Der Tag ist viel grauer als manch anderer Tag in den letzten Wochen. Nur der Tag, an dem uns das Unglück ereilte war noch schlimmer als heute. Die Wolken hängen tief, sie sind regenschwer. Und doch schaut ab und an mal die Sonne zwischen den Wolkenfetzen hervor, als würde sie auf sich aufmerksam machen wollen. Der Wind versucht, die Wolken zu vertreiben. Mehrmals hat er Erfolg, doch dann sind die tiefschwarzen Wolken wie aus heiterem Himmel wieder da.
Sie sind genau so tiefschwarz wie der Tag, der trotz großem Hoffen, doch angebrochen ist. Wir haben versucht, diesen Tag so lange wie möglich hinaus zu zögern. Doch irgendwann musste er einmal kommen. Da müssen wir nun durch.
Wir, das sind Ma, Omama und Opapa und alle meiner Geschwister nebst ihren Partnern und Kindern. Auch Jörg und ich gehören dazu. Kim war ebenfalls gekommen, Pa´s Lieblingsnebenfrau. Ma´s Eltern fehlen natürlich auch nicht.
Nur eine wichtige Person fehlt in der illustren Runde. Pa!
Genau wegen ihm hat sich heute die gesamte Familie hier versammelt. Hier an seinem Grab. Alle sind sie angereist, sogar Ismael und Mebina mit ihren Kindern, die mitten in Afrika eine Lodge betreiben.
Ihr lest richtig! Wir stehen nun hier auf dem Friedhof. Vor uns ein kleines, unscheinbares Loch, umgeben von einem Blumenmeer und Kränzen mit liebevollen und Trost spendenden Worten auf schwarzen Borten. Rote Rosen, weiße, gelbe Rosen, Nelken in dutzenden Farben, Chrysanthemen, beinahe alle Blumenarten sind vorhanden. Daneben steht ein kleines Gestell, bedeckt mit einem grünen Tuch. Oben drauf wurde eine Urne platziert, die nun Pa´s letzte Ruhestätte sein soll. Ich kann es kaum glauben, dass darin ein ausgewachsener und großer Mensch Platz haben soll.
Noch sind die Angestellten des Bestattungsunternehmens dabei, letzte Vorbereitungen zu treffen. Dann geben sie ein Zeichen, dass alles bereit ist. Auch der Redner hat seine Vorarbeiten beendet und bittet uns nun, uns um das Grab herum zu gruppieren. Für Omama, Opapa und Ma stehen sogar Stühle bereit, auf denen sie Platz nehmen können. Wir anderen stellen uns um sie herum auf, den Blick auf den Redner, Herrn Gerber, frei lassend.
Totenstille tritt ein. Jeder weiß, jetzt ist der schwerste Moment gekommen, der Moment, an dem wir für immer von unserem geliebten Paul Oktober Abschied nehmen müssen. Auch die Kinder, die teilweise noch nicht richtig begriffen haben, warum wir hier sind, sind mucksmäuschenstill. Ahnen sie, weswegen wir uns hier versammelt haben?
Wir werden diese kleine Gedenkfeier gemeinsam durchstehen. Immer war jedes Familienmitglied für den anderen da, wenn Hilfe, oder auch andere Unterstützung notwendig war. Das sollte auch heute so sein.
Der Redner räuspert sich leise, dann schaltet er die mitgebrachte Stereoanlage ein. Leise Musik erklingt aus den Lautsprechern. Als die Musik geendet hat, beginnt Herr Gerber zu sprechen.
Er erzählt uns von Pa´s Leben, von guten und von schlechten Zeiten, wie Ma in sein Leben trat, damals als sie beide noch zur Schule gingen und begeistert lernten. Sie wollten ja zu etwas kommen in ihrem Leben. Dazu gehörte, auch einen guten Schulabschluss zu machen. Über Pa´s Leben könnte man einen Roman schreiben, was er ja auch getan hat, wie Ihr wisst.
„Der Pornograf – Abenteuer eines Fotografen“ nannte er sein Lebenswerk. Viele chronologisch aneinander gereihte Geschichten aus seinem Leben, von seiner Jugend an, füllen zwölf Bände. Auch davon spricht der Redner, von Pa´s zweiter Leidenschaft neben dem Fotografieren. Das Fotografieren war sein Beruf, damit ernährte er seine Familie und seine Kinder, aber auch die vielen Angestellten, die für ihn im Fotopark in Italien und in Ostdeutschland arbeiteten. Genau, das Schreiben, dort waren wir angekommen. Dies nannte er immer seine zweite Leidenschaft. Da konnte er ausspannen, neue Kraft sammeln für seinen aufregenden Beruf, aber auch viele Leser begeistern. Oft saß Paul stundenlang vor seinem Computer. Seine Finger, die mit zunehmendem Alter immer ungelenker wurden, hämmerten gnadenlos Buchstabe für Buchstabe in die Tastatur. Das taten sie solange, bis wieder eine Kurzgeschichte oder ein Kapitel für seinen Roman fertig war.
