SUN CENTER
Als Alli am nächsten Morgen erwachte, schien die Sonne bereits durch das weit geöffnete Fenster. Ein leichter Wind wehte vom nahen Strand herüber, und der frische, würzige Duft des Ozeans stieg ihr in die Nase.
Sie streckte sich wohlig und konnte es kaum fassen: die erste Nacht seit langer Zeit ohne Alpträume! Sie vermochte sich kaum noch daran erinnern, wann sie das letzte Mal so gut geschlafen hatte. Lag das nun an dieser sagenumwobenen Stadt, oder an der neuen Umgebung, oder vielleicht...
Sie weigerte sich, darüber genauer nachzudenken. Stattdessen schwang sie unternehmungslustig die Beine aus dem Bett und sah sich erstmals bei Tageslicht in dem kleinen möblierten Zimmer um. Gestern Abend war sie einfach zu müde dazu gewesen. Sie hatte nur registriert, dass sie hier oben getrost das Fenster öffnen konnte, ohne Angst haben zu müssen, überfallen zu werden. Sie war nicht allein im Haus und fühlte sich einigermaßen sicher. Und nun, nachdem ihre Lebensgeister wiedererwacht waren, nahm sie alles genau in Augenschein.
Ein breites, gemütliches Bett, daneben eine sehr schöne, antik verzierte Kommode, über der ein großer ovaler Spiegel hing, ein massiver Kleiderschrank und ein kleiner runder Tisch mit zwei dicken Clubsesseln, das war alles, was den Raum ausfüllte, aber er war hell und gemütlich, ohne dabei überladen zu wirken. An dem großen Fenster hingen helle Transparentvorhänge.
Nachdenklich ließ Alli den glatten, seidigen Stoff durch ihre Finger gleiten. Hier könnte man sich wie zu Hause fühlen.
`Zu Hause?` giftete eine innere Stimme boshaft. `Hör auf zu träumen, du wirst dich nirgendwo jemals wieder wie zu Hause fühlen!`
Alli versuchte hartnäckig die negativen Gedanken zu ignorieren, trat an das offene Fenster und beugte sich weit hinaus. Verträumt blickte sie aufs Meer, auf den noch menschenleeren Strand und die funkelten Wellen und verspürte plötzlich ein längst verloren geglaubtes Gefühl der Wärme und Geborgenheit, das für einen kleinen Augenblick ein Lächeln in ihre Augen zauberte.
Eine halbe Stunde später, nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, machte sie sich auf den Weg hinunter in die Küche, aus der bereits ein verführerischer Duft von Rührei und gebratenem Speck durchs Haus zog.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und stellte mit Erstaunen fest, dass es Jack war, der sich am Herd zu schaffen machte.
„Hi! Gut geschlafen?“, fragte er, ohne aufzublicken.
„Du machst Frühstück?“, wunderte sie sich. „Ich hätte vermutet, dass ihr eine Haushaltshilfe habt!“
Jack lachte.
„Du wirst hier so manches finden, aber keinen Luxus. Angestellte können wir uns nicht leisten. Wir erledigen alles im Haushalt selber und jeder beteiligt sich.“
„Und das klappt?“, fragte Alli skeptisch und trat zögernd näher.
„Bisher hat es funktioniert. Deckst du den Tisch? Dort drüben im Schrank findest du alles. Jason und Tom sind auch gleich da.“
Während Alli mit Tellern, Bestecks und Kaffeetassen beschäftigt war, blickte sie mehrmals neugierig zu Jack hinüber.
Jack Christopher Bennett… Er hatte ihr gestern am Strand nur seine beiden Vornamen genannt. Zwar behauptete er, sie hätte ihn lediglich nicht ausreden lassen, aber nie im Leben wäre ihr in den Sinn gekommen, dass er der Mann sein könnte, dessen Adresse ihr LeAnn gegeben hatte. Wäre sie trotzdem hergekommen, hätte sie es gewusst?
Diese Frage hatte sie sich kurz vor dem Einschlafen bereits gestellt.
Sie betrachtete ihn heimlich.
