Liebe Leserinnen & Leser
Nach langer, kompletter Funkstille melde ich mich endlich zurück. Diese Geschichte hier habe ich eigentlich schon vor einem Jahr beendet, nur habe ich die letzten Kapitel hier nie gepostet... Dies wird nun heute ausgebessert und alle Kapitel auf einmal hochgeladen. Wer also noch dabei ist, wird einiges zu lesen haben :)
Liebe Ostergrüsse
Schattenwolf
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Noch während Tekins Leiche auf dem Boden aufschlug, sah sich Arya von weiteren Gegnern umzingelt. Es tat ihr leid um Tekin und sie fühlte sich an seinem Tod mitschuldig. Aber Gewissensbisse brachten sie jetzt nicht weiter und machten ihn auch nicht wieder lebendig. Vyron hingegen war wie gelähmt und starrte unentwegt auf die Leiche seines Anführers und wohl auch guten Freundes, die reglos vor seinen Füssen lag. Arya versuchte ihm den Rücken einigermassen frei zu halten, aber sie merkte schnell, dass die einzige Chance lebend hier rauszukommen nun der Rückzug war.
«Wir müssen los.» Zuerst glaubte sie, Vyro hätte sie nicht gehört, aber dann, ganz langsam, setzte er sich in Bewegung und half ihr dabei die Wachen auf Abstand zu halten. Viele der Söldner waren den fliehenden Rebellen gefolgt, trotzdem war es nicht ratsam, sich jetzt einfach umzudrehen und wegzurennen. Damit sie im Gewirr der Gassen verschwinden konnten, brauchten sie einen Vorsprung. Während sie sich unter Schwerthieben hinwegduckte, sah sie sich immer wieder um, bis sie etwas erspähte, dass ihnen wenigstens eine Chance gab. «Wenn ich jetzt rufe, springst du so hoch in die Luft wie du kannst.» Ohne auf eine Antwort zu warten rannte sie zu zwei Fässern die am Hafen standen und darauf warteten, verladen zu werden. Der Kampf hatte natürlich sämtliche Arbeit zum Erliegen gebracht und so hielt sie niemand auf, als sie die beiden Fässer mit einigem an Anstrengung umwarf. Ein heftiger Tritt sorgte dafür, dass sie sich in Bewegung setzten. «Jetzt!», schrie sie- und Vyrion reagierte, keinen Moment zu früh. Die Fässer rissen gleich drei der verbliebenen Söldner zu Boden. Vyron rannte an ihr vorbei und sie folgte ihm in den Schutz der erstbesten Strasse, die sie vom Hafen wegführte.
Immer wieder warf Arya einen Blick über die Schulter um zu sehen, wer ihnen auf den Fersen war. Am Anfang hatten sie zwei Verfolger, aber sie waren schneller als die Söldner und sie kannten sich auch besser in der Stadt aus. Daran hatte Hestin sicher nicht gedacht, als er sich Unterstützung aus seiner Heimat geholt hatte. Irgendwann war nichts mehr zu hören ausser ihrem eigenen viel zu schnellen Atem und dem entfernten Rufen der Wachen.
«Ich glaube es ist besser, wenn wir uns trennen», schlug Vyron vor, Arya konnte dem nur zustimmen.
«Das mit Tekin wollte ich nicht.» Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie Nìna reagierte, sobald sie davon erfuhr.
«Das ist nicht deine Schuld. Wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er in einem Streit erschlagen worden wäre. Wichtig ist nur, dass wir weiter machen.» Arya schwieg. Ihr Auftrag war es gewesen, eine Unruhe für den heutigen Tag zu verursachen, nicht mehr. «Wir sollten wirklich los», versuchte sie vom Thema abzulenken. «Vielleicht ist es besser, wenn ich ein paar Tage untertauche. Wo kann ich dich finden?» Er machte einen unbehaglichen Eindruck, wirkte gar etwas verlegen. «Im Viertel der Bankiers.» Überrascht musterte sie seine eher schlichte Aufmachung. Die Wohngegend trug ihren Namen nicht umsonst, fast ausschliesslich beinahe ausschliesslich Mitarbeiter der eisernen Bank lebten dort.
