Medical Center
„Irgendwelche besonderen Vorkommnisse, während ich fort war?“, erkundigte sich Dr. Nick Stevenson am nächsten Morgen bei Dr. Gregor Finn, seinem Stellvertreter, kurz vor dem alltäglichen Rundgang durch die Krankenzimmer.
Der große dunkelhaarige Arzt slawischer Herkunft stand gerade neben der diensthabenden Schwester hinter dem Empfangstresen und sah seine Termine für die kommende Sprechstunde durch. Als sein neuer Chef ihn ansprach, blickte er hoch und schüttelte den Kopf.
„Nein, alles normal“, erwiderte er in seinem leicht ausländischen Akzent, der ihn, neben seinem angenehmen Äußeren besonders bei den Damen überaus interessant erscheinen ließ. „Keine besonderen Vorkommnisse.“
„Na bestens. Wir beginnen in ein paar Minuten mit der Visite im unteren Flur. Sorgen Sie bitte dafür, dass bis dahin die aktuellen Patientenberichte auf meinem Laptop vorliegen“, wandte sich Nick an die Schwester.
Er wollte schon weitergehen, als ihm plötzlich noch etwas einfiel.
„Wo ist eigentlich dieser voreilige Medizinstudent, mit dem ich gestern den ganzen Tag das zweifelhafte Vergnügen hatte?“
Dr. Finn schien etwas überrascht.
„Sie meinen Jason? Der hat heute frei. Hat er Ihnen nichts gesagt?“
Nick zog irritiert die Stirn in Falten.
„Nein, das hat er nicht.“
„Jason bereitet wie jedes Jahr gemeinsam mit den Rettungsschwimmern das Standfest vor, das am kommenden Sonntag hier stattfindet.“
„Ein Strandfest?“ Nick blickte etwas ungläubig drein. „Hier in Destiny Beach?“
Finn nickte begeistert.
„Dieses Fest organisieren die Lifeguards in jeder Saison, gemeinsam mit der Stadtverwaltung, der Presse und dem ortsansässigen Radiosender. Das ist eines der jährlichen Highlights in der Stadt, mit Musik und verschiedenen Sportveranstaltungen, und am Abend gibt es dann noch ein großes Lagerfeuer am Strand. Die Strandfeste hier sind sehr beliebt, vor allem bei den Touristen, das sollten Sie sich auf gar keinen Fall entgehen lassen!“
„Mal sehen, was sich machen lässt.“ Nick überlegte kurz und sein Gesicht verfinsterte sich erneut. „Was allerdings diesen Jason angeht... In Zukunft dulde ich nicht, dass mein Praktikant wegen der Organisation irgendwelcher Strandfeste hier in der Klinik fehlt. Habe ich mich da klar ausgedrückt?“
„Natürlich“, erwiderte Dr. Finn eilig. „Ich werde es ausrichten.“
DESTINY INN
Lange, nachdem ihr Verlobter das Hotel verlassen hatte, um zur Arbeit zu gehen, stand Selina auf. Reichlich unmotiviert trottete sie zum Fenster und sah hinaus auf die belebte Straße, hinter der das Meer verführerisch in der aufgehenden Sonne funkelte. Vergeblich versuchte sie, diesem herrlichen kalifornischen Morgen die Schönheit abzugewinnen, die ihm gebührte. Schließlich seufzte sie resigniert und blickte zur Uhr. Um diese Stunde war sie daheim immer schon lange auf den Beinen gewesen, stets im Kampf gegen die viel zu knapp bemessene Zeit. Aber hier wartete ja niemand auf sie, keine neue Story, der sie hinterherjagen und Recherchen anstellen konnte, kein nörgelnder Chef, dem selbst die reißerischste Sensationsreportage immer noch nicht gut genug war.
„Ich muss etwas tun!“, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild. „Sonst werde ich verrückt oder reise morgen wieder ab!“
Entschlossen erledigte sie ihre Morgentoilette und verließ eine Stunde später frisch gestylt und im modischen Kostüm das Hotel in Richtung Innenstadt.
