Im Tempel herrschte Ruhe. Es war mitten am Tag und entsprechend alle beschäftigt. Viele ausserhalb dieser Mauern und diejenigen, die sich innerhalb des Tempels aufhielten gingen ihrer Tätigkeit schweigend nach. Das schummrige Licht blieb den ganzen Tag über gleich, es sei denn, jemand öffnete das Tor, so wie in diesem Moment.
Es war eine ältere Frau, die vor dem Bildnis des Meerlingkönigs stehen blieb. Anstatt jedoch zu beten, warf sie der Statue einen Blick zu, dessen Feindseligkeit schon fast körperlich spürbar war. Kurz darauf näherte sie sich dem Becken. Sie blieb etwas unentschlossen stehen, was durchaus verschiedene Gründe haben konnte. Entweder, die Frau war sich ihrer Entscheidung doch nicht sicher, oder sie fürchtete sich vor dem, was da kam. Er wartete ab, bis sie von selbst zu sprechen begann.
«Früher habe ich nie verstanden, warum Leute hierherkommen um sich ihr Leben zu nehmen. Ich hielt solche Leute für feige. Doch jetzt…» Sie schluckte nur und wirkte etwas verloren.
«Der Tod ist nicht für alles die Lösung. Wenn dieser Weg erst eingeschlagen ist, gibt es kein Zurück mehr. Eine Frau sollte sich dies gut überlegen.» Nicht selten kam es vor, dass Leute noch im letzten Moment einen Rückzug machten. Keiner, der diesen Weg beschritt sollte den Schritt in seinen letzten Minuten bereuen.
«Das habe ich. Seit die See mir auch noch meinen letzten Sohn genommen hat. Ich habe jeden Tag gekämpft um zu überleben, doch ich bin alt. Und müde.» Über das Alter liess sich streiten. Durch die gebückte Haltung und das früh ergraute Haar hatte die Frau auf den ersten Blick älter gewirkt, als sie es wahrscheinlich war. Wenn er sie hier so sah, konnte sie höchstens Anfang fünfzig sein.
«Hat eine Frau keine andere Familie?»
Sie schüttelte nur den Kopf. «Meine beiden Söhne wurden mir von der See genommen. Der eine schon vor zwanzig, der andere vor drei Jahren. Meine Tochter starb im Kindbett, mein Enkel gleich mit ihr. Und mein Mann, dieser elende Sturkopf, wollte sich als Söldner verdingen um uns ein besseres Leben zu bieten.» Er fragte nicht nach, was mit ihrem Mann geschehen war, konnte er es sich doch denken. Und das Schicksal der Söhne erklärte auch, warum sie auf die Gestalt des Merlingskönigs eine solche Abscheu hegte. Auch wenn es nur eines der vielen Gesichter war, welche Er trug.
Für alleinstehende Witwen, die keine Möglichkeit hatten sich den Lebensunterhalt zu verdienen, sah es in der Tat meistens schlecht aus. Er blickte auf ihre Hände, die sie vor Anspannung ineinander verkrampft hatten. Sie waren geschwollen, was auf eine starke Gicht schliessen liess.
«Es gibt Möglichkeiten die Schmerzen der Gicht zu lindern. Dann könntet Ihr vielleicht eine Arbeit finden.»
«Das ist es nicht. Ich war mein Leben schon leid als ich meine Hände noch einsetzen konnte. Für mich gibt es keine Zukunft mehr und ich will diese Welt lieber mit dem letzten Rest Würde verlassen, das mir noch geblieben ist.» Ihre Entscheidung stand fest und es war nicht an ihm, sie umstimmen zu wollen. Zwar versuchten die Priester immer herauszufinden, ob der Tod wirklich die einzige Lösung war und nicht selten kam es vor, dass doch noch jemand von seinem Plan abwich. Doch diese Frau hatte mit ihrem Leben abgeschlossen und so reichte er ihr schliesslich den steinernen Becher und zeigte ihr, wo sie sich danach zur Ruhe begeben konnte. So wie er ihre Verfassung einschätzte, würde es nicht lange dauern, bis sie Ihm gegenübertrat.
