SUN CENTER
Mit zwei Einkaufstüten beladen kam Alli vom Büro nach Hause, gerade eben in dem Moment, als Jack ihr Bike in die Garage fuhr.
„Na, wie war es in LA?“, fragte sie und trat näher, während sie mit einer Kopfbewegung auf die Honda wies. „Bist du mit ihr klargekommen?“
Jack grinste.
„Bestens. Wir waren ein erstklassiges Team. Sie gehorcht mir aufs Wort. Ganz im Gegensatz zu ihrer Besitzerin.“
Als Antwort darauf packte sie ihm die Einkaufstüten in die Arme.
„Mach dich nützlich, Rechtsverdreher“, forderte sie ihn energisch auf und angelte nach dem Schlüssel, um das Garagentor zu schließen, als ihr Blick abermals auf ihr Bike fiel. „Was ist denn das?“ Irritiert wies sie auf das Heck der Maschine. „Wieso hat sie ein anderes Nummernschild?“
„Das? Ach so, ja... das musste ich auswechseln lassen“, erklärte Jack betont nebensächlich und beobachtete ihre Reaktion über den Rand der Einkaufstüten hinweg.
„Warum das denn?“
„Während ich in der Vorlesung saß, hat sich irgend so ein verdammter Sprayer auf unserem Uni-Parkplatz zu schaffen gemacht“, präsentierte er ihr seine vorher zurechtgelegte Ausrede. „Ich wollte dir die Maschine nicht in diesem Zustand zurückbringen. Du weißt doch, wie das mit geborgten Dingen ist. Also habe ich dir ein neues Kennzeichen besorgt.“
Alli schüttelte erstaunt den Kopf.
„Und das ging so einfach?“
„Klar“, erwiderte Jack, froh darüber, dass sie keinen Verdacht geschöpft hatte. „Brendon und Jerry in der Werkstatt oben am Freeway sind doch gute Freunde von mir. Allerdings ist die Honda jetzt hier in Kalifornien angemeldet. Ich hoffe, es macht dir nichts aus? Du kannst es jederzeit wieder ändern lassen.“
Alli lächelte, und sie wirkte in diesem Augenblick irgendwie erleichtert.
„Nein, das ist schon okay. Vielen Dank, Jack.“
„Keine Ursache. In den Papieren ist alles entsprechend rechtskräftig umgeändert worden.“
Sie schloss das Tor ab und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Du bist ein Schatz, Herr Anwalt.“
„Weiß ich doch“, erwiderte er und grinste zufrieden.
´Er ahnt ja nicht, dass er mir eben einen riesigen Gefallen getan hat.´, dachte Alli, während sie Jack lächelnd ins Haus folgte. Er konnte nicht wissen, dass sie auf ihrem langen Weg bis hierher zu ihrer eigenen Sicherheit ihr Kennzeichen schon mehrmals hatte ändern lassen. ´Falls sie mir bereits auf der Spur sind, werden sie es jetzt umso schwerer haben.´
„Essen wir zusammen zu Abend?“, fragte sie, als sie die Küche betraten. „Ich koche.“
„Gerne.“ Jack stellte die Einkaufstüten ab. „Und wie war dein Tag im Büro?“
„Ziemlich ruhig“, erwiderte Alli. Während sie damit begann, die eingekauften Vorräte in den Schrank zu räumen, musste sie sofort wieder an Davids merkwürdiges Verhalten denken.
„Jack“, begann sie zögernd. „Darf ich dich etwas fragen?“
„Aber klar, du darfst mich alles fragen.“ Genau in diesem Augenblick begann sein Handy zu klingeln. Während er es aus der Hosentasche zog, zwinkerte er Alli zu. „Sorry, warte einen Augenblick... Ja, was gibt’s? ... Natürlich, kein Problem... Bin in ein paar Minuten da. Bis gleich.“ Entschuldigend hob er die Schultern.
