Long Beach
Man hatte Jack in einen fensterlosen Raum gebracht, in dem nur ein Tisch und ein paar grobe Holzstühle standen. Auf einem solchen Stuhl saß er nun, die Hände an die Lehne gefesselt, als William Raves den Raum betrat.
Mit seinen kalten, eisgrauen Augen und der markanten Hakennase erinnerte er Jack an einen gefährlichen Raubvogel, der mit durchdringendem Blick gnadenlos seine Beute anvisierte.
„Sieh da, der Sicherheitschef von der CEC, der schon seit Tagen ständig um mich herumschwirrt wie ein lästiges Insekt!“ Er kam näher und blieb dicht vor seinem Gefangenen stehen. „Sie wissen doch, was man mit lästigen Insekten macht?“ Unmittelbar vor Jacks Gesicht hob er die Hand und rieb Daumen und Zeigefinger bedeutungsvoll aneinander. „Man zerquetscht sie.“
„Das dürfte Ihnen etwas schwer fallen“, erwiderte Jack ungerührt.
Raves grinste.
„Da bin ich anderer Meinung. Aber bevor ich Sie zerquetsche, hätte ich gern noch ein paar Informationen. Sind Sie allein hier?“
„Natürlich.“
„Ich hoffe, Sie lügen mich nicht an, mein Junge. Ansonsten werde ich Ihre Zähne einzeln auf dem Boden dieses Zimmers verstreuen.“
„Tun Sie sich keinen Zwang an. Sie können doch nur große Töne spucken, solange Ihr Gegner gefesselt auf einem Stuhl sitzt, Sie erbärmlicher Feigling.“
Mit einer blitzschnellen Bewegung packte Raves Jack hart an der Gurgel.
„Niemand nennt mich einen Feigling, verstanden?“, zischte er voller verhaltener Wut. „Niemand!“
Jack blickte ihm herausfordernd in die Augen.
„Dann wird es Zeit, dass einer damit anfängt“, erwiderte er mühevoll. „Man sagt mir nach, ich hätte eine sehr gute Menschenkenntnis.“
Raves holte wütend zum Schlag aus, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde.
Zwei Männer brachten Alli hereingeführt. Sie wehrte sich, hatte jedoch gegen die beiden Muskelpakete keine Chance.
„Die haben wir draußen auf dem Grundstück erwischt, Boss. Hat da herumspioniert“, berichtete einer der Lakaien. „Sollen wir sie erschießen?“
Raves ließ sofort von seinem Gefangenen ab, und seine Augen begannen zu glänzen.
„Auf gar keinen Fall“, erwiderte er, während sich sein Gesicht zu einem teuflischen Grinsen verzog. „Ihr habt soeben ein äußerst wertvolles Vögelchen eingefangen! Setzt sie hier neben meinen Gast und fesselt ihre Hände. Mit dieser kleinen Nachtigall habe ich eine ganze Menge zu besprechen.“
Die Männer führten den Befehl aus und sahen ihren Boss danach fragend an.
„Raus, und zwar alle“, befahl er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, während er seine “Beute" nicht aus den Augen ließ. „Ich rufe euch, wenn ich euch brauche.“
"Alli, verdammt", fluchte Jack leise, doch sie beschwor ihn mit einem bedeutungsvollen Blick zu schweigen.
Als seine Bodyguards das Zimmer verlassen hatten, trat Raves dicht an seine Gefangene heran und beugte sich zu ihr herunter. Sein Gesicht strahlte förmlich vor Genugtuung.
„Hallo Samantha! Heute scheint tatsächlich mein Glückstag zu sein.“
Medical Center
Völlig außer Atem kam Jason im Medical Center an.
„Hat der Boss schon nach mir geschrien?“, erkundigte er sich keuchend und nach Luft ringend bei Lucy am Empfangstresen.