Auf den Klippen
Jack war mit dem Transporter der CEC auf dem Weg zu einer der Firmenbaustellen außerhalb der Stadt, als er an der Küstenstraße oberhalb der Klippen Allis Motorrad stehen sah. Er stoppte den Wagen und stieg aus, um kurz nach ihr Ausschau zu halten. Wie von selbst schlug er dabei den ihm vertrauten schmalen Pfad zwischen den Bäumen hindurch ein, der zu den Klippen über der Steilküste führte.
Er brauchte nicht lange zu suchen.
Sie saß auf einem Felsvorsprung, der ihr einen phantastischen Ausblick auf das Meer und einen Teil der Stadt bot.
Hier oben war ein herrlicher Platz. Jack kannte ihn gut, schon als Kind hatte er sich gerne hierher zurückgezogen, wenn er Probleme hatte und allein sein wollte.
Nur ein einziges Mal war er mit Aileen hier gewesen, und sie hatten sich den Sonnenuntergang zusammen angesehen.
Später, als sie ihn und Destiny Beach verließ, war er wieder hergekommen. Fast die ganze Nacht hindurch hatte er hier gesessen und sich vergeblich einzureden versucht, dass sich die Welt für ihn fortan auch ohne Aileen Ling weiterdrehen würde.
Nun hatte Alli diesen Platz entdeckt, welch ein Zufall!
Sie schien ihn noch nicht bemerkt zu haben. Völlig in Gedanken versunken saß sie da, während der Sommerwind mit ihrem schulterlangen Haar spielte.
Redaktion des SENTINEL
Die lokale Pressestelle des SENTINEL, der Tageszeitung von Destiny Beach, befand sich in einem der Nebengebäude der erfolgreichen Immobilienfirma CEC Corporation.
Die Angestellte in der Empfangshalle blickte interessiert auf, als eine ihr unbekannte, elegant gekleidete junge Frau auf sie zutrat.
„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte sie mit honigsüßer Stimme und musterte die fremde Dame abschätzend.
Jung - attraktiv – selbstbewusst – neu in der Stadt! Das waren die Fakten, die sie auf den ersten Blick in ihrem Gedächtnis speicherte.
Die Dame blickte sie an, als könne sie Gedanken lesen.
„Mein Name ist Selina Wood, und ich möchte gern den Herausgeber des SENTINEL sprechen.“
„Haben Sie einen Termin?“
„Nein.“
„Mh...“ Die Empfangsdame wiegte bedenklich den Kopf. „Das dürfte schwierig sein. Mister Carrington ist ein vielbeschäftigter Mann, müssen Sie wissen. Ihm obliegt nicht nur unsere Pressestelle, er leitet auch die CEC CORPORATION.“
Selina nickte sichtlich unbeeindruckt.
„Umso besser. Und wo finde ich diesen Mister Carrington?“
Wider willens musste die Sekretärin lächeln. Die Dame hatte Courage. Das imponierte ihr.
„Da entlang bitte“, sagte sie und wies auf eine breite Glastür, die ins Hauptgebäude hinüberführte. „Fahren Sie mit dem Lift in die obere Etage, dort befindet sich sein Büro. Vielleicht kann Ihnen Brenda weiterhelfen. Sie ist die persönliche Assistentin von Mister Carrington.“
„Vielen Dank.“
„Keine Ursache, Miss... Wood. Viel Glück!“
Die Angestellte hinter dem Empfangstresen sah der Dame nach und grinste.
Glück, das würde sie brauchen, um an Brenda vorbeizukommen.
Auf den Klippen
Jack blieb stehen und beobachtete Alli schweigend, um sie nicht zu erschrecken.
Er musste an den furchtbaren Albtraum denken, aus dem sie letzte Nacht völlig aufgelöst erwacht war. Was mochte sie wohl in der Vergangenheit erlebt haben, wenn derart schlimme Träume sie quälten? Vielleicht würde er niemals eine Antwort bekommen, denn sie war merkwürdig verschlossen, wenn man ihr eine Frage stellte, die ihr Leben betraf.
Man konnte fast meinen, sie sei vor irgendetwas oder irgendwem auf der Flucht.