Er sah wirklich gut aus. Sonnengebräunte Haut, eine sportliche und durchtrainiert wirkende Figur und ein regelmäßig geschnittenes markantes Gesicht mit freundlichen Augen und einem Grinsen, das einer Frau durchaus weiche Knie bescheren konnte. Nur mit einer ausgesprochen gutsitzenden, ausgewaschenen Jeans und einem Achselshirt bekleidet, das schwarzglänzende, etwas widerspenstige Haar noch feucht vom Duschen, war er das Hingucken wirklich wert.
Sie erschrak, als er sich unvermittelt zu ihr umdrehte.
Hatte er gespürt, wie sie ihn ansah?
Es schien, als läge für Bruchteile von Sekunden ein starkstromgeladenes Knistern in der Luft, als sich ihre Blicke begegneten.
„Guten Morgen zusammen!“
Erleichtert wandte sich Alli ab, als Tom in die Küche gestürmt kam.
„Wow, hier riecht es aber lecker“, rief er begeistert. „Leute, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was ich für einen Hunger habe!“
„Nimm gefälligst die Finger weg, hier bin ich der Dienstälteste!“, ermahnte ihn Jason, der kurz darauf hereinkam und ebenfalls am Tisch Platz nahm. „Außerdem solltest du dich ab heute etwas gesitteter benehmen. Jetzt, wo wir wieder eine Dame in unserer Mitte haben.“
„Dir ebenfalls einen guten Morgen, Jason“, erwiderte Tom scheinbar ungerührt, legte aber dennoch seine Gabel bereitwillig zurück und reichte Alli zuerst den Korb mit den frischen Brötchen.
„Na also, er hat`s kapiert“, brummte Jason und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Sie musste lachen.
„Ihr seid ja eine lustige Truppe.“
Während alle vier beim Frühstück kräftig zulangten, nutzten Jack und seine beiden Freunde die Gelegenheit, ihre neue Mitbewohnerin sogleich mit den verschiedenen Gepflogenheiten des Hauses bekannt zu machen.
Außerdem erfuhr Alli, dass Jason sich sein Medizinstudium zeitweise durch seinen Job als Rettungsschwimmer finanzierte und momentan ein mehrmonatiges Praktikum im Destiny Beach Medical Center absolvierte.
Tom arbeitete ebenfalls tagsüber in der Lifeguard- Station und jobbte abends meist in einer Nachtbar mit dem originellen Namen DESTINY NIGHT.
Jack hatte noch knapp zwei Semester seines Jurastudiums vor sich und träumte davon, irgendwann eine eigene Kanzlei zu eröffnen. Nebenbei leitete er die Sicherheitsabteilung einer ortsansässigen großen Immobilienfirma und finanzierte damit sein Studium.
„Und was machst du beruflich?“, fragte er Alli, und obwohl diese Frage unvermeidlich gewesen war, zuckte sie dennoch innerlich zusammen, wie immer in den letzten Monaten, wenn jemand etwas aus ihrem Privatleben wissen wollte.
„Ich bin... medizinische Assistentin“, erwiderte sie etwas hastig und hoffte, dass dieses Thema nicht weiter ausgedehnt werden würde.
„Na super“, platzte Tom heraus. „Was für ein Zufall! Da sind wir ja gleich wieder gut versorgt, nachdem Doc Aileen ausgezogen ist.“ Erschrocken hielt er inne und warf einen verstohlenen Blick in Jacks Richtung. „Ähm, na ja, ich dachte nur, wenn mal jemand ein Pflaster braucht oder so.“
„Wir sind sehr gut in der Lage uns selbst ein Pflaster aufkleben“, knurrte Jason mit vollem Mund. „Noch ein paar Semester und ich operiere dir ein Schloss an dein vorlautes Mundwerk!“
Jack war auf gestanden und begann sein benutztes Geschirr geräuschvoll in die Spülmaschine zu räumen. Mit einem kurzen „Bis später“, verließ er die Küche.
Tom und Jason sahen einander betreten an.
„Gratuliere, Kumpel“, rügte Jason seinen Mitbewohner. „Bloß kein Fettnäpfchen auslassen!“
„Wer ist Aileen?“, unterbrach Alli die darauffolgende peinliche Stille neugierig, während sie verständnislos von einem zum anderen blickte, weil ihr Jacks merkwürdige Reaktion ebenfalls nicht entgangen war.
