Als Jörg nach Hause kommt, sitze ich auf dem Bett in unserem Schlafzimmer. Ich höre ihn, wie er zum Wohnzimmer herein kommt, doch ich habe keine Lust, mich bemerkbar zu machen.
„Pele, bist du da?“, ruft er.
„Ja, Schatz, hier im Schlafzimmer“, antworte ich dann doch, worauf Jörg zu mir kommt und sich neben mich aufs Bett setzt.
„Was grübelst du schon wieder?“, fragt er mich, als er mein nachdenkliches Gesicht erblickt.
„Ach, weißt du, ich frage mich immer noch, warum gerade ich mein Baby verlieren musste.“
„Liebling“, tröstet mich Jörg. „Mache dir doch nicht so viele Gedanken darum. So etwas passiert halt, warum also nicht auch bei uns. Wenn wir Glück haben, können wir noch ganz viele Kinder bekommen.“
„Du tust ja geradewegs so, als wärst du froh, dass unser Kind nicht geboren wird“, entrüste ich mich. Tränen schießen mir in die Augen.
„Süße, sag das bitte nicht“, schluchzt Jörg laut auf, als er das sagt. „Es ist für mich genau so schwer wie für dich. Bitte, denke nicht, ich wäre froh darüber.“
„Das kam aber so rüber“, schnauze ich ihn an.
„Wenn das so war, dann tut es mir leid. Ich habe das keinesfalls so gemeint. Ich leide genau so darunter. Und …“, er hält kurz inne, „ … wir können doch immer noch Kinder bekommen. Wenn du willst, ganz viele.“ Tröstend nimmt er mich in seine Arme.
„Und wenn es wieder nicht klappt“, sage ich leise.
„Dann adoptieren wir eben einfach eine ganze Fußballmannschaft“, schlägt Jörg vor. „Aber kommen wir erst einmal zur Ruhe und dann sehen wir weiter. Okay?“
Über diesen blöden Einfall muss ich nun doch lachen, so ist er halt, mein Jörg.
„Pa fliegt mit Ilse nach Sankt Petersburg“, platze ich auf einmal heraus. „Und ich muss zu Hause bleiben.“
„Solltest du nicht mit?“, fragt Jörg erstaunt. „Mir war es so, als wäre das von Pa so rüber gekommen.“
„Ja, ich sollte eigentlich mit. Aber da diese Fehlgeburt dazwischen kam, will er, dass ich mich ausruhe, anstatt mit ihm durch die Weltgeschichte zu tingeln“, sage ich fast trotzig. „Dabei hatte ich mich so auf Russland gefreut, obwohl das um die Jahreszeit garantiert kein Zuckerschlecken ist. Dort soll es im Winter eisig kalt sein.“
„Ach Schätzchen, dann bleibst du halt hier, so schlimm ist das doch nun auch nicht“, tröstet mich Jörg. „Solltest du nicht noch einmal zum Hausarzt gehen?“, fragt er plötzlich wie aus heiterem Himmel.
„Wie kommst du da jetzt drauf?“, frage ich erstaunt. „Sollte ich, stimmt. Ich werde die Tage Doktor Korr mal besuchen, irgendwie bin ich auch so antriebslos. Vielleicht weiß er da Abhilfe. Ich mache gleich heute noch einen Termin bei ihm aus.“
„Mach das, er weiß bestimmt Rat“, antwortet mir Jörg.
Vier Tage später
Ich habe einen Termin bei Doktor Korr. Eigentlich könnte ich da auch ohne hingehen oder ihn einfach mal abends besuchen. Doch will ich lieber in seine Praxis. Aber da ich recht ungeduldig bin und ungern lange warte, habe ich mir vorsichtshalber einen Termin geben lassen. Nun sitze ich also im Wartezimmer, das wie immer proppenvoll ist und warte darauf, dass mich der Doktor aufruft. Endlich bin ich dran.
„Frau Pele Oktober bitte ins Behandlungszimmer eins“, höre ich Doktor Korrs Stimme aus dem Lautsprecher über der Wartezimmertür.
Na endlich, denke ich und stehe auf, um in das Behandlungszimmer zu gehen. Das sieht immer noch so aus wie zu meiner Kinderzeit, nur Doktor Korr ist inzwischen gealtert.
„Die kleine Pele“, begrüßt er mich herzlich. „Setz dich. Was führt dich hierher?“
Er bleibt wie so oft beim Du, als wäre ich noch ein Kind. Das kann er sich wohl nicht abgewöhnen. Ich sage aber nichts dazu, es ist mir recht, dass er mich duzt.
Ich setze mich auf den angebotenen Stuhl vor seinem riesigen Schreibtisch, vor dem ich mir irgendwie winzig vorkomme.
„Ich habe gehört, du hattest vor Kurzem eine Fehlgeburt?“, fragt er mich. Dabei sieht er mich prüfend an. „Ein bisschen blass um die Nase bist du auch“, stellt er fest.
„Ja, ich hatte eine Fehlgeburt. Ich war in der zwölften Woche, als es passierte“, erwidere ich. „Es kam ganz unverhofft für uns. Dabei hatten wir uns so auf das Kind gefreut.“ Mir kommen Tränen hoch, als ich an diesen rabenschwarzen Tag erinnert werde.