«Ich vermute mal deine Eltern wissen nicht, dass du hier mitmachst?» Sie konnte sich vorstellen, dass nicht nur er mit den Folgen zu leben hatte, wenn er hier erwischt wurde. «Mein Vater würde mich zuhause anketten und meine Mutter wahrscheinlich tot umfallen. Aber ich glaube, sie ahnen etwas. Darum sollte ich auch langsam los.» «Besorg dir unterwegs neue Kleider», riet sie ihm und deutete auf die Blutspritzer, die auch ihre Kleidung bedeckten. «Danke für den Tipp.» Er zwinkerte ihr zu und verschwand in einer der Gassen. Arya warf das Schwert, welches sie während dem Kampf einem der Toten abgenommen hatte auf den Boden und entfernte das Gesicht, welches sie getragen hatte.
Sie glaubte zwar nicht, dass er oder einer der anderen Rebellen sie verfolgten, aber den Söldnern war sie am heutigen Tag sicherlich mehrfach unangenehm ins Auge gefallen und es war besser, es nicht auf ein Wiedersehen ankommen zu lassen. Ein Schwert trug sicherlich auch nicht gerade dazu bei, sie unauffälliger wirken zu lassen. Zur Not hatte sie immernoch zwei Messer bei sich. Sie bog wieder eine etwas belebtere Strasse und war in Gedanken bei den anderen Gesichtslosen. Ob sie es alle geschafft hatten?
«Katz! Sie hatte den Namen schon so lange abgelegt, dass es immer noch fremd war, wenn sie ihn hörte. Arya drehte sich um, konnte Brea aber nirgends entdecken. «Hier oben!» Sie Blickte auf und sah Brea an einem Fenster stehen, offenbar hatte sie gerade einen Teppich ausgeklopft. «Was machst du denn in diesem Teil der Stadt?», fragte sie neugierig. «Vor dem Tumult weglaufen. Hast du denn noch nichts davon gehört?» Während sie davon sprach, sah sie sich gleichzeitig um, ob ihr nicht doch noch ein Söldner gefolgt war. Doch es waren kaum noch Menschen unterwegs.
«Doch, Schreie und Schwertergeklirr. Daher hielt ich es für besser, gar nicht erst nach draussen zu g... Du meine Güte Katz, bist du verletzt?!» Arya sah an sich herunter und fluchte. War nicht sie es gewesen, die Vyron noch kurz zuvor geraten hatte sich umzuziehen?
«Nein, keine Sorge. Ich wurde bloss von einem Rebellen angerempelt. Das ist nicht mein Blut.» Sie schlang die Arme um ihren Körper, bei einem eher kläglichen Versuch einen Teil des Blutes zu verbergen. «Du siehst aber ganz schön mitgenommen aus. Komm rein, ich mache dir einen Tee.» Erst wollte sie dankend ablehnen, aber wenn sie mit so viel Blut auf der Kleidung durch die Strassen ging war es nur eine Frage der Zeit, bis sie von einer Patrouille angehalten wurde. Also nahm sie die Einladung an und bat Brea während darum, ein Hemd ausleihen zu dürfen.
«Wenn ich in diesem Aufzug weiter durch die Stadt gehe, halten sie mich am Ende auch noch für eine Rebellin.» Brea lachte und Arya stimmte mit ein. Sie gab ihr ein schlichtes Leinenhemd und auch wenn es Arya um einiges zu gross war, es war immer noch weniger auffällig als das Blut zuvor. «Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo du wohnst.» Arya nahm ein paar grosse Schlucke Tee. Zum einen verschaffte es ihr Zeit, um sich eine Antwort zurecht zu legen, zum anderen konnte sie schneller wieder aufbrechen.
«Ich wohne im Moment bei Freunden.» Sie stellte die leere Tasse auf den Tisch. «Danke für deine Gastfreundschaft, aber jetzt muss ich wirklich los. Sie fragen sich bestimmt schon längst wo ich bleibe.» Brea begleitete sie bis zur Tür. Maro protestierte zwar erst als sie gehen wollte, traute sich dann aber doch nicht weiter als bis zur Türschwelle.
