CEC Corporation
„Allison?“
Beunruhigt äugte Georges persönliche Assistentin über den Rand des Schreibtisches. „Sind Sie da unten eingeschlafen?“
Langsam hob Alli den Kopf, und Brenda wich erschrocken zurück. Ihre Kollegin war kreidebleich, ihre Augen übergroß und dunkel.
„Moment mal!“ Brenda stöckelte ohne zu zögern um den Schreibtisch herum und half Alli beim Aufstehen. Dann holte sie ein Glas Wasser und hielt es ihr vor die Nase. „Trinken Sie einen Schluck, das wird Ihnen guttun! Sie sehen ja aus, als wären Sie einem Geist begegnet.“
Mit starrem Blick nahm Alli das Glas.
„Er ist da“, murmelte sie abwesend.
„Was haben Sie gesagt?“ fragte Brenda verständnislos.
Ihre Worte schienen Alli in die Wirklichkeit zurückzuholen.
„Ach nichts. Danke Brenda.“ Sie ließ sich auf ihren Computerstuhl fallen, trank einen Schluck und sah dann hinüber zu Georges Bürotür. „Wer war das eben?“
Brenda hob die Schultern.
„Ein gewisser Mr. Travis. Ich kenne ihn nicht, aber aus Mister Carringtons Terminkalender weiß ich, dass er schon ein paar Mal dagewesen ist. Meistens nach Feierabend, wenn alle schon weg waren.“ Sie schielte kurz auf die Bürotür ihres Chefs, um sich zu überzeugen, dass diese auch wirklich geschlossen war und fügte dann leise hinzu. „Also ehrlich, der Kerl ist mir nicht ganz geheuer! Haben Sie seine Augen gesehen? Oh nein, das war nicht möglich, Sie saßen ja gerade unter dem Tisch. Also wenn Sie mich fragen, dem möchte ich nicht allein im Dunkeln begegnen!“
`Wem sagst du das`, dachte Alli und atmete tief durch, um ihr vor Aufregung noch immer rasendes Herz zu beruhigen. „Ich glaube, ich habe mich geirrt. Vermutlich habe ich ihn mit jemandem verwechselt, den ich von früher kannte.“
„Ah ja“, erwiderte Brenda und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. „So etwas soll ja vorkommen.“
Alli überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Einfach verschwinden, bis Raves das Büro wieder verlassen hatte? Aber mit welcher Begründung? Immer wieder wanderten ihre Augen panisch zu der Tür hinüber, hinter der er verschwunden war.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.
„Ich gehe mich mal eben frischmachen“, teilte sie ihrer Kollegin mit, sprang hastig auf und war schon fast am Lift, als Georges Bürotür plötzlich unerwartet wieder geöffnet wurde...
Medical Center
„Perfekt“, lächelte Aileen und betrachtete zufrieden das Foto auf ihrem Computer. „Na also, das rückt die ganze Sache doch gleich in ein völlig anderes Licht!“
Entschlossen griff sie zum Handy und wählte eine Nummer.
„Hallo Peter“, sagte sie freundlich, als der Teilnehmer sich kurz darauf meldete. „...Ja danke, es geht mir gut... Du hast ganz richtig gehört, ich arbeite wieder hier in Destiny Beach… Hör mal, du musst mir unbedingt einen Gefallen tun... Ja, das weiß ich doch! Es geht um die neuste Ausgabe des SENTINEL, die morgen erscheint... Ich habe da etwas für dich... Nein, keinen Artikel, sondern ein Bild, das hervorragend in die neue Fotoserie passt, die du gerade zusammenstellst… Mir liegt persönlich sehr viel daran, dass dieses Foto morgen veröffentlicht wird… Wunderbar, ich schicke es dir umgehend rüber. Danke Peter!“
Zufrieden beendete sie das Gespräch, und ihr Blick fiel wieder auf das glänzende Foto auf dem Computer-Display. „Das wird ganz sicher eine nette Überraschung für einige Leute. Aber besonders für dich, mein lieber Jack“, grinste sie, drückte auf Senden und verließ dann eilig das Ärztezimmer.
Georges Büro
„Sind Sie ganz sicher, Carrington?“
William Raves´ stechende schwarze Augen musterten ihr Gegenüber kalt und undurchdringlich. „Sie wissen, wenn ich den Auftrag an meine Leute weitergebe, gibt es kein Zurück mehr. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das Ganze nur eine Entführung, aber ein Wort von Ihnen, und es ist… Mord!“
George lehnte sich zurück und versuchte vergeblich, Raves´ Blick standzuhalten.