Doch er wollte sie nicht fragen, denn er befürchtete, dass sie dann vielleicht ihre Sachen packen und wieder verschwinden würde. Diese Vorstellung gefiel ihm gar nicht, und er fragte sich zum wiederholten Male, wieso ihn diese fremde junge Frau, die er doch eben erst kennengelernt hatte, derart faszinierte. Noch dazu, wo er sich doch nach seiner gescheiterten Beziehung zu Aileen überhaupt nicht wieder verlieben wollte!
`Solange man keine Gefühle investiert, kann einem auch niemand weh tun! `, lautete seine neue Devise, und er hatte sich fest vorgenommen, künftig genau danach zu handeln.
Ein prickelnder Flirt, ein kurzes Miteinander – die Betonung lag immer auf dem Wort „kurz“, so sollte das eigentlich ganz gut funktionieren.
Hatte, wollte, sollte – verdammt nochmal! Wo waren seine Prinzipien geblieben?
Allison Tyler war einfach von irgendwo her hier aufgetaucht und mitten in sein Leben geplatzt, sie hatte nicht einmal mit ihm geflirtet, ganz im Gegenteil, und trotzdem schlug sein Herz höher, wenn sie nur in seiner Nähe war.
Ob sie auch etwas für ihn empfand?
Sie hatte ihn neulich so angesehen...
Oder hatte er sich das nur eingebildet? Und selbst, wenn, konnte man einen rastlosen Menschen wie sie halten?
Jack wusste darauf keine Antwort, er war sich jedoch ziemlich sicher, dass er gut auf sie achtgeben und für sie da sein würde, soweit und solange sie es zuließ.
Er wollte gerade zu ihr hinübergehen, als er auf einen morschen Ast trat, der ein knackendes Geräusch verursachte.
Blitzschnell fuhr Alli herum, und zu seiner Überraschung blickte Jack plötzlich mitten hinein in die Mündung einer ziemlich echt aussehenden kleinkalibrigen Waffe.
CEC Corporation
Die Türen des Liftes öffneten sich fast geräuschlos, und Selina betrat ein großzügig und modern eingerichtetes helles Vorzimmer.
Hinter einem überdimensionalen Schreibtisch zwischen zwei riesigen Grünpflanzen thronte eine grell geschminkte, hochnäsig dreinschauende Blondine Anfang Dreißig, die eifrig ihre Fingernägel manikürte, als gäbe es momentan nichts Wichtigeres auf der Welt. Flüchtig sah sie auf und maß ihr Gegenüber mit einem abweisenden Blick.
„Die Anzeigenannahme ist unten rechts“, meinte sie eilig, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen.
„Ich möchte keine Anzeige aufgeben. Jedenfalls vorerst nicht“, erwiderte Selina freundlich.
„Was kann ich dann für Sie tun?“, fragte die Sekretärin ungeduldig.
Ihr Gegenüber trat lächelnd näher.
„Mein Name ist Selina Wood, und ich hätte gerne Ihren Boss gesprochen.“
Die Vorzimmerdame zog missbilligend die Augenbrauen nach oben.
„Sie meinen sicher Mister Carrington?“
„Wenn er es ist, der dieses Unternehmen leitet, dann ist er genau der Mann, den ich sprechen möchte“, erwiderte Selina selbstbewusst.
„Tut mir leid, Miss Wood, aber das ist nur mit vorheriger Absprache möglich.“
„Mh...“ Selina nickte geduldig, fest entschlossen, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „Wären Sie dann bitte so freundlich, nachzusehen, wann Mister Carrington eventuell einen Termin für mich frei hätte?“
Die Sekretärin holte widerwillig ein dickes Buch hervor und blätterte mit spitzen Fingern darin.
„Darf ich fragen, worum es sich handelt?“
Selina atmete tief durch. Diese Person war ihr eine Spur zu anmaßend.
„Nein, das dürfen Sie nicht“, erwiderte sie zuckersüß. „Das möchte ich gern selbst mit Ihrem Boss besprechen.“
„So...Nun ja...“ Die Vorzimmerdame schluckte und starrte beleidigt in ihr Buch. „Es ist leider momentan nichts mehr frei.“
Selina verzog erstaunt das Gesicht.