So wie das Schreiben Entspannung von seiner Arbeit war, war es auch wie ein Aufbaumittel nach seinem ersten schweren Schlaganfall, den er vor einigen Jahren erlitt. Er kämpfte und kämpfte und schaffte es auch, den Weg zurück ins Leben zu finden. Ma war immer an seiner Seite und gab ihm einen Teil seines Lebensmutes zurück. Auch nach seinem zweiten und dritten Schlaganfall verlor er den Mut nicht und schrieb bereits im Krankenhaus und später in der REHA weiter. Er müsse das tun, damit sein Kopf nicht dumm wird und seine Gedanken nicht einrosten, meinte er immer. Erst der vierte, und eigentlich harmloseste Schlaganfall brachte ihn an die Grenzen seines Willens. Auch wenn er sich bereits gut erholt hatte, er war nicht mehr der Alte. Bis eines Tages, kurz vor der Entlassung aus der REHA ein wichtiges Blutgefäß in seinem Kopf riss und irreparabel war. Er kämpfte nicht mehr. Gab er auf? Oder wusste er, dass seine Lebensuhr abgelaufen war? Wir werden es nie erfahren.
„Pauls Ideen für seine Geschichten schienen unendlich zu sein“, höre ich die Stimme des Redners wie durch eine dicke Wand. Er blickt Ma an. „Lis, Paul schrieb für dich, um dich zu erfreuen, und…“, Herr Gerber blickt in die Runde, seine Arme ziehen einen weiten Kreis, „… und für euch, seine Kinder und Schwiegerkinder, Enkel und Enkelinnen, aber auch für seine Eltern und Schwiegereltern. Ihr alle solltet teilhaben an seinen Gedanken, die er in Worte fasste.“
Stille. Keiner wagt einen Mucks. Sogar Ma´s und Omama´s Schluchzen war verstummt. Man könnte meinen, den Flügelschlag eines Schmetterlings hören zu können, wenn es denn Anfang April bei regnerischem Wetter welche geben sollte.
„Auch für dich schrieb er“, wandte er sich an Kim, die neben Ma stand und krampfhaft versuchte, nicht zu weinen. „Du warst immer seine Lieblingsnebenfrau. Er sprach von dir mit vielen lieben Worten.“
„Eure Mutter Lis berichtete mir, wie Paul dir, Pele, und dir, PH, euch den Ort eurer Empfängnis beschrieb“, wandte Herr Gerber sich nun an PH und mich. „Wie sehr lachte Pele, als sie die Herkunft ihres Namens erfuhr. Pele, die Feuergöttin auf Hawaii, die glutrotes Haar hat, genau wie du. Ja, Pele, lache nur, es ist alles wahr, was dein Vater erzählte. Genau so wie fast alles andere der reinen Wahrheit entspricht, das er in seinem „Pornograf“ beschrieb.“
„Wir sprachen hier über den Sohn, Ehemann, Vater, auch Großvater Paul, der sich sein Leben lang aufopferte, damit es seiner Familie stets gut geht“, spricht Herr Gerber nach einer kurzen Weile weiter. „Wollen wir nun eine Gedenkminute für Paul einlegen, der uns unvergesslich und von uns gegangen ist.“
Herr Gerber tritt einen Schritt zur Seite und stellt erneut die Stereoanlage an. Wir falten die unsere Hände zum Gebet und jeder ließ seine Gedanken fliegen zu Pa, der da irgendwo auf jeden von uns warten wird. Noch können wir ihm nicht folgen. Doch irgendwann wird es auch für uns Zeit sein, seine Spuren zu suchen und uns auf den Weg in die Ewigkeit begeben.
Während der Gedenkminute reißt plötzlich der Himmel auf. Sturm peitscht uns ins Gesicht. Noch sehr viel dunklere Wolken fliegen über uns hinweg, kleine Regentropfen treffen sich in unseren Gesichtern mit den Tränen, die wir vergießen und vermischen sich mit ihnen. Der Sturm reißt an den Frisuren der Frauen und an den Hüten der Männer.
Zwischen den Wolken kommt die Sonne heraus. Ihre Strahlen treffen auf die Urne, die dem Wind standhält. Es ist ein Szenario, das sich niemand vorstellen kann, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Mir kommt es vor, als würde die Sonne Pa den Weg in die Ewigkeit weisen wollen und uns Trauernden die Angst nehmen, eines Tages den gleichen Weg zu gehen und ihn, unseren Pa, Ehemann und Großvater wiederzusehen.
Die letzten Töne der Musik verklingen. Es ist die Zeit gekommen, uns endgültig zu verabschieden. Die Bestatter betten die Urne vorsichtig in ihrer letzten Ruhestätte. Still stehen sie danach davor, verbeugen sich vor dem Toten und erweisen ihm somit die letzte Ehre.
Als die kurze Zeremonie beendet ist, erhebt sich Ma als erste. Sie tritt an das offene Grab. Gramgebeugt steht sie davor. Sie wirft rote Rosen auf die Urne. Dabei spricht sie leise vor sich hin, Worte, die nur sie versteht.