„Keine Ahnung, bisher gab’s kein Geschrei“, erwiderte sie mit einem verschwörerischen Grinsen. „Nur ein klein wenig üblen Tratsch.“
Jason, bereits ein paar Schritte in Richtung Lift entfernt hatte, blieb stehen und kam neugierig zurück.
„Was tratscht man denn so für üble Sachen?“
„Ach“, lachte Lucy „das interessiert dich sicher nicht.“
Jason zog eine frische Orchideenblüte aus dem Blumengesteck, das auf dem Tresen stand und überreichte sie ihr.
„Komm schon, Lieblings-Schwester, mach den guten alten Jason glücklich! Was kann es zu Beginn einer langen, nervenaufreibenden Schicht besseres geben als ein wenig üblen Tratsch auf Kosten meines allmächtigen Chefs?“
Lucy vergewisserte sich mit einem kurzen, wachsamen Blick, dass keine unliebsamen Mithörer in der Nähe waren. Dann beugte sie sich so weit wie möglich über den Tresen und winkte Jason dicht zu sich heran.
„Man sagt, er habe ein gutes Angebot von einer Klinik aus Seattle“, flüsterte sie mit wichtiger Miene. „Und es heißt, er würde es annehmen, sobald er einen Nachfolger gefunden hat, was natürlich sehr schnell gehen kann, weil wir ja alle wissen, dass unser Doktor Finn seit langem schon ganz wild auf den Leitungsposten ist.“
„Das sind ja fantastische Neuigkeiten!“ Vor Freude aufjauchzend packte Jason Lucy über den Tresen hinweg und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich und deine neue Nachricht!“
Er wollte schon davon stürmen, da fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen: Der Abschied von Dr. Niklas Stevenson würde auch gleichzeitig den Abschied von Selina Wood bedeuten. Ihm wurde siedend heiß. Selina würde Destiny Beach verlassen.
Oh nein!
„Warte“, unterbrach Lucy seinen niederschmetternden Gedankengang und winkte ihn erneut zu sich heran. „Ich habe noch etwas gehört“, raunte sie hinter vorgehaltener Hand. „Ich weiß zwar nicht, ob es dich interessiert, aber ich habe aus einer zuverlässigen Quelle erfahren, dass seine Verlobte ihn höchstwahrscheinlich nicht begleiten wird.“
„Jaaaaa!“
Der Freudenschrei, der daraufhin durch die Empfangshalle schallte, war mit Sicherheit bis in den OP-Bereich zu hören.
„Richte Dr. Stevenson bitte aus, dass ich mir heute wegen eines dringenden Notfalls freinehme“, erklärte Jason und fühlte sich fast schwerelos vor Glück.
Lucy schüttelte skeptisch den Kopf.
„Er wird dich feuern!“
„Mir egal, Dr. Finn kann mich dann ja wieder einstellen.“
Long Beach, North Virginia Waldgebiet
Daniel und Dylan hatten sich gemeinsam mit dem FBI-Agenten, der den für sie so überraschenden Sondereinsatz leitete, etwas aus dem Gefahrenbereich zurückgezogen, während Jeff und Officer Coleman, flankiert von den schwerbewaffneten Männern, weiterhin tapfer die Stellung hielten.
Der FBI-Agent griff in seine Jackentasche und hielt den beiden Brüdern seinen Dienstausweis unter die Nase.
„Special-Agent John Carpenter“, stellte er sich vor.
Dylan wies sich seinerseits als polizeilicher Ermittler aus und informierte Carpenter über den Undercover-Einsatz seiner Gruppe.
„Ich hoffe nur, Sie haben eine Genehmigung für diesen Einsatz“, knurrte John Carpenter verärgert. „Ansonsten werden hier einige Köpfe rollen!“
„Vorsicht, Special-Agent“, konterte Dylan angriffslustig. „Die könnten leicht in den eigenen Reihen rollen, denn irgendwer hat hier verdammt schlampig gearbeitet! FBI und Polizei sind in unsere Aktion eingeweiht und sollten erst dann eingreifen, wenn die Geisel in Sicherheit ist. Also pfeifen Sie Ihre Bluthunde gefälligst zurück!“
„Das werde ich ganz sicher nicht tun“, weigerte sich John Carpenter.