„Das ist ja kaum zu glauben. Gar nichts mehr? Nicht einmal eine klitzekleine Lücke in...“ Sie reckte den Hals und warf einen Blick auf die aufgeschlagene Seite, „...Mister Carringtons Terminkalender?“
„Zumindest nicht heute!“
Selina atmete tief durch und bemühte sich weiterhin um einen halbwegs verbindlichen Tonfall.
„Nun, ich denke, die Welt wird sich auch in den nächsten Tagen noch weiterdrehen. Also wenn Sie vielleicht...“
„Übermorgen um 11:30 Uhr“, fiel ihr die Sekretärin ungnädig ins Wort. „Aber er hat dann nicht viel Zeit, höchstens eine halbe Stunde.“
„Oh, das ist mehr, als ich gehofft hatte“, erwiderte Selina lächelnd. „Haben Sie vielen Dank für Ihre Mühe!“
Am liebsten hätte sie über das saure Gesicht der neugierigen Sekretärin laut losgelacht. Mit größter Mühe beherrschte sie sich jedoch und meinte stattdessen im Hinausgehen in vollendeter "James-Bond"-Manier:
„Und vergessen Sie bitte nicht den Termin einzuschreiben. Mein Name ist Wood, Selina Wood. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“
Auf den Klippen
„Hey, was soll der Blödsinn!“, rief Jack erschrocken und hob abwehrend die Hände. „Spinnst du?“
Alli ließ die Waffe sinken und atmete tief durch.
„Du hast mich zu Tode erschreckt!“, fauchte sie wütend. „Wieso schleichst du hier herum?“
Jack trat zögernd näher.
„Ich bin zufällig hier vorbeigefahren und habe dein Motorrad am Straßenrand gesehen. Da habe ich angehalten um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du gleich eine Knarre ziehst und auf alles schießen willst, was sich in deiner Nähe bewegt!“
Er wies auf die Waffe, die sie wieder in der Innentasche ihrer Jeansjacke verschwinden ließ.
„Wieso zum Teufel läufst du mit so einem Ding in der Gegend herum?“
„Das ist ja wohl offensichtlich“, erwiderte sie ungerührt. „Immerhin bin ich viel allein unterwegs, und man kann nie wissen, wer plötzlich unerwartet auftaucht.“
„Das kann aber verdammt ins Auge gehen, Alli“, warnte Jack etwas versöhnlicher.
„Ich treffe nur, was ich auch wirklich treffen will“, erklärte sie selbstbewusst. „Ich bin ziemlich gut darin.“
Jack lehnte sich an einen Baum, schob die Hände in die Hosentaschen und grinste.
„Ach ja?“
Sie hob nur gleichgültig die Schultern.
„Ich an deiner Stelle würde es nicht darauf ankommen lassen.“
„Okay, das kannst du mir beweisen, wenn du mit mir am Sonntag zum Strandfest gehst.“
Alli musterte ihn erstaunt.
„Ein Strandfest? Hier in Destiny Beach?“
„Allerdings. Das solltest du dir nicht entgehen lassen. Es wird ein Beachvolleyball- Turnier geben, einen Wettkampf im Surfen und auch einen im Wettschießen. Mal sehen, was sich Jason und die anderen noch so ausgedacht haben. Auf jeden Fall wird es lustig, und am Abend treffen sich alle am Lagerfeuer.“
„Klingt interessant“, fand Alli und zwang sich endlich zu einem Lächeln. „Und du willst mit mir dorthin gehen?“
„Klar“, antwortete Jack, als handle es sich um die natürlichste Sache der Welt. „Ich will sehen, wie gut du wirklich schießen kannst!“
„Na schön“, willigte Alli ein. „Ich nehme die Einladung an.“ Sie drehte sich wieder um und blickte versonnen hinaus aufs Meer. „Das ist ein herrlicher Platz.“
Jack nickte.
„Ja, ich komme oft hierher, wenn ich mal allein sein will. Man fühlt sich wie zwischen Himmel und Erde, unerreichbar.“
Er trat ganz nah an den Abgrund und blickte hinunter.
„Wenn ich irgendwelche Probleme hatte, stellte ich mir oft vor, ich würde sie einfach eines nach dem anderen hier hinunterwerfen, und sie würden dann auf den Klippen zerschellen und wären für ewig verschwunden.“
„Eine praktische Lösung“, erwiderte Alli leise. „Nur leider funktioniert sie nicht.“
Sie maß ihn mit kurzem Seitenblick und fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar.