Als die schlurfenden Schritte der Frau verstummt waren, wanderte sein Blick zu der Tür, welche den allgemein zugänglichen Teil des Tempels von den privaten Räumlichkeiten und dem Allerheiligsten abtrennte. Gleich zwei ihrer Mitglieder haderten auf ihre Art und Weise mit dem Leben. Eine sehr fähige Gesichtslose mit dem Verlust ihres Beines. Er wusste, dass sie nach der Amputation kurz davor gewesen war, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Noch jetzt bemerkte er, dass sie dem Becken, jedes Mal wenn sie daran vorüberging einen Blick zuwarf der länger war als gewöhnlich. Doch letzten Endes stellte sie sich ihrem Schicksal und dafür bewunderte er sie. Die Zeit würde zeigen, ob sie jemals wieder Aufträge ausserhalb des Tempels ausführen konnte. Doch gab es auch hier mehr als genug für sie zu tun und eines Tages würde sie vermutlich zur Priesterin aufsteigen. Was seine Gedanken auch schon zum Zweiten von ihnen führte, der mit seinem Leben rang. Keiner wusste wie alt genau er war. Alle, die heute noch lebten waren erst nach ihm hierhergekommen. Aber es mussten über achtzig sein, darin waren sie sich einig. Und bis vor kurzem hatte er sich auch bester Gesundheit erfreut, doch im letzten Jahr hatte e sich eine Lungenentzündung zugezogen und nie richtig davon erholt.
Einige Zeit später ging er den Nischen an den Wänden entlang. Es waren über ein dutzend und fast alle davon waren heute besetzt. Die ersten drei Personen an denen er vorüberging, hatten ihren letzten Atemzug bereits getan. Auch bei der Frau, welche die Gabe erst kurz zuvor erhalten hatte, waren kaum mehr Lebenszeichen festzustellen. Wahrscheinlich wäre sie in den nächsten Monaten vor lauter Gram auch von selbst gestorben. In der nächsten Nische jedoch lag ein Mann, der sich schwerer tat. Er war nun schon hier, seit er die Priesterin abgelöst hatte und das war bereits einige Stunden her.
Er fühlte nach dem Puls, welcher zwar unregelmässig und stockend ging, aber immer noch deutlich zu spüren war. Schweiss lag auf der Stirn des Sterbenden und auch wenn er nicht mehr bei Bewusstsein war, flackerten die Augen unter den Lidern unruhig hin und her. Es kam äusserst selten vor, dass das Gift so lange brauchte. Aufgrund des Fiebers und dem Schaum, der ihm vor dem Mund stand vermutete er, dass der Mann vielleicht bereits selbst versucht hatte sich das Leben zu nehmen und das Gift nicht die gewünschte Wirkung entfaltet hatte. Man wusste nie, wie zwei Gifte miteinander wirkten. Da er nicht wusste, wie lange dies hier noch dauerte, entschied er, noch etwas nachzuhelfen. Nicht, dass er am Ende noch von Schmerzen gequält wieder zu sich kam.
Mit leisen aber raschen Schritten stieg er die Treppe hinab und betrat den Vorratsraum in dem sie Kräuter lagerten und weiterverarbeiteten. Längst nicht alles davon waren tödliche Gifte, mehr als die Hälfte davon waren Heilkräuter. Bei seinem Eintreten wurde er Zeuge einer Szene, die ihn unweigerlich lächeln liess. Arya begutachtete die Arbeit eines anderen Akolythen, der gerade dabei war, eine Giftmischung herzustellen. Es glich genau der Szenerie, die er damals vorgefunden hatte, als er aus Qarth zurückgekehrt war. Nur war es diesmal nicht Arya, die die Kräuter verbrennen liess, sondern der andere Akolyth. Und Arya wies ihn gerade daraufhin. «Das ist nicht mehr zu retten», entschied sie nach einem kurzen Blick und löschte die Flamme. Das war auch gut so, denn die Dämpfe, die entstanden waren brannte in seinen Augen und er stand immerhin noch mehrere Schritte weit entfernt. Entsprechend rasch nahm er die Phiole welche er suchte aus dem Regal und ging wieder zu dem Sterbenden.