„Sie war seine Freundin“, erwiderte Tom mit einem vorsichtigen Blick zur Tür. „Jack und Aileen wollten heiraten, aber sie hat ihn sitzen gelassen. Ihre berufliche Karriere war ihr einfach wichtiger.“
„Du sagtest Doc Aileen. Sie war Ärztin?“
„Ja, sie arbeitete als Assistenzärztin am Destiny Beach Medical Center und bekam von einem ehemaligen Studienfreund eine Stelle in einer ziemlich wichtigen Klinik in San Francisco vermittelt. Vor ein paar Wochen hat sie ihre Sachen gepackt und ist dorthin gezogen. Seitdem tut Jack so, als hätte es sie nie gegeben.“
Jason nickte wehmütig.
„Ja, das ist schon hart, die Liebe seines Lebens zu verlieren.“
„Kann ich mir gut vorstellen“, erwiderte Alli nachdenklich.
„Du?“, lachte Tom ungläubig. „So wie du aussiehst, müssen die Kerle dir doch reihenweise zu Füßen liegen!“
Alli zwang sich zu einem Lächeln, doch in ihrem Blick lag plötzlich etwas, was keiner ihrer beiden neuen Mitbewohner in diesem Augenblick deuten konnte. War es Wehmut, Trauer oder gar Schmerz?
„Nicht alles ist immer so, wie es scheint“, sagte sie leise, aber bestimmt.
Nach einem erneuten Moment betretenen Schweigens wechselte Jason rasch das Thema.
„Und was hast du heute vor?“
„Ich werde meine übrigen Sachen aus dem SEAVIEW holen und mich ein wenig in der City umschauen“, erwiderte Alli. „Und wenn mir eure Schicksalsstadt gefällt, dann bleibe ich vielleicht eine Weile und suche mir einen Job, damit ich Jack die Miete für seinen Palast zahlen kann.“
Destiny Beach Medical Center
Doktor Nicklas Stevenson war bereits seit dem frühen Morgen an seinem neuen Arbeitsplatz im Medical Center zu finden. Der Klinikbetrieb und die ganze Organisation dort sagten ihm zu, und er spürte, dass er sich hier sicher wohlfühlen würde. Im Laufe des Vormittags sollte eine Besprechung stattfinden, in der er seinen künftigen Mitstreitern offiziell als neuer Leiter der Notaufnahme vorgestellt werden würde.
Das Medical Center- Team zählte nicht allzu viele Mitarbeiter. Insgesamt waren vier Ärzte in der Klinik beschäftigt. Einer davon war Chirurg. Er wurde nur eingesetzt, wenn Operationen auf dem Plan standen und führte sonst eine eigene Praxis in Huntington.
Dr. Anna Alvarez, eine erfahrene Kinderärztin, die zurzeit auch noch die gynäkologische Abteilung leitete, nachdem der bislang dort zuständige Arzt seine wohlverdiente Pension erhielt, teilte sich die großzügigen Praxisräume mit dem Allgemeinmediziner Dr. Gregor Finn und Dr. Luis Gonzales, dem einzigen Zahnarzt in der Stadt. Jedem dieser drei Ärzte waren zwei Sprechstundenhilfen zugeteilt, und an dem schmucken Tresen in der modern einrichteten, hellen Empfangshalle saß seit Jahren schon die genauso korpulente wie energische Oberschwester Lucy, die den Betrieb hier zuverlässig überwachte und mit eiserner Hand organisierte.
Nicks Vorgängerin in der Notaufnahme, Dr. Aileen Ling, schien eine sehr gewissenhafte junge Ärztin gewesen zu sein, denn ihre Praxis war in einem einwandfreien, fast peniblen Zustand. Nick war überzeugt davon, dass es ihm nicht schwerfallen würde, sich hier schnell zurechtzufinden.
Die beiden OP- Räume waren zu seiner Überraschung medizinisch gut ausgerüstet und technisch auf dem neusten Stand.
