn dankend zu, als diese die Kaffeetassen, aus denen das schwarze Gebräu verführerisch duftete, vor ihnen abstellte.
„Aus Chicago“, erzählte Selina und sofort trat ein etwas wehmütiger Ausdruck in ihre schönen dunklen Augen. „Nicklas hat hier einen guten Job angeboten bekommen, und so bin ich ihm eben gefolgt.“
Alli war Selinas Blick nicht entgangen.
„Du wärst lieber in Chicago geblieben, habe ich Recht?“
„Es ist mir nicht leichtgefallen, meine Heimatstadt zu verlassen, aber was tut man nicht alles aus Liebe.“ Selina strich gedankenverloren über das nostalgisch anmutende karierte Platzdeckchen vor sich. „Ich werde mich schon daran gewöhnen. Ich hoffe es zumindest.“
Alli nickte.
„Doch, das wirst du, ganz sicher. Immerhin bist du nicht allein, du hast deinen Verlobten, da ist so ein Neuanfang erträglich.“
„Nicht unbedingt, befürchte ich“, seufzte Selina. „Ich liebe Nick wirklich sehr, aber er ist einer von der Sorte, der in erster Linie mit seiner Arbeit verheiratet ist. Und das macht die Sache nicht unbedingt leicht.“
Alli stöhnte theatralisch und verdrehte die Augen.
„Ein Workaholic? Na toll!“
„Und was ist mit dir? Woher kommst du?“, fragte Selina. Es tat ihr gut, mit jemandem reden zu können, der sie anscheinend gut verstehen konnte.
„Mittlerer Westen“, erwiderte Alli vage. „Ich suche ein neues Zuhause. Man soll sich ja ab und zu verändern.“
„Und wie lange suchst du schon?“
„Ein paar Wochen.“
„Was hat dich von zu Hause vertrieben?“
Alli lächelte.
„Das Fernweh... und eine unglückliche Liebe.“
Das war im Grunde genommen noch nicht einmal gelogen, dachte sie, denn es widerstrebte ihr, dieser netten jungen Frau ihre übliche, zurechtgelegte Lügengeschichte zu präsentieren.
„War er nicht treu?“, fragte Selina mitfühlend.
„Er hat mich verlassen.“
„Möchtest du darüber reden?“
Alli schüttelte den Kopf.
„Sei mir nicht böse, Selina, vielleicht später. Der Tag ist zu schön, um in alten Erinnerungen zu kramen. Erzähl noch ein bisschen von dir. Was hast du in Chicago getan?“
„Ich war Reporterin, und zwar mit Leib und Seele.“
„Reporterin?“ Alli sah sie fast erschrocken an, und Selina grinste.
„Keine Angst, morgen wird gewiss kein Artikel über dich in der Zeitung stehen.“
Sie lachten beide, aber Allis Lachen wirkte plötzlich etwas aufgesetzt. Eine neugierige Reporterin war genau das, was sie in ihrem Leben ganz sicher nicht brauchen konnte. Wenn diese junge Frau nur nicht so sympathisch wäre! Alli vermisste ihre Freunde von früher, ihre Kollegen und…
`Nicht darüber nachdenken!`, schalt sie sich in Gedanken und versuchte sich mit einem Lächeln wieder auf das Gespräch mit ihrer neuen Bekanntschaft zu konzentrieren.
„Was hast du jetzt vor?“, fragte diese soeben interessiert.
„Ich weiß noch nicht genau“, erwiderte Alli. „Vielleicht bleibe ich, vielleicht ziehe ich weiter. Aber den heutigen Tag würde ich gerne einfach nur faul am Strand verbringen.“
Selina hob ihre Kaffeetasse und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
„Alli, ich spüre, wir beide befinden uns auf derselben Wellenlänge. Lass uns schnell austrinken und dann gemeinsam faul sein!“
Medical Center
Den ganzen restlichen Tag trottete Jason mit zusammengebissenen Zähnen hinter seinem neuen Chef her und widerstand nur mit größter Mühe der Versuchung, diesem zu sagen, dass er solch eine Behandlung als absolut unter seiner Würde empfand und sich mit seinen bisherigen medizinischen Kenntnissen bereits zu Höherem berufen fühlte, als sich die ganze Zeit die Erklärungen und Belehrungen des Vorgesetzten anzuhören, der noch dazu kaum älter war als er selbst.