„Geh bitte einen Schritt zurück, ich kann nicht sehen, wenn jemand so nah am Abgrund steht.“
Jack blickte sich herausfordernd nach ihr um.
„Angst um mich?“
„Nein. Ich habe Angst um mich, weil ich dann aus lauter Menschenliebe versuchen würde, dich festzuhalten, und dann könnte es passieren, dass wir beide in die Tiefe stürzen.“
„Und was dann?“
Sie lachte.
„Dann, Jack Christopher Bennett, dann würdest du es nie erfahren.“
„Was erfahren?“, fragte er gespannt.
„Wer von uns beiden nun der bessere Schütze ist.“
Am Strand
Rund um den Rettungsturm herrschte ein geschäftiges Treiben. Sämtliche Lifeguards, die gerade keinen Dienst hatten, waren damit beschäftigt, die Vorbereitungen für das Strandfest zu treffen, das in Kürze stattfinden sollte.
Tom und Jason versuchten, zwei Pfosten für das neue Volleyballnetz in der Erde zu befestigen, was wegen dem weichen Sand kein leichtes Unterfangen darstellte.
„Warte, ich hole die andere Werkzeugtasche!“, rief Jason und lief zum Turm hinüber, als er plötzlich Selina am Strand entdeckte. Sie winkte ihm freundlich zu und kam herüber.
„Was soll denn das hier werden?“, fragte sie, sich neugierig umblickend.
„Wir bereiten das Strandfest vor“, erklärte er lächelnd und betrachtete sie wohlwollend, denn er fand sie in ihrem kurzen weißen Strandkleid einfach hinreißend. Ihr langes dunkles Haar war zu einem dicken Zopf gebunden, und ihre Haut schimmerte wie Kaffee mit viel Sahne. Und diese Endlosbeine!
„Ein Strandfest? Hier?“, holte sie ihn zurück in die Wirklichkeit und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Ich hätte nicht gedacht, dass es in Destiny Beach so etwas gibt.“
Er riss sich gewaltsam aus seinen Gedanken und nickte etwas zerstreut.
„Doch, das gibt es, am nächsten Sonntag. Ich hoffe, Sie kommen auch?“
„Aber natürlich, das werde ich ganz sicher nicht versäumen!“, lachte sie.
Dann jedoch verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht, und ihre Augen betrachteten ihn einen Moment lang nachdenklich.
„Ähm... Könnte es vielleicht sein, dass sich für mich auch noch eine Arbeit findet?“
Jetzt war es Jason, der erstaunt aussah.
„Sie wollen bei den Vorbereitungen helfen?“
„Warum denn nicht?“ Selina nickte eifrig. „Wissen Sie, ich bin es eigentlich nicht gewohnt, den ganzen Tag nur untätig rumzusitzen. Das macht mich verrückt! Sagen Sie mir einfach, was ich tun kann!“
Jason sah sie lächelnd an, dann ergriff er spontan ihre Hand.
„Na los, dann kommen Sie mit!“
Auf den Klippen
Alli saß noch lange, nachdem Jack gegangen war, oben auf den Klippen und genoss die Stille, den herrlichen Ausblick und den lauen Sommerwind. Sie spürte, dass sie sich auf Anhieb in dieser Stadt, von der sie gestern noch nicht einmal wusste, dass es sie gab, wohlfühlte. Lag es wirklich an der Stadt – oder an ihm?
Jack war einer von der Sorte, in den man sich leicht verlieben konnte.
Alli strich sich nervös mit den Fingern durch ihr halblanges Haar.
Verlieben... Das war genau das, was sie nicht wollte.
Hieß das, sie musste wieder gehen? Weiterziehen in eine unbekannte Zukunft?
Sie holte ihr Handy aus der Tasche und starrte gedankenverloren auf die Tasten. Die Nummer kannte sie auswendig. Die Versuchung war groß, aber sie wusste genau, es war noch zu früh.
Morgen... Morgen war der Tag, an dem sie ihn anrufen durfte.