Die Phiole enthielt das Giftsekret eines Pfeilgiftfrosches. Er gab nur wenige Tropfen davon in den halb geöffneten Mund des Mannes, das reichte auch. Schon kurze Zeit danach hörte sein Herz auf zu schlagen, das Gift der Pfeilgiftfrösche lähmte alle Muskeln des Körpers innerhalb kürzester Zeit. Und das Herz war nunmal ein Muskel, was jedoch längst nicht allen Menschen bewusst war.
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Er genoss den kühlen Wind auf seiner Haut während er sich seinen Weg von der Insel der Götter Richtung Hafen bahnte. Die Pflichten im Tempel vernachlässigte er niemals, doch wenn sich eine Gelegenheit bot, sich nach erledigter Arbeit für einige Stunden in der Stadt zu bewegen war er nicht abgeneigt. Ausserdem diente fast jeder Ausflug in die Stadt zugleich einem Zweck. Heute beispielsweise war es an ihm, sich mit einem potenziellen Auftraggeber zu treffen. Manche kamen zwar direkt in den Tempel, einige jedoch hatten Skrupel oder Angst, von jemandem gesehen zu werden und aufzufliegen.
Vor seinem Aufbruch hatte er sich umgezogen. Es kam eher selten vor, dass sie ihre Roben in der Öffentlichkeit trugen. Meist gab es nur zwei Reaktionen, die einen starrten, die anderen liefen weg. Ausserdem ging es ja bei diesem Treffen gerade darum unauffällig zu bleiben.
Das Treffen fand an einem abgelegenen Kai statt, wo meistens diejenigen Schiffe hingebracht wurde, für die sich die Reparatur kaum noch lohnte. Entsprechend ruhig war es auch und bis auf die Möwen gab es kein Lebewesen, das ihrem Gespräch lauschte. Manch einer hätte bei einem solchen Treffpunkt wohl ein mulmiges Gefühl gehabt, er aber nicht. Solche Treffpunkte waren für ihn mehr als gewöhnlich. Sein Gegenüber war ein kleiner, untersetzter Mann, der trotz der Abgelegenheit dieses Ortes – oder vielleicht gerade deshalb- immer wieder einen Blick über die Schulter warf bevor er den Namen des Mannes aussprach, für dessen Tod er zu zahlen bereit war.
«Donos Anerassar.» Der Namen reichte ihm bereits, war es doch einer der drei Männer, die schon bald um den Titel des Seelords buhlen würden. Innerhalb kürzester Zeit wollte man sie zur Beseitigung zweier potenzieller Seelords anheuern. «Und? Nehmt ihr den Auftrag an?»
«Ein Mann nimmt ihn zur Kenntnis. Wann die Entscheidung feststeht lässt sich nicht sagen. Wie viel ist euer Auftraggeber zu zahlen bereit?»
«Fünftausend Goldmünzen.» Selbst für wohlhabende Leute war das ein Vermögen, doch für einen Auftrag dieser Wichtigkeit nicht genug. Vorausgesetzt er wurde überhaupt angenommen, was, so wie er die Lage einschätzte, eher nicht der Fall war.
«Das wird nicht reichen.»
«Na gut, zehntausend.» Damit hatte sein Gegenüber unwissentlich einen grossen Fehler begangen, denn eine Preissteigerung von so viel zeigte, dass es noch Luft nach oben gab. Oder er versuchte, sie zum Narren zu halten. Der Gesichtslose schüttelte nur den Kopf. «Das Spiel mit der Geduld ist ein gefährliches.» Damit wandte er sich um, für ihn war das Gespräch hier beendet.
«Seit wann könnt Ihr es Euch leisten, alle Aufträge abzulehnen?» Kurz spielte er mit dem Gedanken, auf die Provokation einzugehen, entschied sich jedoch dagegen liess den Mann stehen ohne sich noch einmal umzudrehen. Allerdings galt es herauszufinden, wer genau hinter diesen Aufträgen steckte, falls es überhaupt derselbe war. Wer auch immer diesen Boten beauftragt hatte, war sich nicht bewusst, mit wem er es hier zu tun hatte. Oder, noch beunruhigender, es war ihnen egal.