„Sei nicht traurig“, tröstet mich der Arzt. „Du bist noch jung und kannst immer noch Kinder bekommen.“ Dabei blättert er in meiner Krankenakte und sieht sich den Befund des Krankenhauses an, den er schon erhalten hat.
„Aber was ist, wenn nicht“, teile ich ihm meine Ängste mit.
„Sehe es nicht so schwarz, denke an schöne Dinge, lass es dir gut gehen, da klappt das auch noch einmal. Aber nur keinen seelischen Stress machen, das ist wie Gift“, rät er mir noch. „Aber wie ich sehe, hast du noch etwas auf dem Herzen. Komm, raus mit der Sprache!“
„Sie kennen mich immer noch so gut wie in Kindertagen“, muss ich nun doch lächeln. „Es ist so, dass ich mich so schlapp und antriebslos fühle. Könnte es sein, dass das mit der Fehlgeburt zusammenhängt?“, hake ich nach.
„Die Fehlgeburt könnte der Auslöser dafür sein. Denke daran, du hast dabei auch viel Blut verloren. Du musst das Ganze auch erst einmal verarbeiten, das ist manchmal nicht so einfach, wie sich das manche vorstellen. Was du jetzt brauchst, ist Ruhe und Erholung. Ich denke, ein Ortswechsel könnte dir da auch gut tun“, erklärt mir Doktor Korr.
„Den hätte ich ja auch fast gehabt. Nur Pa wollte mich nicht mit nach Sankt Petersburg nehmen. Das wäre jetzt zu aufregend für mich“, sage ich trotzig. Am liebsten hätte ich wie in Kindertagen mit dem Fuß aufgestampft, aber das konnte ich gerade noch unterdrücken. Wie hätte es ausgesehen, wenn ich mich wie ein trotziges kleines Kind verhalte.
„Ich glaube, diese Aufregung würde dir auch nicht gut bekommen. Zu viel Trubel und Stress“, wird mir erklärt. Doktor Korr sieht mich nachdenklich an. „Ein schöner Winterurlaub könnte dir aber bestimmt auch gut tun. Allerdings nicht so weit weg wie Sankt Petersburg. Hier in Deutschland, vor allem auch in den östlichen Bundesländern gibt es doch auch schöne Gegenden, wo man im Winter Urlaub machen kann. Denk mal drüber nach. Das würde dir garantiert gut tun und wieder Farbe um dein zartes Näschen zaubern.“ Dann folgen noch einige medizinische Fragen, die ich Doktor Korr beantworte.
Nach einer halben Stunde bin ich wieder entlassen. Nachdenklich mache ich mich auf den Nachhauseweg. Anstatt ein Taxi zu nehmen oder mit den Bus zu fahren, laufe ich dieses Mal lieber. Stuttgart ist winterlich verschneit, obwohl es erst Ende November ist. Es liegt mehr Schnee als in den letzten Jahren und ich es von hier gewohnt bin. Doch die Luft ist herrlich frisch. Zu Hause angekommen, rufe ich nach Jörg. Allerdings kann ich ihn nicht finden. Ma erklärt mir, er wäre kurz außer Haus gegangen, wohin, wisse sie allerdings nicht. So rufe ich ihn auf seinem Handy an. Jörg nimmt auch gleich an, als ich anrufe. „Hey, Schatz, alles in Ordnung bei dir?“, fragt er besorgt. „Was hat Doktor Korr gesagt?“
„Es ist alles in Ordnung. Der Doc hat einen Vorschlag gemacht, über den ich mit dir reden müsste“, erkläre ich Jörg. „Weißt du schon, wann du wieder zu Hause bist?“, frage ich ihn.
„Ich bin schon auf dem Heimweg“, sagt er. „In ein paar Minuten bin ich da.“ Damit unterbrach er das Telefonat auch schon.
Ich gehe inzwischen in unseren Wohnbereich, wo ich auf Jörg warte. Der kommt auch wirklich schon nach ein paar Minuten an.
„Nun sag schon, was hat Doktor Korr gemeint?“, will er neugierig wissen.
„Du bist ja schlimmer als ein neugieriges Weib“, lache ich auf. „Der Doc meinte, wir sollen zusammen einen schönen Winterurlaub machen, damit ich mich von den Strapazen der letzten Wochen erholen kann. Das würde mir gut tun und mir wieder Farbe um mein zartes Näschen zaubern“, gebe ich Doktor Korrs Worte fast eins zu eins wieder. Dabei versuche ich sogar seine Stimme nachzuahmen.
Jörg muss lachen. „Musst du immer andere Leute nachäffen“, prustet er heraus. „Ein Winterurlaub wäre jetzt wirklich nicht schlecht. Ich schaue mal, da etwas zu recherchieren. Da finde ich bestimmt etwas, was uns beiden gefällt.“
So macht sich Jörg im Internet auf die Suche nach einem geeigneten Urlaubsort. Mein Wunsch und Doktor Korrs Vorschlag, doch im Osten Deutschlands Urlaub zu machen, gefällt ihm auch. Er findet auch etwas. Dahin soll es in einer Woche gehen … Annaberg-Buchholz! Demnächst wird Susi Lovejoy die Gegend unsicher machen. Zieht euch schon mal warm an!