„Und von wem haben sie Ihren Einsatzbefehl?“
„Das geht Sie nichts an, das sind geheime Informationen.“
„Die Informationen, die ich Ihnen gerade gegeben habe, stehen auch nicht in der Morgenzeitung!“
„Hey, Schluss damit!“, beendete Daniel leise, aber bestimmt das Streitgespräch. „Wir haben wichtigere Dinge zu tun, als uns mit sinnlosen Kompetenzfragen auseinanderzusetzen. Das Leben meines Bruders und das eines Freundes steht auf dem Spiel, und vielleicht sollten wir die Situation nutzen und möglichst effektiv zusammenarbeiten!“
Die beiden Männer musterten einander zwar noch einen Augenblick lang wütend, doch jeder von ihnen war Profi genug, um sich zurückzunehmen und einzusehen, dass Daniel Recht hatte.
„Okay“, lenkte Dylan ein. „Halten wir also Kriegsrat.“
„Wissen Sie, wie viele Leute im Haus sind?“
„Ja, im Nebengebäude befinden sich zwei Männer und eine Frau“, teilte Daniel John mit. „Unser Informant hat Hinweise, dass sich David Edwards in diesem Gebäudekomplex befindet.“
„Und was sind das für Hinweise?“
„Ein lautes, undefiniertes Poltern, quasi als Zeichen für uns. Vermutlich wird er als Geisel in einem Raum unter der Küche festgehalten.“
„Und wo befindet sich Raves?“
„Er hat vor einiger Zeit mit dem Wagen angekommen und hält sich im Haupthaus drüben auf. Dort haben zwei von seinen Männern Jack Bennett hingebracht.“
„Jack Bennett?“
John überlegte einen Augenblick angespannt und nickte schließlich.
„Gut, dann halten wir uns zunächst an Ihren ursprünglichen Plan. Wir gehen rein, schalten die in diesem Gebäudeteil befindlichen Leute aus und holen die Geisel.“
„Super. Ich hoffe, ihr ballert dabei nicht wie die Wilden herum“, stichelte Dylan. „In dem Fall sehen wir nämlich nur noch die Rücklichter von Raves` Limousine, und haben dafür seine gesamte Leibgarde auf dem Hals!“
„Für wie blöd halten Sie uns eigentlich?“, fauchte John Carpenter.
Dylan grinste.
„Sorry, ich wollte nur sichergehen.“
John ignorierte ihn und wandte sich an Daniel.
„Kommen Sie, jede Minute zählt! Wir geben den Männern eine kurze Instruktion, dann kann die Party steigen!“
Im Keller
In Davids Verließ flammte das Licht auf und blendete seine durch die ständige Dunkelheit sensiblen Augen. Schützend hielt er die Hände vors Gesicht und blinzelte.
Er hatte sich so gut es ging, hinter der Treppe, die von der Luke aus seitlich in sein Verließ führte, verschanzt, doch das nützte ihm nicht viel. Sie kamen zu zweit hinunter, hatten ihn mühelos überwältigt und in ihre Gewalt gebracht. Dieses Mal trugen sie keine Masken, was David insgeheim als schlechtes Zeichen wertete. Trotzdem versuchter er sich ihre Gesichter genau einzuprägen.
„Was war das eben für eine Aktion, Freundchen?“, knurrte der Dicke mit dem Robbenschnurrbart wütend. „Kannst wohl nicht erwarten, mal wieder ein paar Prügel einzustecken?“
„Den Gefallen können wir dir gerne tun“, grinste der drahtige Latino bösartig. „Darfst dir sogar aussuchen, womit wir anfangen!“
„Daraus wird nichts“, erklang die Stimme der „Essen-Frau“ von oben. „Bringt ihn hoch, der Boss will ihn sehen! Sofort!“
„Uuuh, hast du gehört, jetzt wird’s richtig interessant“, unkte der Robbenschnurrbart und stieß David unsanft in die Seite. „Die Prügel holen wir nach, versprochen.“
„Wenn er nach dem Besuch beim Boss noch im Stück ist“, gab der Latino zu bedenken, und die beiden lachten hämisch.