Zurück im Haus von Schwarz und Weiss fand er an diesem Abend keine Ruhe. Da Aryas Training bei ihrem Auftrag ohnehin zu kurz gekommen war, entschied er, dass es an der Zeit war, dieses wieder aufzunehmen. Schon kurze Zeit später, standen sie sich mit Übungsschwertern gegenüber.
Bei ihren früheren Übungskämpfen, egal ob mit Waffe oder ohne, war meist Arya diejenige gewesen, die den ersten Angriff gewagt hatte, in der Hoffnung, einen Überraschungstreffer zu landen. Meistens hatte sich dabei schon nach den ersten Bewegungen offenbart, wo sie am einfachsten auszutricksen war. Diesmal jedoch merkte er, wie sie abwartete und so machte er mit einem einfachen Hieb den Anfang. Sie duckte sich darunter hinweg und versuchte sein Knie zu treffen. Er sprang jedoch rechtzeitig zurück, nur um, kaum war die stumpfe Klinge an ihm vorbeigerauscht, wieder nach vorne zu springen und einen hieb gegen ihren Kopf vorzutäuschen. Stattdessen änderte er im letzten Moment die Richtung und versuchte, ihr die Holzklinge aus der Hand zu schleudern.
Als sie diesen Schlag parierte, ging der Schwertkampf erst richtig los. Messer kamen in den freien Städten meistens häufiger zum Einsatz als Schwerter, doch ausgeschlossen war es nicht, besonders, wenn man das Vergnügen hatte, in einen Konflikt mit Wachen zu geraten. Diese nutzten die Schwerter weitaus lieber, da sie eine grössere Reichweite hatten und man einen Angreifer, der nur mit einem Messer bewaffnet war, leichter auf Abstand halten konnte. Er merkte einmal mehr, dass das Schwert immer ihre bevorzugte Waffe gewesen war.
Sie beide unternahmen immer wieder Ausfallschritte und Täuschungsversuche, doch im Grossen und Ganzen war es ein ausgeglichener Kampf, der sich dadurch auch etwas in die Länge zog. Seine einzige offensichtliche Chance ihre Deckung zu durchbrechen erhielt er erst, als ihr rechtes Bein leicht zu zittern begann und sie das Gewicht etwas zu offensichtlich auf das linke Bein verlagerte. Ob es mit ihrer Verletzung zusammenhing konnte er nicht sagen, doch bot es ihm nun die geeignete Gelegenheit, sie mit einem Hieb aus dem Gleichgewicht zu bringen. Während sie sich mit einer Hand haltsuchend auf den Boden stützte, legte er ihr die Klinge seines Holzschwerts in den Nacken.
Sie erhob sich seufzend. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie mit diesem Kampf alles andere als zufrieden war, doch das brauchte sie nicht. Sie hatte sich wirklich gut geschlagen. Da sie sich nun das Bein am Oberschekel- und nicht an der Wade rieb, wo er sie eigentlich getroffen hatte, lag es wohl wirklich an der Verletzung, die nun aber auch schon einige Monate zurücklag.
«Ist die Wunde noch immer nicht richtig verheilt?»
«Doch. Aber der Muskel wurde damals verletzt. Schmerzen tut es nicht mehr, nur habe ich nicht mehr dieselbe Kraft wie zuvor.» Das war auch nicht weiter verwunderlich, nach einer solche Verletzung schonte man das Bein natürlich und tat das auch unbewusst dann noch, wenn man es eigentlich wieder voll belasten könnte. Entsprechend hatten sich die Muskeln dort etwas zurückgebildet. Er lächelte. «Da hilft nur Training.» Begeisterung sah eindeutig anders aus.
«Für heute ist es aber genug.» Auch für ihn. Er musste ihr ja nicht unter die Nase reiben, dass der Kampf auch für ihn durchaus anstrengend gewesen war. Er profitierte zurzeit noch von seiner Erfahrung und der Ausdauer jahrelangen Trainings, doch bis in einigen Jahren würde auch er irgendwann einen Fehler begeh und Arya war auf jeden Fall geschickt genug, einen solchen zu erkennen. Er hoffte allerdings, dass dieser Tag noch etwas auf sich warten liess.
Nach vier weiteren relativ ereignislosen Tagen, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Ferrego Antaryon war in den frühen Morgenstunden verschieden. Was auch immer es für eine Krankheit gewesen war, die ihn Zeit seines Lebens geschwächt hatte, nun hatte sie ihn ganz besiegt und zugleich die Stadt in eine vorübergehende Führungslosigkeit gestürzt.