Wir anderen tuen es ihr nacheinander gleich. Einer nach dem Anderen spricht seinen letzten Gruß und sein Gebet.
Diskret tun die Bestatter am Schluss ihre Arbeit, während wir ein wenig abseits stehen und mit dem Redner sprechen. Ma war sehr gefasst, auch wenn ich als ihre älteste Tochter genau erkennen konnte, wie es um sie steht.
So wie es sich Pa gewünscht hatte, treffen erst am Nachmittag alle Freunde und Bekannte ein, die ihm die letzte Ehre erweisen wollen. Zu seiner Beerdigung wollte er nur seine Familie dabei haben. „Klein, ohne große Brimborium“, sagte er immer. „Den Ranzen vollschlagen sollen die sich woanders, aber nicht bei meiner Beerdigung.“ Wir lachten immer deswegen, doch respektierten seinen Wunsch. Nur einen konnten wir ihm nicht erfüllen. Er wünschte sich immer die grüne Wiese, niemand sollte sich verpflichtet fühlen, sein Grab zu pflegen. Wir brachten es nicht übers Herz, ihn inmitten vieler Unbekannter ein anonymes Grab zu geben. So bekam er auf unserem kleinen Friedhof in der Nähe einen Platz an der Sonne. Pa liebte sie Sonne, die Wärme des Sommers, sie sollte ihn auch auf seiner letzten Reise in die Ewigkeit begleiten.
Ma hat in der Villa in der großen Halle Tische und Stühle zu Tafeln aufstellen lassen. Etwas seitlich steht auf einem geschmückten Tisch inmitten von frischen Blumen Pa´s Bild. Kondolenzkarten, die aus aller Welt eingetroffen sind, liegen auf einem kleinen silbernen Tablett daneben.
Auch Nachbarn, die vom Trauerfall in unserem Haus erfahren haben, machen ihre Aufwartung. Es kommen Menschen, die wir schon ewig nicht gesehen hatten und waren erstaunt, wie viele das sind. So war bis zum Abend ein stetiges Kommen und Gehen in der Villa Oktober. Ma hält tapfer durch und ließ die Trost spendenden Worte der Besucher über sich ergehen. Nur Omama muss ich am späten Nachmittag auf ihr Zimmer bringen und ihr einen Beruhigungstee kochen. Erst als sie endlich eingeschlafen ist, verlasse ich sie, um meiner Mutter weiter zur Seite zu stehen.
Mikel nimmt mich, bevor er zurück in sein Hotel fuhr, beiseite.
„Pele, wie geht es weiter mit dem Fotopark in Italien und den in Ostdeutschland?“, fragt er mich.
„Weißt du, da haben wir uns noch gar keine Gedanken darüber gemacht. Lass uns erst ein wenig zur Ruhe kommen, dann sehen wir weiter“, antwortet ich ihm.
„Du hast recht“, erwidert er, „wenn ihr etwas braucht, ihr wisst, wo ihr mich findet.“ Damit verlässt er uns.
Der Tag geht schneller vorüber als wir dachten. Ma ist fix und fertig. Omama schläft immer noch in ihrem Zimmer. Nur Opapa mimt den Starken. Jörg und ich versuchen, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken, doch er hält stand, fest wie ein Bollwerk. So war halt Opapa. Da können wir nichts dagegen tun.
Wir, als Familie, ließen uns Zeit, das Ganze zu verarbeiten. Pa´s plötzlicher Tod schien uns anfangs in eine Art Starre zu versetzen. Erst als wir anfingen, darüber zu sprechen, wurde es besser. Ma blühte nach und nach wieder auf. Auch wenn man es ihr ansah, wie sehr ihr Pa fehlte, sie versuchte immer, es uns Kinder nicht merken zu lassen.
„Weißt du, Pele. Paul fehlt mir sehr“, sagte sie eines Tages zu mir. „Er fehlt an allen Ecken und Enden, ob es hier ist, oder auch in den Fotoparks. Doch zurück ins Leben kommt er deshalb trotzdem nicht. Tot ist nun mal tot und nicht zu ändern. So ist der Lauf des Lebens. Wir werden alle irgendwann mal gehen. Ich, du, alle. Also machen wir das Beste draus aus dem Rest des Lebens, das wir noch haben.“
Erstaunt hatte ich meine Mutter angeschaut. Solche Worte aus ihrem Mund, so kurz nach Pa´s Tod. Ob sie recht hatte? Noch wusste ich es nicht. Konnte ich ihre Worte schon begreifen, oder war ich einfach noch zu jung dafür? Ich wusste es nicht. Ich war ich noch nicht soweit, meine Gedanken in dieser Richtung zu ordnen. Aber eines Tages wird das bei mir garantiert auch der Fall sein.
Wie sagte Ma zu mir? Egal, was passiert, das Leben geht weiter. Auch wenn geliebte Menschen nicht mehr unter uns sein können. Also machen wir das Beste aus dem Rest des Lebens, das uns noch verbleibt. Oder: Heute beginnt der erste Tag vom Rest unseres Lebens. Genießen wir es, solange wir es noch können.