Aileen hatte ihn während seines Praktikums immerhin schon mit einfachen selbstständigen Aufgaben betraut, aber dieser Dr. Stevenson ließ ihn nicht einmal ein Pflaster aufkleben!
Es war frustrierend.
„Na, wie war dein erster Tag mit dem Neuen?“, wollte Lucy dann auch noch überflüssigerweise wissen, als er am Abend endlich die Klinik verließ.
Jason verdrehte die Augen.
„Frag nicht!“
Lucy lachte, und er winkte ihr im Hinausgehen noch einmal zum Abschied zu, als er an der Tür mit jemandem heftig zusammenstieß.
„Autsch!“ Die junge Frau taumelte erschrocken zurück, und Jason fing sie geistesgegenwärtig auf.
„Bitte entschuldigen Sie vielmals...“, begann er, doch dann sah er zu seiner großen Überraschung, wen er da vor sich hatte.
Das faszinierende Mädchen vom Strand!
Auch sie schien überrascht, denn ihr wütender Gesichtsausdruck verschwand schlagartig.
„Sie haben es aber mächtig eilig“, zog sie ihn auf und lächelte bezaubernd. „Ähm... Sie können mich jetzt loslassen, ich falle nicht um!“
Verwirrt bemerkte Jason, dass er sie noch immer festhielt. Etwas verlegen ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.
„Selina“, grinste er und nickte. „Ihr Name ist Selina, richtig?“
„Richtig.“ Sie sah ihn an und schien einen Moment zu überlegen.
„Jason, der Lebensretter!“
„Ach was.“ Irgendwie brachte sie ihn mit ihren großen dunklen Augen total aus dem Gleichgewicht. „Das war doch nichts. Ich habe nur meinen Job gemacht“, stammelte er verlegen und kam sich dabei total idiotisch vor.
Selina lächelte.
„Ich finde, Sie haben ihn sehr gut gemacht“, erwiderte sie mit ihrer rauchigen Stimme, die ihm so gefiel. Überhaupt gefiel ihm irgendwie alles an ihr.
„Bleiben Sie länger in Destiny Beach?“, fragte er, um nicht nur dazustehen und sie anzustarren.
Sie nickte.
„Ja, ich denke schon. Eine hübsche kleine Stadt. Mit netten Leuten.“
Da war wieder dieser Blick, und Jason wurde ganz flau im Magen.
´Sag irgendwas!´, rief seine innere Stimme, ´Lad sie ein, lass sie nicht weg...´
Doch Selina kam ihm erneut zuvor.
„Ich muss los“, sagte sie und reichte ihm zum Abschied die Hand. „Hat mich gefreut, Sie wiederzusehen, Jason.“
„Ja, mich auch. Bis irgendwann!“
Er sah ihr nach, wie sie den Eingang passierte und zu Lucy an den Empfangstresen trat.
´Was für eine Frau!´, dachte er zum hundertsten Male. ´Und sie bleibt in der Stadt!´
Als er den Heimweg antrat, hatte er plötzlich Schmetterlinge im Bauch und fühlte sich so beschwingt wie schon lange nicht mehr.
Der Ärger mit seinem neuen Chef war vergessen.
SUN CENTER
Jack war den ganzen Tag im Auftrag der großen, ortsansässigen Immobilienfirma CEC Corporation unterwegs gewesen.
Der plötzliche Unfalltod von Jonathan Cabott, einem der drei Firmenbosse, hatte unerwartete Veränderungen heraufbeschworen, die mit Sicherheit noch eine Menge Ärger nach sich ziehen würden.
Jack hatte mitbekommen, dass David Edwards und George Carrington, die beiden verbliebenen Geschäftspartner, deswegen am Vormittag einen heftigen Streit miteinander gehabt hatten, und er konnte sich nur allzu gut vorstellen, worum es dabei gegangen war.
Die Mitarbeiter der Firma munkelten inzwischen schon etwas von Firmenspaltung und dergleichen und waren ziemlich verunsichert, denn die CEC steckte momentan in der Planung und Umsetzung eines riesigen Projektes und konnte sich finanzielle Einbußen, egal welchen Ausmaßes, keinesfalls leisten.