~
Die Heimatlose war in eine leise aber aufgeregte Diskussion mit einem Gesichtslosen vertieft, der nicht nur klatschnass, sondern auch blutbesudelt war. Nachdenklich runzelte Arya die Stirn. Als sie mit Vyro geflohen war, waren die Gesichtslosen bereits weg gewesen. Hatte man ihn eingeholt? Instinktiv sah sie sich nach Jaqen um und verspürte leichtes Unbehagen, als sie ihn nirgendwo entdecken konnte. Besonders, als sie einige Gesprächsfetzen mit anhörte.
«Ich weiss wo er ist und gehe zurück.» Die Heimatlose war von diesem Vorschlag alles andere als begeistert.
«Du bist selbst verletzt. Wir schicken jemand anderes.» Der Gesichtslose war gerade dabei, sich selbst den Arm zu verbinden. «Dann tu es schnell. Entweder Hestins Männer finden ihn oder er holt sich dort unten eine Blutvergiftung. Ich weiss nicht mal, ob wir ihn da rausschaffen könnten. Er müsste entweder ein ganzes Stück gegen die Strömung schwimmen um einen ebenen Platz zu finden oder hochklettern.» Sie verstand nicht genau, um was es ging, aber es war eindeutig ernst. Die Heimatlose zeigte sich sonst immer sehr bedeckt und ausdruckslos, aber jetzt war sie unruhig, geradezu nervös.
«Dann müssen wir ihn dort unten behandeln. Ich könnte selbst gehen. Ich kann nicht immer alles den anderen überlassen.»
«Das ist keine gute Idee. Wenn er nicht durchkommt, bist du die letzte Priesterin. Wenn ihr beide geschnappt werdet, sind wir führerlos. Wir haben keine Zeit uns neu zu organisieren.» Jetzt hielt sie es Arya nicht mehr aus. Der letzte Satz hatte keinen Zweifel daran gelassen, um wen es sich bei dem Verletzten handelte. «Was ist passiert?» Es war der Gesichtslose, der antwortete. Die Heimatlose war in ihre Gedanken vertieft. «Ein Auftrag ist schief gegangen.»
«Kann ich helfen?» Der Gesichtslose war dem Vorschlag nicht abgeneigt. «Eigentlich keine schlechte Idee. Wie gesagt, wir sollten keine Zeit verlieren.» Nun mischte sich die Heimatlose doch wieder ein. «Ich weiss nicht.» Arya war es so leid, dass alle an ihr zweifelten.
«Warum? Weil ich nur eine Akolythin bin?» Die Heimatlose schüttelte den Kopf. «Nein. Weil du ihn zurücklassen musst, falls ihr gefunden werdet und ich mir nicht sicher bin, ob du das tun würdest.» Arya war sich sicher, dass sie es nicht tun würde. Aber sie tat besser daran, diese Tatsache der Heimatlosen nicht auf die Nase zu binden. «Dann wirst du es wohl herausfinden müssen», sagte sie bloss und war zugegeben überrascht, als sie keinen weiteren Protest mehr vernahm.
Sie nahm sich zwei Decken und alles an Verbänden, Salben und Tinkturen was sie tragen konnte. Ausserdem ein Seil, für den Fall, dass sie sich irgendwo abseilen musste. Sowohl die Decken als auch die Medizin waren nutzlos, wenn alles im Kanal landete. Bevor sie ging mahnte die Heimatlose sie noch einmal zur Vorsicht- als ob sie das nicht selbst wüsste - und der Gesichtslose, welche mit Jaqen unterwegs gewesen war erklärte ihr wo sie ihn finden konnte.
So befand sie sich also schneller als erwartet und schneller als erhofft wieder auf den Strassen von Braavos, es war schon beinahe Nacht. Sie trug das Gesicht einer alten Frau und ging gebückt mit ihrem Bündel auf dem Rücken. Auf ihrem Weg wurde sie von mehreren Patroullien gesehen. Zwei Mal wurde sie angehalten und gefragt, ob sie auf ihrem Weg Rebellen bemerkt hätte, was sie verneinte. Ansonsten liess man sie in Ruhe. Als sie die Stelle erreichte, die der Gesichtslose ihr genannt hatte, sah sie sich nochmal um. Die Idee, das Seil zu benutzen um den Abstieg zu erleichtern, hatte sie aufgegeben. Wenn das Seil jemandem ins Auge fiel, war es geradezu ein Wegweiser zu ihrem Versteck. Also hoffte sie darauf, dass die Steinsäule, welche dabei half die Brücke zu stabilisieren, nicht zu glitschig war.