„Wir haben einen privaten Sponsor“, verriet ihm Lucy mit Verschwörermiene, als sie ihren Rundgang durch alle Räume machten. „Die Klinik hier gäbe es ohne ihn schon gar nicht mehr, weil die Stadt sich diese gar nicht leisten kann. Alle Patienten müssten ins Medical Center nach Long Beach. Unser Sponsor ist zwar menschlich etwas schwierig, aber er hilft uns mit seinen großzügigen Finanzspritzen an den Stellen, an denen von Seiten der Behörden unnötigerweise oft gespart wird. Sie werden ihn sicher bald kennenlernen.“
Im stationären Teil der Klinik im ersten Stock gab es fünf Privatkrankenzimmer, die selten allesamt belegt waren, und noch einmal so viele Doppelzimmer.
„Bisher konnten unsere Krankenschwestern den Betrieb hier mit absichern“, erklärte Lucy dienstbeflissen weiter. „Aber wir brauchen dringend Verstärkung. Besonders im Schichtdienst.“
„Darüber sollten wir vielleicht in der Besprechung nachher reden“, schlug Nick vor und wollte sich soeben in sein Ärztezimmer zurückziehen, als Lucy ihn noch einmal zurückrief.
„Einen Augenblick bitte, Dr. Stevenson.“ Die gewissenhafte Oberschwester wies auf einen jungen Mann, der eben eiligen Schrittes die Klinik betrat. „Darf ich Ihnen bei der Gelegenheit Ihren Praktikanten für die nächsten Monate vorstellen? Er studiert Medizin und Sie sind ihm in Ihrem Amt als Chefarzt als Mentor zugeteilt.“ Sie winkte dem jungen Mann energisch zu, worauf dieser neugierig nähertrat.
„Dr. Stevenson, das ist Jason Stone - Jason, dein neuer Boss, Dr. Nicklas Stevenson aus Chicago.“
DESTINY INN
Lustlos kaute Selina auf ihrem Frühstückstoast herum. Die moderne, hoteleigene Gaststätte des DESTINY INN war um diese Zeit fast leer.
Selina blickte auf ihre Armbanduhr und rechnete in Gedanken zum wiederholten Mal die Zeit um. In Chicago ging jetzt erst die Sonne auf. Wenn sie überhaupt aufging. Bestimmt regnete es, wie so oft. Sie selbst wäre jetzt auf dem Weg zum DAILY MIRROW und würde sich durch den dicksten Berufsverkehr quälen, verzweifelt nach einer Parklücke suchen und schließlich beim Aussteigen bemerken, dass sie wie so häufig ihren Schirm zu Hause vergessen hatte.
Auf dem Weg nach oben zu ihrem Arbeitsplatz würde sie geschäftig die Kollegen begrüßen, die auch eben erst angekommen waren, und sie würde schon von weitem ihren Chef brüllen hören, weil der sich wieder einmal hoffnungslos überfordert fühlte…
Selina ertappte sich dabei, wie sie bei diesen Gedanken still vor sich hin lächelte, und plötzlich wirkte die Ruhe und die leise, gedämpfte Musik in diesem Raum derart erdrückend auf sie, dass sie ihr Frühstück stehenließ, sich abrupt erhob, dem geschäftig herumeilenden Kellner ein Trinkgeld hinterlegte und fluchtartig das Hotel verließ.
Draußen blinzelte sie in die helle Sonne und atmete tief durch.
„Was soll das werden, wenn du jetzt schon vor Heimweh fast platzt!“, schalt sie sich insgeheim. „Dies hier ist dein neues Leben, Selina Wood, also gewöhn dich gefälligst schnellstens daran!“
Sie drehte sich auf dem Absatz um und wollte die Straße überqueren, aber sie war noch derart mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie das Motorrad übersah, welches in diesem Augenblick um die Ecke bog.
Der Motorradfahrer versuchte in letzter Sekunde zu bremsen, doch es war schon zu spät...
Der Aufprall war nicht allzu stark gewesen. Der Motorradfahrer hatte Selina dank seiner blitzschnellen Reaktion glücklicherweise nur noch mit dem rechten Spiegel gestreift und so das Schlimmste verhindert. Allerdings konnte er die schwere Maschine danach nicht mehr halten und war selbst gestürzt.
Selina, die ebenfalls das Gleichgewicht verloren und hingefallen war, rappelte sich schnell wieder auf und lief zu ihm hinüber.