Sollte es allerdings wirklich dazu kommen, dann wusste Jack, was er zu tun hatte, denn seine volle Loyalität und sein Vertrauen galt David Edwards, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband, seit dieser vor Jahren aus Schottland nach Kalifornien gekommen war und sich hier eine Existenz aufgebaut hatte. David war ein kompetenter und teils auch kompromissloser Geschäftsmann, aber er war ehrlich und bodenständig geblieben und hatte sich nie auf irgendwelche dubiosen Geschäfte eingelassen, um sich zu bereichern.
Von ihm hatte Jack auch seinen Job als Leiter des Sicherheitsdienstes der CEC bekommen, mit dem er sein Jurastudium finanzierte. Er arbeitete gern hier, aber er bekam zwangsläufig auch das Eine oder Andere mit, das nicht für fremde Ohren bestimmt war und ihm zu denken gab. Irgendwelche dunklen Machenschaften waren im Gange. Allerdings vermochte er bislang noch nicht genau zu sagen, um was es dabei im Einzelnen ging, deshalb hatte er auch David gegenüber noch keinen speziellen Verdacht geäußert, aber er befürchtete, dass George Carrington etwas plante, was seinem Freund bestimmt nicht gefallen würde.
Zudem vermutete er, dass bei Jonathans tödlichem Unfall jemand nachgeholfen hatte, doch dazu fehlten leider bislang jegliche Beweise.
Aus diesem Grund hatte er vorsichtig damit begonnen, heimliche Nachforschungen anzustellen. Wem auch immer der stets korrekte und grundehrliche Jonathan Cabott im Wege gewesen sein mochte, derjenige würde auch vor David Edwards nicht Halt machen…
Nun, Jack hatte vor, Augen und Ohren weit offen halten, um seinen Freund gegebenenfalls rechtzeitig warnen zu können.
Als er ins SUN CENTER zurückkam, duftete es zu seiner Überraschung im ganzen Haus bereits herzhaft nach gebratenen Steaks mit Zwiebeln und Röstkartoffeln.
Alli stand am Herd und drehte sich lächelnd um, als er die Küche betrat.
„Das Abendessen ist gleich fertig“, verkündete sie. „Weißt du, wann die anderen beiden heimkommen?“
„Keine Ahnung, aber ich bin sicher, es wird ihnen verdammt leidtun, wenn sie sich heute verspäten“, erwiderte Jack und sah ihr neugierig über die Schulter. „Mmh, das sieht wirklich fantastisch aus!“
„Ich war vorhin in dem kleinen Supermarkt zwei Straßen weiter und habe unsere Vorräte ein wenig aufgefüllt“, erklärte Alli. „Es fehlte so einiges in eurer Männerwirtschaft!“
„Ich bin beeindruckt.“ Jack griff sich eine Gabel und naschte von den Röstkartoffeln. „Mmh, lecker! Sieht ganz so aus, als müsstest du doch eine Weile bei uns bleiben.“
„Irgendwie gefällt mir Destiny Beach“, sagte sie und wendete die Kartoffeln um. „Ich habe heute eine junge Frau kennengelernt, die genauso neu in der Stadt ist wie ich. Wir haben uns sehr nett unterhalten und waren gemeinsam am Strand. Sie ist mit ihrem Verlobten von Chicago hergezogen.“
„Von Chicago!“, staunte Jack. “Das nenne ich eine Verbesserung! Dort regnet es doch andauernd.“
Alli lachte.
„Nun, auch wenn das deine Vorstellungskraft übersteigt, man kann sich auch an anderen Orten der Welt wohlfühlen, nicht nur in Kalifornien.“
Jack verzog scherzhaft das Gesicht.
„Das ist unmöglich!“
Er goss sich ein Glas Orangensaft ein, lehnte sich neben ihr an den Küchentresen und betrachtete sie aufmerksam, während er trank. Sie trug eine blaue ärmellose Bluse, die sie über dem Hosenbund verknotet hatte. Die kurzen ausgewaschenen Jeansshorts brachten ihre langen, schlanken und sonnengebräunten Beine hervorragend zur Geltung. Jack fand sie faszinierend, und er fragte sich insgeheim einmal mehr, aus welchem Grund eine solche Frau mutterseelenallein durch die Welt zog.
„Wenn du hierbleiben willst, dann brauchst du sicher einen Job“, überlegte er laut.
„Keine Sorge, du bekommst pünktlich deine Miete“, erwiderte sie und hantierte weiter am Herd. „Ich werde mir schon etwas suchen.“
„Ich könnte dir dabei helfen“, bot er sich an.
Sie sah erstaunt auf.