„Ich gehe nirgendwo hin, Ihr Idioten! Erst will ich wissen, warum ich überhaupt hier festgehalten werde“, versuchte David sich zu wehren.
„Schnauze!“, bellte der Robbenschnurrbart und drehte ihm schmerzhaft die Arme auf den Rücken. David stöhnte verhalten auf, machte jedoch keinen Schritt vorwärts.
„Sagt mir erst, was man mit mir vorhat!“
„Halten Sie verdammt nochmal endlich den Mund, Mister!“, befahl die Frau oben an der Treppe mit eisiger Stimme. „Sie werden schneller hier rauskommen, als Ihnen lieb ist, und zwar mit den Füßen voran, wenn Sie nicht tun, was man Ihnen sagt!“
David schluckte. Sie waren zu dritt, und er war durch die tagelange Gefangenschaft zu sehr geschwächt, um etwas gegen sie auszurichten. Es war sinnvoller, sich zu ergeben und darauf zu hoffen, dass sich vielleicht eine günstigere Gelegenheit zur Flucht ergab.
„Schon gut, gehen wir.“
Destiny Beach City
Seitdem Selina fast fluchtartig die Klinik verlassen hatte, wurde sie das Gefühl nicht los, platzen zu müssen. Wie im Trance lief sie ziellos durch die Stadt, das mehrmalige Klingeln ihres Handys hartnäckig ignorierend.
Nein, sie wollte jetzt nicht reden, mit niemandem, am allerwenigsten mit Niklas. Mit ihm war sie fertig, ein für alle Mal. Noch niemals in ihrem Leben war sie sich so betrogen vorgekommen!
Verdammter Mistkerl!
Inzwischen war ihr auch völlig klar, wo er aller Wahrscheinlichkeit nach die Nacht nach seine überraschenden Rückkehr aus San Francisco verbracht hatte – bei Frau Dr. Aileen Ling, dieser männermordenden, asiatischen Kobra!
Ein lautes Hupen brachte Selina schlagartig wieder zur Besinnung. Fast wäre sie bei Rot über die Straße gelaufen! Der Autofahrer, der wegen ihr hatte bremsen müssen, machte ihr mit unmissverständlicher Geste klar, was er von ihrem Verhalten hielt, gab Gas und brauste davon.
Verlegen sah sich Selina um, doch zum Glück schien niemandem ihr verkehrswidriges Benehmen aufgefallen zu sein. Sie atmete tief durch und bemerkte zu ihrem Erstaunen, dass sie sich nur wenige Schritte von LeAnns Coffeeshop befand.
Ein starker Kaffee, das war genau das, was sie jetzt brauchte.
Long Beach
Der Zugriff des Einsatzkommandos im Nebengebäude des Grundstückes erfolgte ohne weitere Probleme, schnell, präzise und fast lautlos.
Der Latino und der Robbenbart waren gerade damit beschäftigt, den an den Händen gefesselten David durch die Luke im Fußboden zu zerren, als John Carpenters Männer mit vorgehaltenen Waffen ins Zimmer stürmten.
Raves` Lakaien erkannten die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und ließen sich ohne weitere Gegenwehr festnehmen. John nahm ihnen die Waffen ab und legte ihnen Handschellen an, während sich Daniel und Dylan um den sichtlich erleichterten David kümmerten.
Die Frau, die neben der Luke stand, war unbewaffnet und hob wortlos die Hände. John befahl ihr, sich auf einen der Küchenstühle zu setzen und wandte sich dann an die beiden Männer, die unter strenger Bewachung mitten im Zimmer standen.