Sie hätte sich am liebsten beeilt, mahnte sich aber bei jeder Bewegung zur Ruhe. Nur dadurch gelang es ihr nicht abzurutschen, als sie das untere Ende der Säule erreichte. Der Gesichtslose hatte ihr erklärt, dass sie möglichst weit rechts ins Wasser springen sollte, da der Kanal dort bereits weniger tief war. Gemäss seinen Erklärungen wurden einige der Kanäle, besonders diejenigen, die mt dem Meer verbunden waren, als Schiffsanlegestellen genutzt. Der Hafen reicht einfach nicht für alle Fischerboote aus. Noch weiter rechts gab es einen Pfad, fast unter der Erde, auf dem die Fischer ihre Boote erreichen konnten. Irgendwo müsste es also auch einen Zugang geben, bei dem die Füsse trocken blieben, doch Arya hatte sich nicht die Zeit genommen diesen zu suchen. Also versank sie bei ihrem Sprung bis zu den Knöcheln im Wasser, doch ihr Gepäck blieb trocken.
Schon nach wenigen zögernden Schritten auf dem glitschigen Weg war es stockdunkel und bis auf das sachte Rauschen und Plätschern des Kanals völlig still. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich völlig blind und nach wie vor behagte ihr das Gefühl nicht. Schritt für Schritt wagte sie sich weiter vor, der schmale Pfad war glitschig und sie wollte es keinesfalls riskieren, jetzt doch noch einen Fehler zu machen. Diese erzwungene Vorsicht zerrte an ihren Nerven, besonders wenn sie wusste, dass sie einen Schwerverletzten suchen musste. Auf einmal hörte sie etwas leises, was sie zuerst nicht zuordnen konnte. Was es war merkte sie erst, als sie ihren eigenen Atem anhielt- und jemand anderes weiteratmete.
Sie kniete sich hin und tastete sich mit den Händen voran, nicht, dass sie am Ende noch auf Jaqens Brustkorb trat. Endlich bekam sie ein Stück Stoff zu fassen. Nun da sie ihr Ziel erreicht hatte und sich unter der Erde befanden, wagte sie es endlich, die kleine Laterne zu entzünden, die sie bei sich getragen hatte. Sie stellte die Laterne auf die andere Seite seines Körpers und tastete als erstes nach seinem Puls. Er war kräftig, aber zu schnell. Erst als sich ihre Blicke kreuzten wurde ihr klar, dass er wach war. Gut. Sollte er ihrern vorwurfsvollen Blick ruhig sehen.
«Wenn ich das richtig verstanden habe, ist dein Rücken verletzt. Und da fällt dir nichts besseres ein, als dich mit dem Rücken in den Dreck zu drehen?» Noch während sie sprach, drehte sie ihn mit einem Ruck auf den Bauch und betrachtete die tiefe, klaffende Wunde, sie sich von seinem linken Schulterblatt bis hinunter zur rechten Hüfte zog. Der ganze Rücken war blutverkrustet, aber selbst so sah sie, dass sich die Wunde bereits entzündet hatte.
Das Wasser in den Kanälen von Braavos war ungefähr so sauber wie das Wasser in Flohloch. Der Schwerthieb hatte die Kleidung ohnehin fast zerteilt, also war es nicht schwierig, den Rest auch noch zu zerreissen und das Hemd ganz von seinen Schultern zu schieben. Sofort machte sie sich an die Arbeit, hielt aber inne, als sie nach der Flasche mit dem Alkohol griff – sie hatte nicht genug Teebaumöl um alles sauber damit zu reinigen. Das brauchte sie dann eher für die Nachbehandlung der Wunde. Alkohol tat seinen Zweck auch, brannte dabei aber deutlich stärker. Also griff sie nach der Flasche mit Mohnsaft. Schlafsüss war ihr bei seinem derzeitigen Zustand zu Riskant. Zumal sie das Zeug bisher nur gebraucht hatte um jemanden umzubringen und sich bei der Dosierung alles andere als sicher war.