„Na ja“ Jack drehte spielerisch das leere Glas in seiner Hand „Du hast gesagt, du bist Arzthelferin, und ich könnte doch im Medical Center nachfragen, ob...“
Alli hielt kurz in ihrer Bewegung inne und knallte dann die Gabel, mit der sie eben die Steaks gewendet hatte, geräuschvoll auf die Arbeitsplatte.
„Nein danke, ich suche mir allein eine Job“, sagte sie mit Nachdruck. „Ich brauche dazu keine Hilfe, von niemandem!“
Erstaunt zog Jack die Augenbrauen hoch und stellte langsam das Glas auf dem Tresen ab. Dann trat er mit ernstem Gesicht so dicht an sie heran, dass sie gezwungen war, ihn anzusehen.
„Hör zu, Alli! Ich wollte mich bestimmt nicht in deine Angelegenheiten einmischen, ich wollte nur helfen. Allerdings solltest du inzwischen gemerkt haben, dass ich nicht zu den Typen gehöre, die für jede Hilfe gleich eine Gegenleistung verlangen!“ Damit drehte er sich um und ging zur Tür.
„Jack, warte!“, rief Alli, und eine Spur von Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. „Es war nicht so gemeint, bitte sei nicht böse. Es ist nur...“ Sie biss sich auf die Lippen und schien einen Augenblick lang verzweifelt nach den richtigen Worten zu suchen, denn es tat ihr leid, dass sie ihn gekränkt hatte. „Ich bin es nicht gewohnt, dass mir jemand hilft, verstehst du? Ich bin... immer allein.“ Die letzten Worte waren kaum mehr als ein ersticktes Flüstern.
Jack kam zurück und legte sacht seine Hände auf ihre Schultern.
„Nein, Alli, das ist nicht wahr, du bist nicht allein. Jetzt nicht mehr.“
Sie hob langsam wieder den Kopf und sah ihn an. Ihre Blicke fanden sich und hielten einander fest.
Ihre Augen waren dunkel und geheimnisvoll, sie zogen ihn magisch an. Er war wie hypnotisiert und vermochte sich nicht von ihrem Zauber loszureißen.
Langsam und vorsichtig, um sie nicht zu verschrecken, hob er die Hand und strich ihr zärtlich mit den Fingerspitzen über die Wange.
Alli ließ es geschehen. Genau wie heute Morgen, als sie in dieser fremden kleinen Stadt aufgewacht war und auf den Strand und das Meer hinausgeblickt hatte, spürte sie einen Moment lang wieder dieses herrliche Gefühl der Geborgenheit, und es tat so unbeschreiblich gut.
In diesem Moment wurde die Tür schwungvoll geöffnet, und Jason kam hereingestürzt.
„Leute, ihr werdet es nicht glauben, aber ich habe sie eben wiedergesehen! Die Frau meiner Träume! Mann, was für ein Tag!“ Er stutzte, als er Jack und Alli so dicht beieinander da stehen sah.
„Oh, tut mir Leid, hab ich euch bei irgendwas gestört?“
Die Magie des Augenblickes war vorüber.
Jack brauchte ein paar Sekunden, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden.
Verlegen trat Alli einen Schritt zurück.
„Ihr könnt schon mal den Tisch decken, das Essen ist gleich fertig“, sagte sie hastig und warf Jack einen fast entschuldigenden Blick zu, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte.
DESTINY INN
Selina erwachte, als jemand leise die Hotelzimmertür öffnete.
„Nick?“, fragte sie und blinzelte verschlafen, nachdem das Licht im Badezimmer eingeschaltet wurde.
„Entschuldige, dass ich dich geweckt habe, Liebling“, sagte er und trat zu ihr ans Bett. „Schlaf weiter!“
„Wie spät ist es eigentlich?“ Sie gähnte und richtete sich auf, um einen Blick auf den Wecker zu werfen.
„Gleich Mitternacht“, erwiderte Nick und strich ihr liebevoll übers Haar. Dann zog er sein Jackett aus und hing es über eine Stuhllehne.