Mit ihm reden, seine vertraute Stimme hören... Endlich!
Alli lächelte.
John Carpenter, der Mann, der ihre Brücke in die Vergangenheit war, die letzte Verbindung, und die einzige, die ihr geblieben war.
Sie stand auf, ließ das Handy in der Tasche ihrer Jeansjacke verschwinden und wollte sich auf den Rückweg machen, als plötzlich nicht weit entfernt ein ungewöhnlich lautes Motorengeräusch die friedliche Atmosphäre des Waldes jäh unterbrach. Bremsen kreischten durchdringend, Reifen quietschten schrill, Bruchteile von Sekunden später gefolgt von einem dumpfen Aufprall und dem hässlichen Krachen gewaltsam berstenden Metalls. Unmittelbar darauf breitete sich eine geradezu unheilvolle Stille aus.
Alli zögerte nur eine Sekunde, dann lief sie los…
So schnell sie konnte eilte sie den Weg zurück zur Straße und sah sich um.
Da, weiter unten in der Kurve waren deutliche Reifenspuren zu erkennen, die in den Wald führten, und von dort stieg bereits eine dünne Rauchsäule empor.
Atemlos rannte Alli die Straße hinunter, als sie zwischen den Bäumen den Unfallwagen entdeckte.
Ihr bot sich ein erschreckendes Bild:
Durch den verzweifelten Bremsversuch des Fahrers war der Wagen anscheinend ins Schleudern geraten und von der Straße abgekommen. Einem tonnenschweren Geschoss gleich hatte er eine Schneise ins Dickicht geschlagen und war in voller Fahrt gegen den ersten Baum gekracht, der ihm im Wege stand. Die Wucht des Aufpralls wiederum hatte zur Folge, dass die Motorhaube bis hin zur Fahrerkabine in zwei Hälften gespalten worden war und sich von beiden Seiten her regelrecht um den Stamm geschlungen hatte. Aus dem völlig auseinandergerissenen Motorblock, der nur noch ein unförmiger Klumpen aus verbeultem Metall war, stieg deutlich Rauch auf.
Die Fenster des Wagens waren zersplittert.
In fliegender Eile bahnte sich Alli einen Weg durch das so brutal zerstörte Grün und warf einen ersten prüfenden Blick in das Innere des verbeulten Cockpits.
Der Fahrer war allem Anschein nach bewusstlos, er reagierte nicht, als sie ihn ansprach, sondern hing reglos in seinem Sitz. Sein Kopf lag seitlich in ihre Richtung, das Gesicht fast vollständig im geöffneten Airback vergraben. Blut rann über seine Wange, und Alli entdeckte bei näherem Hinsehen eine klaffende Kopfwunde über der rechten Schläfe.
Entschlossen zog sie das Handy aus der Jackentasche und wählte die Notrufnummer.
Als sich nur wenige Sekunden später die Zentrale meldete, begann sie kurz und präzise zu schildern was geschehen war. Sie verhielt sich dabei auffallend ruhig und machte überraschend routiniert ihre Angaben, fast so, als hätte sie das schon des Öfteren getan. Als man jedoch in der Notrufzentrale als letzte Information ihren Namen wissen wollte, legte sie auf. Entschlossen steckte sie das Handy ein und atmete tief durch, bevor sie sich erneut dem Verunfallten widmete.
Mit einem kräftigen Ruck versuchte sie zunächst die Fahrertür zu öffnen. Erstaunlicherweise hatte diese sich nicht, wie zu befürchten war, bei dem Aufprall verklemmt, sondern gab sofort nach.
Der Mann hinter dem Steuer war noch immer nicht ansprechbar.
Alli warf erneut einen kurzen prüfenden Blick auf die verhältnismäßig stark blutende Platzwunde am Kopf des Unfallopfers, kontrollierte dann den Puls und die Pupillen und nickte aufatmend. Äußerlich waren momentan keine weiteren Verletzungen erkennbar. Eventuelle Knochenbrüche, Wirbelfrakturen oder innere Blutungen galten in dieser Situation als nebensächlich, im Augenblick zählte nur eines: den Bewusstlosen am Leben zu erhalten.
Und das wollte Alli auf jeden Fall.