Heute fahren Jörg und ich in unseren erst vor kurzem geplanten Winterurlaub. Es soll auch der letzte gemeinsame Urlaub vor unserer Hochzeit sein. Die paar Tage sollen uns zu neuen Kräften kommen lassen, die besonders ich nötig habe.
Jörg hat im Internet das kleine erzgebirgische Städtchen Annaberg-Buchholz ausgesucht. Er fand auch ein ansprechendes Hotel in zentraler Lage mitten in der Stadt. Von dort aus könne man die Sehenswürdigkeiten der Stadt alle zu Fuß erreichen, wurde auf der Webseite des Hotels erklärt. Nach weiterer Suche fanden wir auch einige Hänge, wo man Ski fahren konnte. Es wird zwar nur ein Kurzurlaub über ein Wochenende werden, aber mir wird es bestimmt gut tun, wieder einmal anderen Wind um die Nase zu bekommen.
Die Fahrt von Stuttgart in unseren Urlaubsort bewältigen wir mit dem Auto. Die circa 450 Kilometer sind ein Klacks für Jörg, der ein sehr routinierter und sicherer Autofahrer ist. Als ich ihn ablösen will, winkt er nur ab, er würde lieber selbst fahren, ich solle mich lieber ausruhen und die Fahrt genießen. Später bin ich dann auch froh, nicht hinter dem Lenkrad sitzen zu müssen. Je näher wir an Annaberg-Buchholz kommen, desto schlechter wird das Wetter. Es schneit wie verrückt. Man kann auf der Straße kaum noch etwas sehen.
Als wir endlich am Hotel Wilder Mann ankommen, sehe ich, es liegt wirklich in sehr zentraler Lage mitten in der kleinen Stadt Annaberg-Buchholz. Die Strapazen der anstrengenden Fahrt sind fast vergessen.
„Das ist ja herrlich hier“, rufe ich entzückt. „Weißt du was? Es ist erst früher Nachmittag, da können wir ja noch schauen, wo die Skipiste ist. Vorher können wir uns auch noch in der Stadt ein wenig umsehen. Was meinst du?“, frage ich Jörg noch. Dem gefällt meine Idee. Ich bin Feuer und Flamme und will sofort losziehen. Irgendwie bin ich plötzlich aufgeregt.
Die Formalitäten an der Rezeption sind flugs erledigt und wir auf unserem Zimmer. Schnell werfen wir unser Gepäck in die Ecke und ziehen uns um. Warme, wenn möglich auch noch winddichte Kleidung ist hier wirklich sehr angesagt. Bei gefühlten, frostigen Minus 10 Grad sind wir froh, die Thermohosen und Jacken mitgenommen zu haben. Und schon geht es los.
Gemütlich stapfen wir Hand in Hand durch die tief verschneite Stadt. Es schneit immer noch. Dicke Flocken wirbeln uns um die Nase. Es wird schneller dunkel, als wir angenommen haben. So beschließen wir, doch nur einen kleinen Rundgang durch die Stadt zu machen und die Skipiste erst morgen zu besichtigen. Die Laternen erhellen die Straßen, an denen rechts und links riesige Berge Schnee aufgeschichtet sind. Überall sind die Dächer der teils uralten Häuser, aber auch die Bäume und Sträucher tief verschneit. Eiszapfen hängen von den Dachrinnen herunter. Manche reichen fast bis runter auf den Erdboden. Sie funkeln im Licht, das vielerorts aus den Fenstern scheint. Ich komme mir fast vor wie im Märchenland.
Wir wandern weiter durch eine parkähnliche Anlage. Die Wege sind zwar geräumt, aber auch hier stapelt sich der Schnee an den Seiten in für mich immenser Höhe. In Stuttgart habe ich so viel weiße Pracht noch nie gesehen. Wenn mal welche war, dann nur sehr wenige Tage. Die Bäume, die am Wegesrand stehen, tragen schwer unter der Last des Schnees. Teilweise kommt es mir vor, als würden sie ächzen. Dabei knarren nur die Äste im leichten Wind. Es klingt richtig schön gruselig.
Irgendwann beginnt allerdings mein Magen zu knurren. „Hast du auch Hunger?“, frage ich Jörg, der immer noch staunend neben mir herläuft. Auch er kann sich nicht erinnern, jemals so viel Schnee gesehen zu haben.
„Ein wenig schon“, erwidert er. „Aber eigentlich habe ich Hunger auf etwas ganz anderes“, setzt er breit grinsend hinten an.
„So“, sage ich nur und renne weg. Ich weiß schon, was er meint. Sein Gesicht sagt mir alles. Ich renne so schnell, dass ich mit meinen schweren Stiefeln ins Straucheln komme und kopfüber in einen Schneehaufen falle. Mit beiden Beinen strampelnd versuche ich, mich selbst zu befreien. Doch es gelingt nicht. Ich komme mir vor wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt und versucht, wieder auf die Beine zu kommen.
Ich höre Jörg laut lachen.
„Hilf mir lieber hier raus“, rufe ich fast verzweifelt. Der Schnee ist mir unter den Kragen gerieselt und beginnt jetzt, da aufzutauen. Es wird langsam unangenehm, das nasse Zeugs zu spüren.
Jörg packt mich am Hosenbund und zieht mich aus dem Haufen. Dann stellt er mich auf die Beine und beginnt, mir den Schnee von der Kleidung zu klopfen. Dabei lacht er herzerfrischend.
„Du siehst aus wie ein Schneemann“, ruft er.
„Wenn schon, dann Schneefrau bitte“, mokiere ich mich und trample mit den Füßen auf, um die restlichen Schneemassen loszuwerden. Doch es ist zu spät, vieles ist schon unter meiner Kleidung. Nass bin ich nun eh schon, also was soll´s.
„Schiet“, schimpfe ich wieder. „Mir ist Schnee unter den Kragen gekommen. Und nun taut das Zeugs auch noch.“
Wieder lacht Jörg.
„Kommt davon, wenn man rennt wie verrückt“, verspottet er mich.
„Pass nur auf du“, drohe ich ihm Schlimmes an. „Gehen wir erst einmal zurück. Ich brauche was Trockenes zum Anziehen. Und danach essen.“
Schweigend gehen wir nebeneinander her zurück zum Hotel. Von der Rezeption her werden wir ein wenig schief angeschaut. Was die wohl über uns denken? Aber das ist mir egal. Wir haben Urlaub und da lasse ich auch mal meine eigentlich guten Manieren fallen.
Im Zimmer ziehen wir uns schnell um. Ich bin froh, aus den nassen Klamotten rauszukommen. Bis auf die Haut bin ich durchnässt. Wann das das letzte Mal so war, daran kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich war ich da noch Kind.
Wenig später gehen wir in das Restaurant, welches zum Hotel gehört. Dort suchen wir uns ortsübliches Essen aus. Etwas gewöhnungsbedürftig ist das schon, mal nichts Schwäbisches zu essen. Aber ich finde Geschmack daran.
Lächelnd sehe ich Jörg an. Er lächelt zurück.
„Bist du satt?“, frage ich ihn, worauf er nur nickt. „Auf´s Zimmer, den anderen Hunger stillen?“, frage ich weiter.
Anstatt zu antworten, steht Jörg nur auf und reicht mir seine Hand. Das genügt mir als Antwort. Den Nachtisch bekomme ich von ihm persönlich auf unserem Zimmer serviert …