„Mitternacht?“, wiederholte Selina ungläubig. „Warst du etwa bis jetzt in der Klinik?“
„Tut mir leid, aber ich konnte nicht früher weg. Sie sind unterbesetzt, und wir hatten nach Feierabend noch einen dringenden Notfall...“
„Einen Notfall.“ Selina nickte mit bitterem Lächeln. „Als ich dich heute Abend von der Klinik abholen wollte, hast du mir versprochen, du würdest in spätestens einer Stunde nachkommen.“ Da er nicht antwortete, sah sie ihn eindringlich an. „Nicklas!“
„Menschen, die Hilfe brauchen, fragen nicht danach, wie spät es ist“, sagte er ernst. „Ich dachte, das hätten wir geklärt.“
„Ja, natürlich! Aber wir hatten auch besprochen, dass sich mit dieser neuen Stelle hier in Kalifornien unser Leben ändert, und wir etwas mehr Zeit miteinander verbringen!“
Nick atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben, obwohl er sich müde und abgespannt fühlte. Doch er liebte Selina und wollte sie nicht verletzen.
„Aber das tun wir doch“, meinte er versöhnlich. „Sobald sich mit meiner neuen Arbeit alles ein bisschen eingespielt hat! Dann suchen wir uns eine nette Wohnung oder vielleicht sogar ein kleines Strandhaus.“
Sie schnaubte verächtlich.
„Und wie lange soll das dauern?“
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, eine Geste, die zeigte, dass er gestresst war und jetzt keinesfalls mit ihr streiten wollte.
„Hör zu, mein Tag heute war auch nicht einfach. Neue Kollegen, neue Schwestern und dann auch noch dieser Student, so ein neunmalkluger AiPler, der glaubt, nach ein paar Semestern Medizinstudium schon alles besser zu wissen! Ich will einfach nur noch ins Bett und ein wenig schlafen.“
Verletzt drehte sie den Kopf weg.
Nick seufzte.
Es tat ihm leid, dass er sie so angefahren hatte, aber dieses leidige Thema über seine viel zu knapp bemessene Freizeit war schon in Chicago ein ewiger Streitpunkt zwischen ihnen beiden gewesen. Nur hatte Selina dort mit ihrem Job zu tun gehabt und nicht die ganze Zeit über zu Hause auf ihn gewartet.
Er setzte sich auf die Bettkante und legte versöhnlich den Arm um ihre Schultern.
„Hey Baby, sei nicht böse. Komm, erzähl mir, wie dein erster Tag in Destiny Beach war!“
Selina beschloss nicht länger zu schmollen.
„Mein erster Tag in Destiny Beach? Er war... typisch kalifornisch!“, platzte sie heraus und grinste. „Stell dir vor, es hat den ganzen Tag über nicht geregnet! Zuerst habe ich mir unten in der Lobby ein ausgiebiges Frühstück gegönnt, kurz darauf bin ich draußen in ein Motorrad gerannt, habe eine sehr nette junge Frau kennengelernt und war mit ihr Kaffee trinken. Danach sind wir zum Strand und...“
„Du bist... Was?“, fuhr Nick erschrocken hoch und musterte sie. „Was für ein Motorrad? Hast du dir wehgetan? Ist dir etwas passiert?“
„Nein, mir geht es gut.“ Sie lachte schelmisch. „Aber wenn ich es recht bedenke, vielleicht hätte ich mich vorsichtshalber in die Klinik einweisen lassen sollen, dann wäre ich den ganzen Tag in deiner Nähe gewesen!“
„Damit treibt man keine Späße“, ermahnte er sie streng.
Selina verdrehte die Augen.
„Ja, Herr Doktor!“
Nick schüttelte teils amüsiert, teils verständnislos den Kopf und gab ihr einen Kuss.
„Ich bin froh, dass du mich hierher begleitet hast. Glaub mir, Schatz, wir werden uns ganz schnell einleben, du musst dich nur daran gewöhnen, dass du jetzt sehr viel Freizeit hast.“
„Das wird ja nicht lange so bleiben“, erwiderte sie schnell. „Ich werde mir hier einen Job suchen. In der Stadt gibt es eine Pressestelle, und dort...“
„Das ist doch nicht notwendig“, unterbrach er sie sofort. „Du brauchst dir keinen Job zu suchen, ich verdiene genug für uns beide. Gewöhn dich erst einmal in Ruhe an dein neues Leben hier.“
„Ich soll zu Hause herumsitzen?“, rief Selina empört. „Das kannst du vergessen, da fällt mir die Decke auf den Kopf!“
„So schlimm wird es ja nicht sein. Millionen Frauen genießen es, Hausfrau zu sein“, meinte er mit einem gönnerhaften Lächeln, stand auf und verschwand im Bad.