«Nein… Ein Mann will nichts.» Sie sah ihn skeptisch an. «Über uns ist ein wahres Pulverfass an Wachen, die nur zu wild darauf wären, dich öffentlich hinzurichten. Wenn du schreist, muss ich dich knebeln.» Er liess sich davon nur wenig beeindrucken, also fuhr sie mit der Behandlung der Wunde fort.
Sie tränkte ein sauberes Leinentuch in Alkohol und sah Jaqen nochmal in die Augen. Er nickte und sie machte sich daran, die Wunde und seinen Rücken vom Blut zu befreien. Dabei bemerkte sie schnell die Striemen, die sich auf seinem Rücken befanden. Manche waren besser verheilte, helle Linien, bei anderen hatte sich Narbengewebe gebildet. So sehr der Anblick sie auch faszinierte, die Wunde, die heute entstanden war, hatte Vorrang. Jaqen hatte ihre grösste Hochachtung davor, dass er während der ganzen Prozedur keinen einziges Geräusch von sich gab. Aber das angespannte Zittern seines Körpers und die zischenden Atemgeräusche verrieten, wie viel Schmerzen ihm die Behandlung bereiten musste. Das wurde auch nicht besser, während sie die Wunde nähte. Erst als sie die Wunde mit einer kühlenden Salbe bestrich, entspannte er sich etwas, zitterte aber weiter. Auch sie spürte, wie ihr die kühle Feuchtigkeit in die Glieder kroch und im Gegensatz zu ihm trug sie etwas am Oberkörper.
In einem Becher mischte sie Mohnsaft, Wasser und Weidenrinde gegen das aufkommende Fieber. Dann half sie ihm dabei sich aufzusetzen und hielt ihm den Becher an die Lippen. Er zögerte erst kurz, doch der Schmerz- und vielleicht auch der Durst- gewannen die Oberhand. Als der Becher leer war, legte er sich mit dem Bauch auf die Decke, die sie zuvor auf dem Boden ausgebreitet hatte. Sie schob ihm den dünnen Mantel den sie getragen hatte als Kissen unter den Kopf und breitete die zweite Decke über ihm aus. Die Narben auf seinem Rücken gingen ihr nicht aus dem Kopf. Alleine durch ihren Anblick hatte sie mehr über seine Vergangenheit erfahren als in all den letzten Jahren. Mit dem Anblick und dem Wissen darum, wie sehr er die Sklavenhändler verabscheute, war es einfach sich den Rest dazu zu denken. Auch wenn sie nicht wusste, wie Quaithe und Melisandre in diese Geschichte mit hineinpassten. Nach einer Weile wurde sein Atem etwas regelmässiger und sie löschte die Laterne. Wer wusste, wie viele Tage sie hier unten ausharren mussten… Es war wirklich die falsche Umgebung für einen Schwerverletzten, aber sie konnte ihn unmöglich tragen und im Moment konnte er sich sicher nicht mal gestützt auf den Beinen halten. Also setzte sie sich einfach im Schneidersitz neben ihn, ein Messer in der linken Hand und lauschte in die Dunkelheit.
~ ~ ~
Er stand auf einem Feld, die Sonne brannte unerbittlich vom Himmel und er wischte sich den Schweiss von der Stirn. Um ihn herum war ein riesiges Kornfeld, gespickt mit Gestalten, die es ernteten, mehrheitlich Kinder. Mit seinen elf Jahren gehörte er zu den ältesten von ihnen und so war es an ihm, den Karren mit dem frisch geernteten Korn zu ziehen. Sklaven waren billiger als Pferde. Seine Arme und insbesondere sein Rücken schmerzten von der Last, aber er war nicht gewillt, sich etwas anmerken zu lassen. Nicht weil er eitel war, sondern weil er früh erkannt hatte, dass die Behandlung nur noch schlechter wurde, je mehr er sich beklagte.