„Sorry, aus unserem gemeinsamen Essen wird nun wieder nichts. Ich muss nochmal weg. Was wolltest du mich denn fragen?“
„Ach, nichts Wichtiges“, meinte sie schnell und widmete sich wieder ihren Einkaufstüten. „Das kann warten. Wir reden später.“
„Okay, ich beeile mich, versprochen.“ Er legte kurz die Arme um ihre Schultern. „Ich muss nämlich auch noch etwas mit dir besprechen.“
Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, und schon war er verschwunden.
„Soweit zum Thema Geheimnisse“, murmelte Alli und sah ihm nachdenklich hinterher.
In Destiny Beach
Als Letzte verließ Selina am späten Nachmittag das Gebäude des SENTINEL auf dem Gelände der CEC. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt und mindestens genauso eingestaubt wie diese alten Aktenberge, die sie den ganzen Tag über im Archiv gewälzt und sortiert hatte, und von denen immer noch mehr als genug darauf warteten, dass jemand sie in Ordnung brachte.
„Hey, da bist du ja endlich“, hörte sie eine Stimme hinter sich und drehte sich erstaunt um. Jason stand, lässig wie immer, in Jeans und Shirt auf dem Parkplatz und strahlte sie an.
„Wartest du auf mich?“, fragte sie überflüssigerweise, obwohl das mehr als offensichtlich war.
„Seit fast einer Stunde“, meinte er schmunzelnd. „Lässt dich dein neuer Chef etwa gleich Überstunden machen?“
Selina freute sich insgeheim, dass Jason sie überraschenderweise von der Arbeit abholte, dennoch konnte sie ihren aufgestauten Frust über ihren Arbeitgeber nicht so schnell verdrängen.
„Hör bloß auf“, schimpfte sie verdrossen. „Ich hätte mich als Schuhverkäuferin in der Boutique gleich um die Ecke bewerben sollen, Kartons sortieren ist leichter und man hätte sogar das ein oder andere nette Gespräch mit der Kundschaft führen können. Dort unten im Archiv sehe ich den ganzen Tag keine Menschenseele. Wenn ich nicht aufpasse und rechtzeitig zum Feierabend aus der Gruft steige, erinnert sich in den nächsten zehn Jahren kein Mensch in dieser verdammten Firma daran, dass ich überhaupt existiert habe.“
„Oh doch... Mir wäre es aufgefallen, und spätestens in fünf Minuten wäre ich hier hineinspaziert und hätte dich gerettet“, erwiderte er und zwinkerte ihr zu. Selina lächelte.
„Und was nun?“
„Willst du ein Thema, über das du schreiben kannst?“
„Ja, natürlich!“
Er nahm sie wie selbstverständlich bei der Hand.
„Dann komm mit, ich will dir etwas zeigen.“
Sie brauchten nicht weit zu laufen. Jason führte Selina durch eine kleine Seitenstraße zu einem unscheinbar wirkenden einstöckigen Gebäude in unmittelbarer Nähe des Medical Center.
„Weißer Engel“ stand auf einem offensichtlich selbst gefertigten Schild über der Eingangstür.
„Was ist das hier?“, fragte Selina erstaunt, doch Jason lächelte geheimnisvoll.
„Wart`s ab. Du wirst gleich verstehen.“ Er öffnete die Tür und sie betraten das Gebäude. Ein angenehmer Essenduft strömte ihnen entgegen.
Jason klopfte an eine der Türen, die nur angelehnt war.
„Carla, bist du hier?“
Eine junge Frau mit langem blondem Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, trat heraus. Sie trug Jeans, ein Shirt und darüber eine große Schürze. Als sie Jason sah, strahlten ihre blauen Augen.
„Hey, das ist ja eine Überraschung! Eliot ist leider nicht da, er kauft eben noch ein paar Vorräte ein.“
Jason nickte.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich nochmal vorbeikomme. Und ich habe auch jemanden mitgebracht. “ Er drehte sich zu seiner Begleiterin um.
„Selina, das ist Carla. Sie und ihr Freund Eliot leiten die Armenküche für Obdachlose in Destiny Beach.“ Dann wandte er sich wieder an die junge Frau. „Carla, ich möchte dir Selina vorstellen, eine Mitbewohnerin und... gute Freundin von mir. Sie arbeitet seit kurzem beim SENTINEL, und vielleicht kann sie euch helfen, indem sie den Leuten in dieser Stadt und in der Umgebung etwas über den „Weißen Engel“ berichtet.“
Die beiden Frauen reichten einander die Hand.