„Oh mein Gott... Ist Ihnen etwas passiert?“
Sofort hatten sich einige schaulustige Passanten am Straßenrand versammelt.
Der Biker kam leise fluchend hoch. Zum Glück schien es auch ihm gutzugehen. Allerdings lag sein Motorrad auf der Seite und er versuchte vergeblich, die schwere Maschine wieder aufzurichten.
Selina sah sich geistesgegenwärtig um und entdeckte einige Arbeiter am gegenüberliegenden Straßenrand.
„He, hallo, ihr da!“, rief sie und winkte ihnen forsch zu. „Helft doch bitte mal, Jungs!“
Die drei Männer kamen tatsächlich bereitwillig herüber, und gemeinsam stellten sie das Motorrad wieder auf seine Räder.
„Vielen Dank!“ Selina schenkte ihnen ihr schönstes Lächeln und wandte sich dann an die restlichen, neugierig gaffenden Passanten.
„Alles okay, meine Herrschaften, es gibt nichts mehr zu sehen!“
Tatsächlich begann sich die Menge langsam zu zerstreuen.
Erleichtert aufatmend drehte sie sich zu dem Motorradfahrer um.
„Es tut mir so leid“, sagte sie aufrichtig. „Das Ganze war meine Schuld, ich habe geträumt und nicht auf die Straße geachtet.“
„Schön, wenn man noch Träume hat, nur sollten Sie sich dafür wirklich einen ungefährlicheren Ort aussuchen“, erwiderte der Unbekannte mit heller Stimme und nahm den Helm ab.
Erstaunt registrierte Selina, dass es eine junge Frau war, die das Motorrad gefahren hatte.
„Ist etwas an der Maschine kaputt?“, fragte sie schnell, um sich ihre Verwunderung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Die Frau untersuchte ihr Bike kurz und schüttelte dann den Kopf.
„Ich denke nicht“, meinte sie fachkundig und maß Selina mit einem prüfenden Blick. „Und bei Ihnen?“
„Alles noch heil“, lächelte Selina und streckte ihr freundschaftlich die Hand entgegen.
„Ich bin Selina Wood!“
„Allison Tyler“, stellte die junge Fahrerin sich ihrerseits vor. „Wo wollten Sie denn so eilig hin?“
„Ich hatte es eigentlich überhaupt nicht eilig“, gestand Selina ein wenig beschämt. „Ich bin gestern erst angekommen und habe plötzlich so viel Freizeit, das mir eben ganz schwindlig davon wurde!“ Sie schluckte. „Ich weiß, das klingt ziemlich albern...“
Alli schüttelte den Kopf.
„Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, irgendwie kann ich das gut verstehen.“
„Sie werden also keine Anzeige erstatten?“, fragte Selina vorsichtig.
„ Anzeige? Ich?“ Alli lachte. „Aber weshalb denn! Es ist doch nichts passiert!“
„Da bin ich froh“, seufzte Selina sichtlich erleichtert. „Ich habe zwar vor ein paar Minuten erst gefrühstückt, aber ich würde Sie wirklich gerne auf einen Kaffee einladen, Allison!“
Alli schien einen Augenblick zu überlegen und nickte dann.
„Okay, aber bitte nicht in diesem Nobel- Laden“, meinte sie und wies mit dem Daumen auf das DESTINY INN hinter sich. „Ich kenne ein viel netteres kleines Lokal zwei Straßen von hier, in dem es ausgezeichneten Kaffee gibt.“
„Einverstanden!“
Alli setzte den Helm auf und schwang sich auf ihre Maschine.
„Na los!“, rief sie, ließ den Motor an und wies auf den Sozius. „Springen Sie rauf!“
Sekunden später brausten die beiden auf der Mainstreet in Richtung LeAnn’s Coffeeshop davon.
Medical Center
„So, junge Dame, du warst wirklich sehr tapfer, deshalb darfst du jetzt mit deiner Mum nach Hause gehen“, erklärte Jason lächelnd dem kleinen Mädchen, dessen Fuß er eben fachmännisch versorgt hatte. Sie war am Strand in die Glasscherben einer zerschlagenen Flasche getreten.