„Nun, meine Herren, wo finden wir William Raves?“
„Wen?“, fragte der Latino betont lässig und hob die Schultern. „Nie gehört, den Namen.“
„So, und wie wäre es dann vielleicht mit Victor Travis?“
Der Latino tauschte einen kurzen Blick mit dem Robbenbart.
„Keine Ahnung, was Sie von uns wollen, Mister. Wir sind nur zu Besuch hier und haben niemandem etwas getan.“
John ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Wir wissen längst, wer euer Boss ist. Wir wissen auch, dass er sich derzeit hier auf diesem Anwesen aufhält. Nun würden wir gern von euch erfahren, wo genau. Also“ Er winkte unmissverständlich mit der Waffe. „Wenn Sie bitte so freundlich wären…“
Dylan gab sich weniger geduldig.
„Also los, raus mit der Sprache, wo ist Raves?“
„Im Haupthaus drüben“, platzte die Frau heraus und ignorierte die drohenden Blicke ihrer Mitstreiter. „Ich habe es endgültig satt, dauernd den Kopf für ihn hinzuhalten.“
„Holt ihn euch, wenn Ihr könnt, seine Leute werden euch gebührend empfangen!“, rief der Robbenbart höhnisch.
„Wie viele Leute hat er drüben?“, fragte John unbeirrt weiter.
„Keine Ahnung.“
„Keine Ahnung kostet dich gleich ein paar Zehen!“, knurrte Dylan und zielte auf den Fuß des Robbenbartes. Der hob abwehrend die Arme.
„Schon gut, Mister, nur keine Aufregung! Vier, vielleicht auch fünf, ich weiß nicht genau. Er holt seine Männer von Mexiko, so wie er sie braucht.“
„Wenn du gerade versuchst uns reinzulegen, kannst du schon mal anfangen, deinen Rosenkranz zu suchen, falls du so etwas besitzt.“
Der Robbenbart fluchte unflätig und starrte John böse an.
„Ist mir egal. Wenn Ihr ihn nicht kriegt, sind wir sowieso alle tot.“
John und Dylan tauschten einen kurzen, bedeutungsvollen Blick.
„Dann wollen wir dem hohen Herrn mal einen kleinen Überraschungsbesuch abstatten.“ John wandte sich an zwei seiner Kollegen. „Lest den Gefangenen ihre Rechte vor und schafft sie raus in den Wagen!“
Daniel hatte David die Fesseln abgenommen und gab ihm eben einen Becher mit Wasser, als ihm einer von Johns Leuten ein Funkgerät reichte.
„Mr. Edwards, einer ihrer Männer draußen will Sie dringend sprechen!“
Jeff Cabott, der sich gemeinsam mit Officer Coleman und einigen Leuten von der Sondereinheit noch draußen befand und das Gelände absicherte, war am anderen Ende und seine Stimme verhieß nichts Gutes.
„Stopp, Daniel! Was auch immer ihr gerade vorhabt, wartet damit!“
„Was ist denn los?“, fragte Daniel unter den gespannten Mienen der Anwesenden, die jedes Wort mithören konnten.
„Sie haben Alli Tyler!“
John Carpenter schnappte hörbar nach Luft.
„Planänderung, Leute“, befahl er kurz darauf in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Den Geiseln darf nichts geschehen.“
Destiny Beach City
Selina rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee.
Inzwischen hatte sie sich etwas beruhigt, doch es wollte ihr noch immer nicht gelingen, ihre Gedanken zu ordnen.
Nick, der Mann, dem sie so lange blind vertraut hatte, war nichts weiter als ein Heuchler und beispielloser Egoist! Selbstgerecht hatte er versucht, ihr seine Vorstellungen vom Leben aufzuzwingen, indem er einfach ein Angebot in einer anderen Stadt annahm, und obendrein hatte er sie noch schamlos belogen und mit seiner intriganten Arztkollegin betrogen!