Einen Schritt nach dem anderen machte er vorwärts und wirbelte dabei immer kleine Staubwolken auf. Es war ein sehr trockenes Jahr, so trocken, dass ein grosser Teil der Ernte schon längst verdorrt war. Das hiess zwar etwas weniger Arbeit, aber deutlich weniger Essen. Schritt für Schritt näherte er sich der Stadtmauer, wo die erwachsenen Sklaven damit beschäftigt waren, die Mauern auszubessern. Er fragte sich, wie lange er diesmal an einem Ort blieb. Seit dem Tod der Sklavin, von der er vermutete, dass es seine Mutter gewesen war, war er schon fünf Mal weiterverkauft worden. Als er mit dem Wagen in den Schatten der Stadtmauer eintauchte, erwartete er etwas Linderung von der Hitze. Doch sein Körper brannte weiter.
Unsichtbar für die Menschen in den Strassen setzte er seinen Weg fort. Keiner achtete hier auf Sklaven, sie waren ein ebenso alltägliches Übel wie Fliegen und streunende Hunde. Er lud die Ären ab und zog den leeren Wagen zurück auf die Felder. Bis auf ein Becher von der Sonne aufgewärmtes Wasser hatte er nichts bekommen. Und das auch nur, weil die Sklaven ohne Wasser irgendwann zusammenbrachen. Das war schlecht fürs Geschäft. Er ging weiter und immer weiter… Aber egal wie viele Schritte er tat, die Felder kamen einfach nicht näher. Völlig erschöpft und von der Hitze geplagt blieb er stehen und schloss die Augen.
Als er sie wieder öffnete, umfing ihn völlige Dunkelheit. Doch die Hitze, die war geblieben. Nur langsam dämmerte ihm, wo er sich befand. Die Träume waren um einiges realistischer als die Realität. Umso entschlossener versuchte er, die Bilder wegzuschieben und sich aufzusetzen. Aber seine Muskeln wollten ihm nicht gehorchen. Ein leichtes Zischen war zu hören, als Arya das Öl in der Laterne anzündete. Die Dunkelheit wich zurück und er war dankbar dafür, sich wieder orientieren zu können, auch wenn er spürte, dass die Erschöpfung ihn wieder zu überwältigen drohte. Wieder half Arya ihm dabei sich aufzusetzen und Wasser zu trinken. Im Gegensatz zu seinem Traum war das Wasser kalt und fühlte sich wunderbar angenehm in seinem erhitzten Körper an. Er zuckte zusammen, als Aryas kalte Hand seinen Rücken berührte.
«Die Wunde eitert. Ich weiss nicht, ob ich sie nochmal öffnen muss.» Er musste sich zwei Mal räuspern, bevor er antworten konnte. «Das würde nichts bringen. Entweder der Körper wird damit fertig- oder eben nicht.» Das Fieber quälte ihn, aber es war im Moment seine beste Chance zu überleben. Trotzdem versuchte er so lange wie möglich bei Bewusstsein zu bleiben. «Wie lange sind wir schon hier?»
«Zwei Tage.» Es hätten auch Wochen sein können, das Zeitgefühl war ihm längstens abhandengekommen. «Weiss ein Mädchen was da draussen vor sich geht?»
«Nein. Ich war nicht draussen. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig.» Ihre kalte Hand legte sich auf seine Stirn. Das verschaffte ihm etwas Linderung und er schloss die Augen.
Als er sie wieder aufschlug, war es immer noch dunkel. Das leichte Schaukeln verriet, dass er sich in einem Schiff befinden musste. Um ihn herum herrschte grösstenteils Stille, nur wenige von ihnen hatten noch genug Kraft um zu schluchzen. Er wusste nicht, wo sie ihn diesmal hinbringen würden. Warten, mehr konnte er nicht tun. Hoffen, das hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben. Er rechnete eigentlich jederzeit damit, dass einer seiner Meister genug von ihm hatte und ihn töten liess. Er war schon fast neugierig darauf zu erfahren, was danach kam. Solange es keine Schmerzen waren, konnte es eigentlich nur besser sein. Die Tür wurde geöffnet und der Schein einer Fackel drang herein.
«Raus mit euch.» Trotz der Ungewissheit, der Gedanke an Tageslicht trieb ihn zur Eile an und er war einer der ersten, die aus der Tür trat. Plötzlich befand er sich nicht mehr im Inneren eines Schiffes, sondern auf einer Wiese. Einer Wiese mit weissem Gras, das von innen heraus zu leuchten schien. Doch für die seltsamen Pflanzen hatte er kaum einen Blick übrig, viel eher zogen die fünf dünnen Baumstämme seine Aufmerksamkeit auf sich. An vier von ihnen waren schon Jugendliche gebunden worden, der fünfte war noch leer.