Er spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn.
„Es gibt ohnehin kein Zurück für mich. Ich stecke schon viel zu tief in dieser Sache drin. Wenn Ihre Leute wirklich den falschen Zwilling entführt haben, muss er verschwinden, bevor mein Partner etwas davon mitbekommt. Und von Mord kann erst die Rede sein, wenn man auch eine Leiche findet!“
Kalt lächelnd lehnte Raves sich zurück und wippte scheinbar gelangweilt mit dem Fuß.
„Das wird Sie noch einmal eine hübsche Stange Geld kosten, mein Lieber.“
„Geld spielt in dem Fall keine Rolle. Ich will nur meinen Hals retten und ungeschoren aus der Sache herauskommen.“
„Okay.“ Raves erhob sich, strich seine ohnehin makellos sitzende Anzugjacke glatt und ging zur Tür. „Dann erledige ich das genauso, wie Sie es wünschen. Ich melde mich, wenn alles vorbei ist.“
„Warten Sie...“ Nervös folgte ihm George auf den Flur hinaus, wo Brenda gerade mit einem Knall den großen Büroschrank schloss und sich scheinbar erschrocken dagegen lehnte.
„Ich brauche doch noch ein wenig Zeit, über alles nachzudenken. Immerhin ist die Sache äußerst brisant. Wir dürfen uns keine Fehler mehr leisten. Ich rufe Sie an, gleich morgen.“
Raves war stehengeblieben und maß ihn mit einem eindringlichen, fast schon mitleidigen Blick.
„In vierundzwanzig Stunden erwarte ich Ihren Anruf. Keine Minute später.“ Seine Augen wanderten hinüber zu Brenda, die noch immer an dem Schrank lehnte. „Sie sehen nicht ganz gesund aus, meine Schöne. Machen Sie zu viele Überstunden für ihn?“
„N...nein, Sir“, stotterte Brenda und rang sich ein Lächeln ab.
Raves grinste hinterhältig.
„Na dann ist es ja gut. Sollte er Sie nicht gut behandeln, dann rufen Sie mich an.“ Brendas schockierten Blick ignorierend reichte er ihr eine persönliche Visitenkarte und war bereits an der Tür, als er sich noch einmal an George wandte. „Denken Sie daran, in vierundzwanzig Stunden! Keine Minute später, sonst könnte es leicht passieren, dass uns die Ware verdirbt.“
Als sich die Türen des Liftes fast geräuschlos hinter Raves schlossen, wischte sich George mit dem Handrücken über die Stirn.
Auf was hatte er sich bloß eingelassen! Verdammt, er steckte ohnehin schon viel zu tief in dieser Sache. Dylan Edwards musste verschwinden.
Es gab keine andere Möglichkeit...
„Was stehen Sie denn da so dumm herum?“, fauchte er Brenda an, die ihn noch immer höchst seltsam anstarrte. „Der Schrank wird nicht gleich umfallen, wenn Sie ihn loslassen! Haben Sie nichts zu tun?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verschwand in seinem Büro. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Brenda wartete noch eine Sekunde, dann drehte sie sich hastig um und öffnete die Schranktüren.
„Puh... meine Güte, ist das stickig hier drin“, prustete Alli und kletterte heraus. „Haben Sie vielen Dank!“
„Keine Ursache.“ Sorgfältig verschloss Brenda den Schrank und musterte ihre Mitarbeiterin verstohlen.
„Ich nehme an, dass dies eben doch keine Verwechslung gewesen ist? Der Mann war weder ein Unbekannter, noch ein besonders guter Freund von Ihnen?“
„Nein, das war er ganz sicher nicht“, gab Alli zu. „Brenda... ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie...“
„Keine Sorge“, unterbrach diese sie und lächelte überraschenderweise äußerst diplomatisch. „Ich werde niemandem von der Sache erzählen. Auch wenn Sie mir das nicht zutrauen, aber ich kann schweigen. Versprochen!“
Diese offensichtlich neue Seite an Brenda erstaunte Alli zwar, trotzdem atmete sie einigermaßen erleichtert auf.