Selina trank einen Schluck von dem wohltuenden Kaffee und atmete tief durch.
Sie musste mit jemandem reden.
Alli!
In fliegender Eile kramte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer ihrer Freundin. Ungeduldig lauschte sie dem Rufton, doch Alli meldete sich nicht.
Schließlich hinterließ sie eine kurze Nachricht mit der Bitte um Rückruf auf Allis Mailbox und legte das Handy enttäuscht zur Seite.
„Mag sein, dass ich mich täusche, meine Liebe“, erklang eine Stimme dicht neben ihrem Tisch. „Aber Sie sehen aus, als ob Sie dringend jemanden zum Reden brauchen.“
Erschrocken blickte Selina hoch – direkt in LeAnns gütige Augen. Lächelnd betrachtete die Wirtin ihren Gast und wies dann auf den freien Stuhl. „Es ist momentan mal wieder nicht sehr viel los hier. Genau wie damals, als Sie zum ersten Mal hier waren. Darf ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen?“
Selina erwiderte ihr Lächeln.
„Natürlich, sehr gern LeAnn. Ich wäre froh, mich mit Ihnen ein wenig zu unterhalten.“
Long Beach
„Und was nun, Frau Doktor Shaw?“, fragte Raves hämisch, jedes Wort betonend.
Allis Augen blitzten gefährlich auf, doch er lachte nur darüber.
„Ah, wie ich sehe, habe ich einen wunden Punkt getroffen! Vermisst du deinen verdammten Job als Ärztin, Schätzchen?“
„Du bist Ärztin?“, entfuhr es Jack.
Alli schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Das war in meinem früheren Leben“, murmelte sie und starrte Raves dabei hasserfüllt an. „Bevor er alles zerstört hat. Damals habe ich noch versucht zu helfen und Leben zu retten. Heute ist das anders. Ihn werde ich töten, und ich werde dabei nicht eine Sekunde zögern!
Ein boshaftes Lachen von Seiten des Bosses war die Antwort auf Allis Worte.
„Du willst mich töten, du kleine Schlampe? Womit, wenn ich fragen darf? Mit deinen Blicken?“
Sie sah ihm scheinbar furchtlos in die eisgrauen Augen.
„Mit Geduld und Verstand. Ich habe dich in den Knast geschickt und dir das Geschäft vermasselt. Der Rest ist nur eine Frage der Zeit.“
Raves` gespielte Gleichgültigkeit veränderte sich schlagartig. Sein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse, als er ganz dicht an Alli herantrat und sich wieder zu ihr herunterbeugte. Jack spannte unwillkürlich die Muskeln an, denn er befürchtete, dass der Gangsterboss jeden Augenblick zuschlagen würde. Gleichzeitig bewunderte er Allis Mut. Sie verzog keine Miene, sondern blickte ihren Widersacher herausfordernd an, während er mit drohender Stimme sagte:
„Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass du mich gerne töten würdest, Querita! Aber das wird dir nicht gelingen. Du bist mir schon einmal in die Quere gekommen, und dafür wirst du heute endlich bezahlen, und zwar jeden verdammten Tag, den ich wegen dir hinter Gittern saß.“
„Ich wollte nicht, dass sie dich einsperren, Raves“, erwiderte Alli mit bemerkenswert fester Stimme. „Ich wollte, dass sie dich hinrichten für das, was du getan hast. Langsam und qualvoll. Und soll ich dir was verraten? Die Todesspritze hätte ich dir mit dem größten Vergnügen selbst verabreicht!“
Zunächst sah es aus, als wolle er erneut auf sie losgehen, doch dann besann er sich und grinste böse.
„Nicht ich, sondern du wirst sterben, Sam. Aber nicht so schnell wie dein geliebtes Schwesterchen, oh nein, das wäre zu einfach. Ich will dich leiden sehen, und ich werde jede Sekunde genießen.“
Alli spuckte ihm ins Gesicht und erntete dafür eine schallende Ohrfeige.