Im Medical Center hatte Jason die Wunde vorsichtig gesäubert und nachgesehen, dass kein Glassplitter mehr darin zurückblieb, bevor er den Fuß sorgsam verband. Nun hob er die Kleine vom Behandlungstisch und strich ihr liebevoll über die dunklen Locken.
„Ich glaube, die freundliche Schwester draußen hat ziemlich leckere Bonbons für mutige Patienten. Geh und frag sie mal danach!“
Die Kleine nickte eifrig und humpelte hinaus.
„Vielen Dank, Herr Doktor“, sagte die Mutter des Mädchens und reichte Jason die Hand. „Sie waren wirklich sehr freundlich.“
„Nicht der Rede wert“, erwiderte er bescheiden. „Die Verletzung ist nicht sehr tief, es reicht, wenn Sie morgen noch einmal vorbeischauen, damit wir den Verband wechseln können. Ansonsten sollte Ihre Tochter ein paar Tage mit dem Fuß nicht ins Wasser gehen, bis sich die Wunde geschlossen hat.“ Er lächelte. „Ich weiß, dass wird ihr etwas schwer fallen, aber vielleicht lässt sich die Zeit mit Sandburgen bauen und einigen Bilderbüchern am Strand überbrücken.“
Die Frau nickte.
„Aber sicher.“ Sie warf Jason einen anerkennenden Blick zu.
„Sie können sehr gut mit Kindern umgehen, Herr Doktor“, meinte sie, bevor sie ihrer Tochter nach draußen folgte.
Die Schwester, die während der ganzen Zeit mit im Raum gewesen war, lachte schelmisch und zwinkerte Jason zu.
„Gute Arbeit, Herr Doktor!“
Er grinste verlegen und wollte etwas erwidern, als hinter ihm eine wütende Stimme erklang:
„Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht!“
Jason drehte sich erschrocken um und sah in Nick Stevensons dunkle Augen, die ihn ärgerlich musterten. Er wusste nicht, wie lange sein neuer Chef schon dort gestanden hatte, aber anscheinend lange genug, dass er einiges von dem kurzen Gespräch zwischen ihm und der Mutter des kleinen Mädchens mitbekommen hatte.
„Was fällt Ihnen eigentlich ein, auf eigene Faust Patienten zu behandeln, ohne vorher Rücksprache mit mir zu halten?“, donnerte er los.
Die anwesende Schwester zog erschrocken den Kopf ein und beschäftigte sich stillschweigend mit dem Säubern und Einsortieren der Instrumente.
Sich keiner Schuld bewusst sah Jason seinen Vorgesetzten an.
„Das war doch nur eine kleine Schnittwunde, die ich versorgt habe“, rechtfertigte er sich. „Außerdem waren Sie vorhin mit diesem Kreislaufkollaps beschäftigt.“
„Das berechtigt Sie als AiPler noch lange nicht, hier auf eigene Faust zu agieren und sich obendrein noch als Doktor auszugeben!“, schnaubte Nick ungehalten.
„Aber ich habe doch gar nicht...“, wollte Jason widersprechen, doch er kam nicht zu Wort.
„Sie sind hier, um zu lernen. Wenn Sie bei der Versorgung der Wunde etwas verkehrt gemacht haben, dann kommt diese Frau morgen mit ihrem Anwalt im Schlepptau und verklagt mich, nicht Sie! Ich habe die Verantwortung hier, sowohl für das Wohl der Patienten, als auch für das, was Sie tun und lassen!“
Jason fühlte sich zu Unrecht getadelt und straffte die Schultern.
„Solche Kleinigkeiten wie eben habe ich unter Anleitung von Doktor Ling schon hundertmal durchgeführt, und sie hatte nie Anlass zur Klage!“
Dr. Stevenson trat dicht an ihn heran und sah ihm eindringlich ins Gesicht.
„Wie Dr. Ling hier gearbeitet hat, interessiert mich nicht. Das war vor meiner Zeit als Leiter der Notaufnahme. Aber hier und heute sind Sie mein Praktikant und tun gefälligst nur das, was ich Ihnen sage. Nicht mehr und nicht weniger, haben wir uns verstanden?“
Jason presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
„Ja Sir“, brachte er mühsam heraus und verließ wütend den Behandlungsraum.