„Danke!“ Sie sah auf die Uhr. „Ich muss schnell noch etwas erledigen. Falls jemand nach mir fragt, sagen Sie einfach...“
„…dass Sie sich nur schnell mal frischmachen“, ergänzte Brenda und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Ach, Moment, warten Sie! Falls dieser Mann Sie wirklich so brennend interessiert, hier ist seine Visitenkarte.“
Alli hoffte, dass Brenda nicht sah, wie ihre Hand zitterte, als sie das Kärtchen entgegennahm.
„Vielen Dank.“
Als die Türen des Fahrstuhls sich geschlossen hatten, öffnete Alli ihre Hand und sah auf die Karte. Für einen Augenblick schienen die Buchstaben darauf vor ihren Augen zu tanzen.
„Reiß dich gefälligst zusammen“, befahl sie sich selbst und las: „Victor Travis, privater Immobilienmakler“
Sie atmete tief durch und zwang sich gewaltsam zur Ruhe.
Es gab keinen Zweifel: Victor Travis war William Raves!
Sie musste John anrufen.
DESTINY INN
Etwas nervös betrat Selina das DESTINY INN und schaute sich suchend in der noblen Hotel-Lobby um. Von ihrem Verlobten war weit und breit nichts zu sehen. Vor knapp einer Stunde hatte er sie ganz unverhofft angerufen und ausdrücklich um dieses Treffen gebeten.
„Es geht um uns, Selina“, hatte er ungewohnt eindringlich gesagt. „Es ist wichtig, dass wir uns unterhalten. Sofort!“
Sie hatte nach Redaktionsschluss alle Termine abgesagt und war nach der Arbeit sofort losgefahren, denn sie wusste, dass Nick Unpünktlichkeit hasste. Nicht dass sie damit nicht umgehen konnte, aber sie wollte die Aussprache, zumindest glaubte sie, dass es eine werden sollte, nicht gleich mit einem Streit beginnen. Wer weiß, vielleicht hatten sie beide ja doch noch eine Chance, obgleich sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal genau sagen konnte, ob sie das überhaupt noch wollte.
Zu vieles war inzwischen geschehen, angefangen mit seiner offen zur Schau getragenen Antipathie gegen die netten Mitbewohner des SUN CENTER, seinem übertriebenen Arbeitseifer, der ihnen beiden absolut keinen Raum für eine Beziehung ließ, bis hin zu seinem - aus ihrer Sicht völlig grundlosen - Auszug aus ihrem gemeinsamen Heim.
Alles in allem hatten sich Nick und sie, seitdem sie hier in Destiny Beach waren, so rasend schnell voneinander entfremdet, dass es schon irgendwie beängstigend war.
Aber andererseits, er war mit diesem Anruf über seinen eigenen Schatten gesprungen und hatte den ersten Schritt getan, etwas, das sie ihm dann doch hoch anrechnete.
Also nahm sie auf einem der teuer aussehenden schneeweißen Ledersofas Platz und wartete, dass Nick endlich auftauchen würde.
Was er dann auch fast eine Stunde zu spät tat. Er eilte zum Empfangstresen, orderte ungeduldig seinen Zimmerschlüssel und sah sich dann suchend um. Er bemerkte Selina und kam sofort zu ihr herüber. Sie stand auf, unschlüssig, wie sie ihn begrüßen sollte, doch er nahm ihr die Entscheidung ab, indem er sie flüchtig auf die Wange küsste.
„Tut mir leid, Schatz, ich wurde aufgehalten. Ein Notfall in der Klinik.“
Selina schwankte zwischen Erstaunen und Enttäuschung.
Zum einen verhielt er sich ihr gegenüber, als hätte es nie ein Missverständnis oder gar eine Trennung zwischen ihnen gegeben.
Zum anderen schreckte sie die Routine ab, mit der er sie begrüßte. Ein flüchtiger Kuss, kaum ein Lächeln, so begegneten sich Eheleute, die einander längst überdrüssig waren und sich nicht mehr allzu viel zu sagen hatten.
„Natürlich“, erwiderte sie scheinbar gleichgültig auf seine schon viel zu oft gehörte Entschuldigung. `Klar, es ist immer ein Notfall!`
„Kein Problem, ich warte ja erst seit einer geschlagenen Stunde.“
Unmutig zog er die Augenbrauen zusammen.