Jack zerrte erfolglos an seinen Fesseln.
„Verdammter feiger Bastard“, fauchte er und versuchte vergeblich, Raves` Aufmerksamkeit von Alli abzulenken. Der Mafiaboss war momentan viel zu sehr auf sie fixiert, und dass sie keinerlei Angst zeigte, machte ihn unbeschreiblich wütend.
Sie bemerkte es und lächelte höhnisch.
„Wie willst du mir denn wehtun, Raves?“, fragte sie und hielt seinem Blick problemlos stand. „Du hast mir doch schon alles genommen, was ich geliebt habe.“
Blitzschnell packte er ihr Haar und zwang ihren Kopf brutal zurück.
„Ich habe getan, was ich tun musste, das wusstest du, und das wusste auch deine verdammte Schwester!“, zischte er wütend. „Ich habe Susan vertraut, aber die Schlampe wollte mich verraten. Was sollte ich denn tun? In diesem Geschäft kann man sich keine Sentimentalitäten leisten. Sie wusste, was jeden Insider erwartet, der den Mund zu weit aufreißt.“ Er verstärkte seinen Griff, doch Alli zeigte keine Schmerzreaktion. Das schien ihn maßlos zu ärgern, denn er kam ihrem Gesicht ganz nah, als er in einem Ton, mit dem man hätte Glas schneiden können, gefährlich leise sagte: „Und am Tod deines Verlobten warst du selbst schuld. Du hast ihn mit in die Sache hineingezogen, indem du ihn veranlasst hast, gewisse Informationen ans FBI weiterzugeben.“
„Lass Andy aus dem Spiel, du widerlicher Dreckskerl“, flüsterte Alli mit erstickter Stimme.
Raves ließ sie abrupt los und trat einen Schritt zurück.
„Dr. Andrew Parker“, sagte er betont nachdenklich, verschränkte die Arme vor der Brust und grinste dann hinterhältig. „Tut es noch immer weh, Sam? Sag es mir!“
„Fahr zur Hölle!“
Da begann er zu lachen.
„Oh ja, es tut weh! Es tut so verdammt weh, dass er tot ist, und es tut noch mehr weh, weil es deine Schuld war!“
Jack ließ Alli nicht aus den Augen. Sie saß wie versteinert, und obwohl sich kein Muskel in ihrem Gesicht bewegte, so sah er doch den Schmerz und die Traurigkeit in ihren Augen und hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, wenn er sie hätte in den Arm nehmen und halten können.
„Wer war er?“, fragte er leise, so als wären sie allein. Seine Stimme schien sie in die Wirklichkeit zurückzuholen.
„Andrew und ich arbeiteten als Ärzte in derselben Klinik in New York. Wir wollten heiraten”, erwiderte sie monoton. „Dieser Bastard hier hat ihn kaltblütig ermorden lassen. Genauso, wie er meine Schwester auf dem Gewissen hat.“
Raves zog ein Messer aus seiner Hosentasche, ließ es aufspringen und fuhr vorsichtig mit dem Daumen an der scharfen Klinge entlang, während er seine kalten Raubtieraugen interessiert von einem zum anderen wandern ließ. Dann blieb sein Blick erneut auf Alli haften.
„Das ist nicht ganz richtig, Sam. Ich habe ihn nicht umbringen lassen, ich habe es selbst getan, höchstpersönlich!“ Er lächelte boshaft. „Soll ich dir erzählen, wie er gestorben ist?“ Er spielte einen Augenblick lang scheinbar nachdenklich mit dem Messer in seiner Hand, bevor er es wieder zuschnappen ließ und zurück in seine Hosentasche steckte. „Nein, ich habe eine bessere Idee. Es wäre viel anschaulicher, wenn ich es dir demonstriere. Dein Partner hier…“ Er wies auf Jack „Er ist wirklich bestens geeignet dafür!“