„Freut mich wirklich, dich kennenzulernen, Selina“, sagte Carla freundlich.
„Ganz meinerseits“, erwiderte Selina und versuchte erst gar nicht ihre Überraschung zu verbergen. „Eine Küche für Obdachlose? Das ist wirklich interessant.“
„Ja.“ Carla lächelte. „Du glaubst gar nicht, wie viele Leute es hier in der Gegend gibt, die nicht genügend zu essen haben. Wir versuchen ihnen ein bisschen zu helfen, indem wir mit den einfachen Mitteln, die wir haben, wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag anbieten.“ Sie wies auf die benachbarten Räume. „Wenn du möchtest, zeige ich dir alles.“
Selina nickte. Ihre Müdigkeit war mit einem Mal verflogen.
„Ja, gerne.“
Carla ging voran in den kleinen Speiseraum, in dem sich Tische und Stühle befanden, und der durch ein großes Fenster mit der Küche verbunden war. Trotzdem die Möbel einfach und die Wände schmucklos waren, wirkte alles sehr sauber und ordentlich.
Am Ende des Ganges gab es einen Waschraum mit einer Duschkabine. Ein Regal, das aussah, als sei es aus groben Brettern selbst zusammengezimmert worden, war vollgestopft mit sorgsam zusammengelegten Handtüchern. Daneben stand eine Waschmaschine, ein augenscheinlich altes Model, das schon bessere Tage gesehen hatte. Aber sie funktionierte, wie die fleißig rotierende Trommel bewies.
Der gesamte Raum war alles andere als supermodern und schick, aber er erfüllte ganz sicher seinen Zweck.
Carla schien Selinas Gedanken zu erraten, denn sie lächelte wissend.
„Ich lege großen Wert darauf, dass sich die Leute, die bei uns essen, mit sauberen Händen an den Tisch setzen. Die Handtücher hat man uns aus einer Kleidersammlung gespendet. Wenn die Obdachlosen hin und wieder vom Staub der Straße eine Dusche brauchen, dann haben sie halt hier auch die Möglichkeit dazu.“
„Und das funktioniert so?“, erkundigte sich Selina, während sie eifrig etwas auf ihren Notizblock schrieb, den sie vor ein paar Minuten aus ihrer Tasche gezogen hatte.
Carla nickte.
„Oh ja, bisher hat es noch nie Ärger oder Streit gegeben.“
„Das Ganze hier war eine verwahrloste Bruchbude, aber Carla und Eliot haben es tatsächlich geschafft, eine ansehnliche Unterkunft daraus zu machen“, erklärte Jason. „Die bedürftigen Leute nehmen das Angebot dankbar an.“
„Und wer finanziert das Ganze?“, fragte Selina neugierig.
„Ausgebaut und eingerichtet haben wir alles von unseren eigenen Ersparnissen. Von der Kirche bekommen wir hin und wieder einen kleinen Zuschuss. Die Stadt hat uns die Genehmigung erteilt, diese Küche zu eröffnen und uns einen Fond eingerichtet, in den Spendengelder fließen. Die sind allerdings ziemlich gering und reichen bei weitem nicht aus, um unsere Ausgaben zu decken. Deshalb dachten wir, wenn die Zeitung etwas über uns schreiben würde, dann käme vielleicht etwas mehr Geld zusammen. Oder vielleicht finden sich sogar noch ein paar Sponsoren.“
Selina nickte.
„Ich finde, das hier ist eine wundervolle Idee, und ich würde gerne einen Artikel über euch veröffentlichen, Carla. Gleich morgen werde ich mit meinem Chefredakteur darüber sprechen.“
„Na also, ich wusste, dass sie euch helfen wird“, lachte Jason und zwinkerte seiner Begleiterin zu.
Carla lächelte etwas vorsichtig.