Er wurde an den Armen gepackt und zu dem Scheiterhaufen gezerrt. Es gab keine Möglichkeit sich aus den Griffen zu befreien, mit einem Mal konnte er sich nicht mehr bewegen. Die Stricke um seinen Körper wurden festgezogen und als er den Blick hob sah er eine Reihe von Männern und Frauen vor sich. Einige sahen zu den Scheiterhaufen, andere standen in kleinen Grüppchen beieinander und redeten. Eine von ihnen, eine Frau mit rotem Mantel und rotem Haar starrte ihn an. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte sie auf eine Art und Weise die ihm das Blut in den Adern gefrieren liess.
Doch das Bild verschwamm vor seinen Augen, ein Ziehen an der Schulter brachte ihn in die Gegenwart zurück. Diesmal war ihm kalt, sehr kalt sogar. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, es war nass. Ob von Schweiss oder von Tränen konnte er nicht sagen. Arya zog die Hand zurück, sie hatte ihn offensichtlich geweckt. «Egal was du geträumt hast, es ist vorbei.» Er fühlte, wie Arya seine Hand nahm. «Ist… es… nicht…», stiess er mühsam hervor. Noch so einen Traum überlebe ich nicht, dachte er. Trotzdem gab er sich Mühe, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen, was ihm schliesslich auch gelang. Während der ganzen Zeit liess Arya seine Hand nicht los. Oder war er es, der ihre umklammerte? Als ihm diesmal die Augen zufielen war es tatsächlich ein traumloser Schlaf. Sein Körper und sein Geist waren einfach zu erschöpft, um ihn weiter mit alten Erinnerungen zu quälen.
Als er das nächste Mal erwachte, fiel ein kleiner Schein Tageslicht durch den Kanal. Wieder hatte er keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte, aber er merkte sofort, dass das Pochen in seinem Rücken zwar immer noch schlimm, aber nicht mehr ganz so quälend wie zuvor war. Er schaffte es sogar, sich langsam auf die Knie zu kämpfen. Erst da bemerkte er, dass Arya an die Wand gelehnt eingeschlafen war. Das Messer, welches sie zuvor offenbar umklammert gehalten hatte, lag neben ihrer Hand. Wer wusste, wie viele Tage sie schon an seiner Seite Wache gehalten hatte? Er suchte in dem Beutel den Arya mitgenommen hatte nach einem Trinkschlauch. Aryas Schlaf konnte nicht tief gewesen sein, denn als sie das Rascheln des Stoffes hörte, wachte sie sofort auf.
«Na endlich. Ohne deine Atemgeräusche hätte man meinen können, du seist tot.» Ihr Blick war fast vorwurfsvoll. «Nein. Und das hat ein Mann einem Mädchen zu verdanken.» Sie schüttelte bloss den Kopf. «Das hast du einzig und alleine dir selbst zu verdanken.» Es fröstelte ihn, als Arya die Decke von seinem Rücken schob um die Wunde zu inspizieren. Obwohl er es nicht sah, konnte er spüren, wie ihre Augen nicht nur an der Wunde, sondern auch an den Narben hängen blieben.
«Es sieht immer noch nicht schön aus, aber es beginnt langsam zu heilen.» Sie schob die Decke wieder über seine Schultern und setzte sich ihm gegenüber. «Sobald du wieder stehen kannst, müssen wir hier raus. Für den Moment ist das Fieber unter Kontrolle, aber bei der Kälte hier unten ist es nur eine Frage der Zeit, bis du dir eine Lungenentzündung holst.» Sie hatte es nicht weniger nötig als er von hier weg zu kommen. Die Schatten täuschten nicht über die tiefen Ringe unter ihren Augen hinweg. Und die Sorge in ihrem Blick.
«Ein Mädchen sollte sich nicht so viele Gedanken darüber machen, was mit einem Mann passiert.» Umgekehrt wäre es nicht anders, aber ihm war schon lange klar, dass sie sich näher standen als es gut für sie war. Sie erwiderte nichts darauf und für längere Zeit schwiegen sie, während er zum ersten Mal seit Tagen versuchte feste Nahrung zu sich zu nehmen. Arya erzählte ihm, dass sie nun schon ganze fünf Tage hier unten ausharrten.