„Selina, du weißt, ich mag es nicht, wenn du sarkastisch wirst! Das passt nicht zu dir.“
`Das Einzige, was momentan nicht zu mir passt, bist du, mein Lieber!`
Erschrocken über ihre eigenen spontanen Gedanken würgte sie mühevoll eine Antwort hinunter und folgte ihm stattdessen wortlos zum Lift.
Sicherheitszentrale der CEC Corporation
„Jack“, Alli platzte ohne anzuklopfen in sein Büro. „Gut, dass du noch da bist!“
Erstaunt sah er auf. Sie schien völlig aufgelöst. Mit wenigen Schritten war er bei ihr.
„Hey, was ist denn mit dir los? Du zitterst ja!“
Sie blieb vor seinem Schreibtisch stehen und sah ihn eindringlich an.
„Er war hier... der Mann, der vielleicht mit Davids Entführung zu tun hat. Sie haben über irgendetwas Wichtiges gesprochen“, berichtete sie atemlos. „George hat etwas vor, er war nervös und unschlüssig, aber er soll diesen Mann in vierundzwanzig Stunden anrufen. Also spätestens morgen um diese Zeit. Bis dahin soll er sich entschieden haben, wofür auch immer, sonst…“ Sie biss sich auf die Lippen, unschlüssig, ob sie weiterreden sollte.
Jack zog die Stirn in Falten.
„Sonst… Was?“, forschte er eindringlich. „Alli, was hat er noch gesagt?“
„George sollte sich mit seinem Anruf keine Minute verspäten, sonst könnte es leicht passieren, dass die Ware verdirbt.“
„Und du meinst, dass er damit David meint? Dass er ihn umbringen lassen will?“
Sie nickte heftig.
„Ich habe ein Gespür für so etwas, glaub mir, es war bestimmt nichts Gutes, was die beiden da ausgebrütet haben.“ Alli überlegte kurz. „Kannst du vielleicht sein Telefon anzapfen? Und das Gespräch aufzeichnen?“
Jack sah sie erstaunt an, dann grinste er.
„Mir scheint, du siehst zu viele schlechte Filme.“
Enttäuscht verzog sie das Gesicht.
„Also nicht?“
„Das habe ich nicht gesagt. Natürlich könnte ich es tun! Nur würde es wenig nützen, denn die wirklich wichtigen Anrufe, von denen keiner etwas mitbekommen soll, wird er sicher von seinem privaten Handy aus führen.“
Alli nickte mürrisch.
„Auch wieder wahr. Kann man denn da gar nichts machen? Immerhin geht es um Davids Sicherheit, vielleicht sogar um sein Leben!“
„Klar könnte man. Aber dazu muss ich erst mit einigen Leuten reden.“
„Beeil dich Jack. Wir haben nicht sehr viel Zeit.“
DESTINY INN
“Ich möchte, dass du mit mir nach Seattle gehst!”
Nick hatte sich, nachdem er seine Verlobte in sein nicht sonderlich geräumiges Hotelzimmer geführt und ihr ein Glas Wein aus der Minibar angeboten hatte, neben ihr auf dem Sofa niedergelassen und sah sie erwartungsvoll an. „Ich habe ein überaus lukratives Angebot von einer Privatklinik erhalten. Sie suchen einen neuen Chefarzt, und einer der Professoren an der Klinik in San Francisco hat mich für diese Stelle empfohlen, da er während des Lehrganges sehr angetan von meinen Fachkenntnissen war.“ Nick nestelte in der Innentasche seines Jacketts herum und brachte einen Brief zum Vorschein, den er Selina mit bedeutungsvollem Gesicht entgegenhielt.
„Hier, lies selbst! Wie gesagt, es ist ein einmalig gutes Angebot!“
Selina starrte auf den Umschlag in seiner Hand, machte jedoch keine Anstalten ihn anzunehmen.
„Du willst mit mir nach… Wohin?“
„Seattle. Im Bundesstaat…“
„Ich weiß, wo Seattle liegt“, unterbrach ihn Selina unwirsch. „Und ich weiß auch, dass wir beide eigentlich ganz andere Pläne hatten.“
„Es sollte eine Überraschung für dich sein“, beeilte sich Nick zu sagen. „Aber die Zeit drängt, und ich muss mich schnell entscheiden.“
„Keine Sorge, Nick, es ist eine Überraschung für mich, eine große Überraschung. Eigentlich…“ Sie schluckte und würgte damit ihre maßlose Enttäuschung und die grenzenlose Entrüstung hinunter, die sich rasend schnell in ihrem Inneren ausbreitete. „Eigentlich ist es schon fast eine Offenbarung!“
„Ich verstehe nicht. Wie meinst du das?“
Selina stand auf und trat ans Fenster. Die Sonne ging gerade unter und färbte den Himmel über dem golden schimmernden Meer in purpurfarbenes Licht – ein Naturschauspiel, dass sie immer wieder aufs Neue begeisterte.