„Allerdings solltest du, bevor du dich dazu entschließt, uns zu helfen, noch eines wissen, Selina: Es gibt in der Stadt jemanden, dem wir ganz offensichtlich ein Dorn im Auge sind.“
„Wie meinst du das?“
„Nun, irgendwem passt diese Institution nicht in den Kram, aus welchen Gründen auch immer. In der kurzen Zeit, in der wir hier sind, wurde bereits zweimal bei uns eingebrochen, und gestern haben wir sogar einen Drohbrief erhalten.“ Sie zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Schürzentasche und reichte ihn Selina.
„Hört auf, mit eurem Fraß das Ungeziefer der Umgebung an unseren Strand zu locken. Verschwindet, bevor es zu spät ist!“
Die junge Reporterin schaute empört auf.
„Das ist ja eine offene Drohung. Willst du damit zur Polizei gehen?“
„Nein“, erwiderte Carla entschieden. „Das würde uns nichts nützen. Die kümmern sich doch sowieso erst, wenn jemand zu Schaden gekommen ist.“
„Okay.“ Selina atmete tief durch und straffte die Schultern. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Darf ich den Brief behalten?“
„Natürlich.“ Carla sah auf die Uhr. „Ich muss mich wieder an die Arbeit machen. Bald ist Zeit fürs Abendessen. Hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen.“
Sichtlich beeindruckt verließ Selina mit Jason das Haus.
„Die beiden haben wirklich Mut“, meinte sie, als sie auf dem Heimweg waren. „Und ich finde es absolut schäbig, so etwas zu boykottieren und obdachlose Leute als Ungeziefer zu bezeichnen.“
Jason nickte.
„Oh ja, und deshalb bin ich der Meinung, wir sollten wirklich versuchen, Carla und Eliot zu helfen.“
SUN CENTER
„Alli?“
Sie stand in Gedanken versunken am Fenster und starrte hinaus. Als sie Jacks Stimme hörte, fuhr sie erschrocken herum.
„Entschuldige, ich habe angeklopft, aber du hast nicht geantwortet“, sagte er beunruhigt und lehnte sich an den Türrahmen. „Ist alles in Ordnung?“
Sie nickte.
„Ich habe dir dein Abendessen unten in der Küche warmgestellt.“
Anstatt einer Antwort betrachtete er Alli nur schweigend und voller Bewunderung.
Er kannte sie bisher meist in Jeans oder in ihrem Büro-Outfit, aber jetzt trug sie einen langen bunten Rock und eine helle ärmellose Baumwollbluse.
Sie sah so bezaubernd aus - und so verletzlich. Wieder musste er daran denken, was er im Streit gesagt hatte. Es tat ihm unsagbar leid.
Er schloss die Tür und ging langsam auf sie zu.
„Alli, wegen neulich Abend...“
„Schsch“, machte sie nur leise und lächelte. „Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast. Ich bin ja auch nicht unbedingt ein Mensch, mit dem man es leicht hat.“
Jack erwiderte ihr Lächeln.
„Nein, das bist du nicht. Aber gerade das mag ich an dir.“
Dicht vor ihr blieb er stehen, umfasste zärtlich ihr Gesicht und sah sie an. „Ich habe dir an diesem Abend noch etwas gesagt. Weißt du noch? Ich habe gesagt, dass ich mich in dich verliebt habe.“
„Ja, ich erinnere mich. Und ich...“
„Du brauchst jetzt nichts zu sagen“, unterbrach er sie. „Lass uns einfach die gemeinsame Zeit genießen, ohne Verpflichtungen und ohne danach zu fragen, was morgen sein wird. Wenn du irgendwann etwas von deiner Vergangenheit erzählen willst, dann werde ich dir zuhören. Und bis dahin genügt es mir, einfach mit dir zusammen zu sein, denn was auch immer es ist, das dich nicht zur Ruhe kommen lässt, es wird nichts an meinen Gefühlen für dich ändern.“
Ihre Augen, die ihn unverwandt anblickten, wirkten in dem dämmrigen Zimmer übergroß, als sie kaum hörbar flüsterte:
„Ich wollte eigentlich nur sagen… Ich liebe dich auch, Jack.“