Frustriert sah sie ihm nach.
„Hausfrau!“, knurrte sie so abfällig, als wäre dieser Begriff eine persönliche Beleidigung für sie. „Nein, mein Freund, das kannst du getrost vergessen!“
SUN CENTER
Jemand verfolgte sie, eine dunkle, furchteinflößende gesichtslose Gestalt. Sie versuchte wegzulaufen, doch ihre Füße waren wie Blei und sie kam nicht vorwärts, verstrickte sich immer tiefer in den dunklen Gängen, bis sie kein Licht mehr sah. Zitternd tastete sie sich an einer kalten glatten Wand entlang, immer darauf hoffend, der Unbekannte möge die Verfolgung aufgeben und sie in Ruhe lassen. Sie wusste nicht einmal genau, ob es nur einer war, oder mehrere, sie schienen überall zu sein.
Dann endlich... eine Tür.. Licht… Sie rannte hindurch. Alles war fremd, in dieser Stadt war sie noch nie gewesen, die Straßen waren menschenleer und alles wirkte gespenstisch still. Dann plötzlich wieder Schritte hinter ihr...
Sie fuhr herum und sah mit angstvoll aufgerissenen Augen in die Mündung einer Pistole, die auf ihren Kopf gerichtet war. Noch einmal versuchte sie loszulaufen, als sie merkte, dass sie kurz vor einem Abgrund stand, der in einen tiefen unergründlichen schwarzen Krahl hinunterführte und ihr den Fluchtweg versperrte.
Der Unbekannte kam langsam auf sie zu und trat aus dem Schatten heraus. Sie konnte für einen Moment sein Gesicht sehen. Ein eiskaltes grausames Lächeln umspielte seine Lippen, während er leise sagte:
„Gib endlich auf... Wir beenden es hier und jetzt, Sam. Bei mir bleibt keine Rechnung offen. Ich werde dich töten.“
Er hob langsam die Waffe.
Sie hörte ein metallisches Klicken und schrie, so laut sie konnte...
„Alli! Komm schon, wach auf!“
Sie fuhr hoch, zu Tode erschrocken von ihrem eigenen Schrei und blickte fassungslos in Jacks besorgtes Gesicht. Er saß an ihrem Bett und hatte ihre Schultern umfasst.
„Hey, alles okay?“, fragte er in sanftem Ton und strich ihr das schweißnasse Haar aus der Stirn.
„Ich... ich weiß nicht, es war...“ Völlig erledigt ließ sie es zu, dass er sie beschützend in seine Arme zog.
„Keine Angst, du hast nur schlecht geträumt“, versuchte er sie zu beschwichtigen und hielt sie ganz fest. Als er merkte, dass sie sich langsam beruhigte und aufhörte zu zittern, schob er sie ein Stück von sich, so dass er ihr Gesicht sehen konnte.
„Du hattest einen furchtbaren Albtraum. Du hast laut geschrien.“
Sie nickte.
„Ja, schon gut, ich habe oft solche Träume“, erwiderte sie leise.
„So schlimm? Und wovon?“
Sie presste die Lippen zusammen.
„Ich... weiß es nicht“, brachte sie schließlich mühsam heraus und befreite sich aus seinen Armen. „Danke, dass du da warst, es geht mir schon wieder besser.“
„Bist du sicher?“, fragte er skeptisch und sah sie prüfend an, doch sie nickte nur heftig.
„Okay“ Er stand auf und ging zögernd zur Tür. „Wenn du mich brauchst, ich bin nebenan.“
„Ja, ich weiß. Gute Nacht, Jack.“
Sie sah so hilflos und verloren aus, als sie in ihrem Bett saß und ihm mit großen Augen nachsah. Keine Spur von der selbstbewussten, unnahbaren jungen Frau, die er gestern kennengelernt hatte.
Am liebsten wäre Jack wieder umgekehrt und hätte sie erneut beschützend in die Arme genommen, aber er wusste, dass sie gerade das nicht wollte.
„Gute Nacht, Alli“, sagte er leise, fast zärtlich und schloss die Tür hinter sich.
Alli fand in dieser Nacht keinen Schlaf mehr. Sie lag da, starrte die Zimmerdecke an und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis einer dieser immer wiederkehrenden Träume wahr werden und ihre Vergangenheit sie unwiderruflich einholen würde.