Heute hatte sie keinen Blick dafür.
„Was bin ich für dich, Nick?“, fragte sie leise. „Deine zukünftige Frau, die Frau, die du liebst und mit der du hier gemeinsam ein neues Leben beginnen wolltest, oder vielleicht nur dein notwendiges Anhängsel, das deinen perfekten Ruf als Chefarzt vervollkommnen soll, sozusagen ein schmückendes Beiwerk?“
„Was?“ Verblüfft stand Nick auf und kam zu ihr herüber. „Wie kommst du bloß auf so einen Unsinn?“
Selina drehte sich zu ihm um und sah ihm ins Gesicht.
„Du weißt, ich wollte nie weg von Chicago. Trotzdem habe ich alles aufgegeben und bin dir gefolgt, und zwar aus Liebe. Kaum habe ich mich, wohlbemerkt gänzlich ohne deine Hilfe, etwas eingelebt, da lässt du mich aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen allein und ziehst ins Hotel. Dann rufst du mich an, um mir mitzuteilen, dass du dich entschieden hast, weiterzuziehen. Und jetzt erwartest du allen Ernstes, dass ich mich auch noch darüber freue und dir dankbar dafür bin, dass du dich dazu herabgelassen hast, mich mitzunehmen!“
„Selina!“ Nick stand da wie ein begossener Pudel und verstand die Welt nicht mehr. „Was hast du eigentlich die ganze Zeit für ein verdammtes Problem?“
„Du… du bist mein verdammtes Problem, Nick“, fauchte sie und ihre Augen blitzten ihn wütend an. „Du bist so selbstgerecht in dich selbst und deine Arbeit verliebt, dass du nicht mal merkst, was um dich herum geschieht! Du erwartest, dass sich alles nach deinen Wünschen richtet, nach deiner Karriere.“
„Was für ein Blödsinn! Du hast die ganze Zeit über gewusst, was dich erwartet! Ich bin Arzt, das war ich auch schon in Chicago, daran hat sich nichts geändert.“
„Hat es wohl“, widersprach Selina heftig. „Früher hatten wir auch wenig Freizeit, aber wir haben sie zusammen verbracht, wir waren füreinander da, hatten gemeinsame Perspektiven. Und was haben wir heute? Wir wohnen nicht einmal mehr zusammen.“
„Dass ich ausgezogen bin, hatte einen guten Grund“, rechtfertigte er sich beleidigt. „Du hast meinen Praktikanten geküsst!“
„Mach dich nicht lächerlich.“ Selina griff sich an die Stirn und verdrehte genervt die Augen. „Das zwischen mir und Jason, das war rein freundschaftlich. Und lenk jetzt bloß nicht vom Thema ab! Sonst muss ich dich am Ende noch fragen, wo du nun wirklich nach deiner Rückkehr aus San Francisco gewesen bist.“
Nick starrte seine Verlobte entgeistert an.
„Vertraust du mir etwa nicht?“
Sie starrte wütend zurück.
„Wieso sollte ich? Vertraust du mir?“
Nick fasste sich als Erster. Peinlich berührt räusperte er sich und deutete auf das Sofa.
„Wir sollten uns wie zivilisierte Leute benehmen. Setz dich bitte, Selina.“
„Nein danke.“ Trotzig streckte sie das Kinn vor. Ihre Wangen glühten von dem hitzigen Disput mit dem Mann, von dem sie bisher geglaubt hatte, ihre Zukunft mit ihm gemeinsam zu verbringen. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr sicher.
„Ich glaube, wir sollten unsere Beziehung noch einmal in Ruhe überdenken, Nick“, sagte sie betont sachlich und nahm ihre Tasche.
Er sprang auf.