«Wie viele Sprachen sprichst du eigentlich?» Die Frage kam unerwartete und Arya merkte wohl, dass er nicht wusste, worauf sie damit hinauswollte. «Du hast im Schlaf geredet», erklärte sie. Das war ihm etwas unangenehm, aber da sie fragte vermutete er, dass sie nicht alles davon verstanden hatte. «Etwa sechs, manche besser, manche schlechter.»
«Ich hoffe wer immer dir das angetan hat, hat seine Strafe bekommen.» Ein bitteres Lächeln umspielte seine Gesichtszüge. «Wenn ja war ein Mann nicht daran beteiligt.» In seinen jüngeren Jahren wäre ihm nie der Gedanke daran gekommen, er hatte zwar gehört, dass es aufmüpfige Sklaven geben sollte, aber einen seiner Meister anzugreifen hätte er nie gewagt. Dieser unbändige Hass war erst in seiner Pubertät gekommen. «Und es stört dich nicht, zu wissen, dass diese Monster vielleicht noch frei herumlaufen?»
«Ein Mädchen hat auch schon länger nicht mehr an seine Liste gedacht.» Es musste schon mehrere Jahre her sein, als er das letzte Mal gehört hatte, wie sie die Namen vor sich hinmurmelte. «Aber auch du bist nicht so Gefühlskalt wie du immer tust. Melisandre hast du gehasst.» Das konnte er schlecht leugnen. Er verfluchte sie nicht nur dafür, dass sie ihn beinahe bei lebendigem Leibe verbrannt hatte, sondern für alles, was danach geschehen war. Sie hatte ihm Dinge beigebracht, die er gar nie hatte lernen wollen.
«Warum will ein Mädchen all das wissen?» Es dauerte eine Weile, bis sie sich zu einer Antwort durchrang.
«Weil ich verstehen will, was in dir vorgeht. Warum du auf einmal so abweisend warst und mir aus dem Weg gegangen bist.» Mit solch einer offenen Antwort hatte er nicht gerechnet. Und irgendwo, das merkte er, schuldete ihr ebenso Offenheit. Wenigstens in einigen Punkten.
«Ein Mädchen wurde etwas zu gut darin, die Gefühle eines Mannes zu erkennen. Das schaffen nur sehr wenige Leute und je weniger, desto besser.»
«Du hast das bei mir auch immer getan, ohne den geringsten Skrupel. Ausserdem erklärt das nicht, warum du mit meiner Ausbildung aufgehört hast.» Er wollte protestieren, ihr sagen, dass dem nicht so war. Sicher, er war ihr aus dem Weg gegangen, aber das war nicht der einzige Grund. «Ein Mann hat nicht mit der Ausbildung aufgehört, ein Mädchen weiss einfach schon sehr viel.» Nun wo sie darauf zu sprechen kam, dachte er automatisch wieder an sein letztes Gespräch mit dem Gütigen Mann.
«Und bevor ein Mädchen fragt… Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für die letzte Prüfung.» «Weil wir keinen passenden Ort mehr haben? Wenn es um einen Kampf oder so etwas geht...» Er erkannte den nicht besonders gut versteckten Versuch, etwas aus ihm herauszubekommen. Doch er konnte nicht darauf eingehen. Wenn sie wüsste, worum es in der letzten Prüfung wirklich ging, wären ihre Chancen viel geringer. Um einer Antwort zu entgehen machte er einen ersten Versuch aufzustehen. Seine Beine protestierten zwar, aber sie hielten seinem Gewicht stand. Viel eher bereitete ihm die Naht an seinem Rücken Probleme, durch die gleich wieder ein stechender Schmerz fuhr. Vermutlich wusste Arya, dass das ein ziemlich kläglicher Versuch war vom Thema abzulenken, aber sie beliess es vorerst dabei, worüber er froh war. «Gehen wir», sagte er. Er wollte diesen Ort hinter sich lassen. Diesen Ort und all die schlechten Erinnerungen, die ihn hier eingeholt hatten.