„Ja aber… du kannst doch jetzt nicht einfach gehen! Ich habe nur noch vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit, dann muss ich mich telefonisch in Seattle melden und ihnen mitteilen, wie ich mich entschieden habe! Selina, wir müssen reden!“
„Falsch, mein Lieber“, entgegnete sie kühl. „Sei ehrlich, du wolltest reden und ich sollte nur zuhören und deine Entscheidung akzeptieren.“ Sie atmete tief durch. „Tut mir leid, aber so läuft das nicht.“
„Und… was bedeutet das jetzt?“, fragte er irritiert.
„Wie ich schon sagte: Ich bin bereit, über unsere Beziehung nachzudenken. Aber…“ Selina machte eine Pause und sah ihren Verlobten an, der völlig überfordert auf dem Sofa saß und anscheinend nichts von dem verstanden hatte, was sie ihm zum Vorwurf machte. „Ich werde auf gar keinen Fall mit dir nach Seattle oder Wo-Auch-Immer gehen. Gute Nacht, Nick!“
SUN CENTER
Zu Tode erschrocken fuhr Alli aus den Kissen hoch und starrte schlaftrunken in die Dunkelheit. Während sie wenig später aufstand und mit zittrigen Knien zum Fenster hinüberging, hatte sie noch immer das Geräusch der schnellen Schritte im Ohr, die sie im Traum verfolgt hatten, und wie so oft in diesen entsetzlichen Albträumen hatte sie weglaufen wollen und war trotz aller Anstrengung kaum von der Stelle gekommen. Ihre Füße waren schwer wie Blei gewesen, während der Mann hinter ihr immer näherkam. Sie hatte immer noch überdeutlich sein höhnisches Lachen im Ohr, als er schließlich die Waffe auf sie richtete, entschlossen, ihrem Leben in dieser Sekunde ein Ende zu bereiten...
Sie öffnete das Fenster weit, lehnte den Kopf an den Fensterrahmen und atmete gierig die kühle Brise ein, die der beginnende Morgen vom Meer herüberschickte. Am Horizont dämmerte es bereits.
Während sie dort stand und hinaus blickte, wanderten ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit, zurück zu der Zeit, als sie noch das Leben geführt hatte, in dem sie glücklich gewesen war. Sie dachte an Andrew, den sie geliebt hatte, und an Susan, ihre ältere Schwester, und ihr Herz wurde schwer. Es tat noch immer furchtbar weh, wenn sie diese Gedanken zuließ. Doch es war lange vorbei. Ihr war nichts geblieben von ihrem damaligen Leben. Sie war allein.
Oder doch nicht?
Einem plötzlichen Gefühl folgend verließ Alli ihr Zimmer und lief auf Zehenspitzen über den dunklen Flur zu der Tür nebenan. Zuerst wollte sie klopfen, doch stattdessen drückte sie behutsam die Klinke herunter, und zu ihrer Erleichterung gab die Tür nach.
Sie ging leise hinüber zum Bett und blickte einen Augenblick lang hinunter auf den Mann, der ihr in den letzten Tagen und Wochen so vertraut geworden war.
Durch das weit geöffnete Fenster traf ein erster Lichtstrahl Jacks schlafendes Gesicht Er sah entspannt aus, das widerspenstige dunkle Haar fiel ihm in die Stirn und es schien, als ob er im Schlaf lächelte. Oh ja, er war ihr mehr als nur vertraut geworden.
`Ich liebe ihn!` Endlich war sie bereit, diese Worte nicht nur zu sagen, sondern sich selbst einzugestehen, was sie für Jack fühlte. `Ich werde nicht mehr länger weglaufen!`
Sie streckte die Hand aus und strich mit den Fingerspitzen zärtlich über seine Wange.
Er erwachte und sah sie für einen Augenblick überrascht an. Dann rückte er wortlos zur Seite und machte ihr Platz. Schnell schlüpfte sie zu ihm unter die Decke und kuschelte sich dicht an seinen warmen Körper, während er liebevoll die Arme um sie legte.
Langsam entspannte sie sich und schloss die Augen.
Was würde dieser Tag bringen?
Das Ende eines furchtbaren Albtraumes, den Tod, oder weiteres endloses Warten? Alles war möglich, nichts war vorhersehbar, aber eines wusste sie genau:
Sie würde wie an jedem anderen Tag ins Büro gehen und ihre Arbeit machen, und falls Raves wieder dort auftauchte, dann würde sie darauf vorbereitet sein.
Nein, sie war nicht allein.
Mit diesem Gedanken schlief sie schließlich in Jacks Armen ein.