Im Tempel selbst war von den unsicheren Tagen die nun folgten wenig zu merken, ausser vielleicht, dass die Zahl derjeniger, die in den Tempel kam um zu beten doch etwas zunahm. Manche beteten dafür, dass ein bestimmter Kandidat gewinnen möge, ein anderer dafür, dass das alles einfach möglichst schnell vorüber war.
Gewählt wurde vom Volk und dies auf recht einfache Art und Weise. Auf dem grössten Marktplatz fanden sich alle ein, die zur Wahl aufgestellt wurden. Diese hatten dann kurz Zeit zu erklären, warum sie gewählt werden sollten. Danach musste sich das Volk in Gruppen aufteilen, eine für jeden Kandidaten. Die grösste Gruppe gewann dann logischerweise. Das hiess nicht, das immer alles friedlich ablief. Im Gegenteil, als Ferrego damals gewählt worden war, so hatte man es ihm zumindest erzählt, war es zu einer Rauferei zwischen den verschiedenen Gruppen gekommen, die den ein oder anderen Toten und zahlreiche Verletzte gefordert hatte. Doch allen recht machen konnte man es nie. Allerdings zeichnete die Stadt sich einmal mehr dadurch aus, dass das Volk wenigstens dem Schein nach mitreden konnte. Es war ein Überbleibsel aus jener Zeit, als Braavos gegründet worden war und nur wenige hundert Einwohner umfasst hatte. Ausserdem war es ein guter Weg, um die Entscheidung nicht nur der Oberschicht zu überlassen, auch wenn diese natürlich Wege und Mittel kannten, das Volk nach ihrem Willen zu manipulieren.
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Es herrschte eine angespannte, schon fast feierliche Stimmung auf dem Marktplatz. Nun, wo keine Karren herumstanden und Händler ihre Waren feilboten, hatten hier rund achthundert Leute Platz gefunden. Obwohl Platz finden vielleicht auch etwas viel gesagt war, so dicht aufeinander gedrängt hätte es keiner mehr geschafft umzufallen, auch wenn er von seinem Hintermann gestossen wurde.
Umso angenehmer war es, dass sie auf einem der umliegenden Dächer sassen, wo sie einen guten Überblick hatten. Rechts von ihm hockte Arya im Schneidersitz und rechts von ihr die Priesterin. Zu seiner linken sassen ebenfalls noch zwei Ordensbrüder, einige andere hatten sich wohl andere Verstecke gesucht oder befanden sich ganz am Rand der Menschenmenge. Denn sie alle wählten nicht. Nicht, dass ihre Stimme irgendetwas an Gewicht gehabt hätte, dafür waren sie eindeutig zu wenige. Es war eine Frage des Prinzips. Doch ein Spektakel war es allemal, ausserdem war es gut die Gesichter derjenigen Männer zu kennen, die gegeneinander antraten.
Ganz vorne auf dem Marktplatz war ein Podium errichtet worden, wo sich neben einem dutzend Wachen auch die Kandidaten einfanden. Hinter ihnen war eine Gasse, durch die sie im Notfall entkommen konnten, falls es zu Auseinandersetzungen kam.
Geführt wurde die Versammlung von Joreo Nahys. Er war dafür ausgewählt worden, weil er zwar ein wohlhabender Mann war, jedoch in keiner direkten Verbindung mit einem der drei Männer stand, die heute antraten. Verstärkt wurde seine Stimme durch eine kegelartige Konstruktion, die aufgestellt worden war um seine Stimme zu verstärken.
«Bewohner von Braavos. Heute ist der Tag gekommen, an dem wir alle gemeinsam entscheiden, wer die Nachfolge von Ferrego Antaryon antreten wird. Wie immer wird die Mehrheit dies entscheiden. Ich bitte Euch, allen die sich zur Wahl stellen mit derselben Aufmerksamkeit zuzuhören.» Damit überliess er das Wort Donos Anerassar, die Reihenfolge in der die drei Männer antraten, war vorher ausgelost worden.
Von hier oben aus gesehen wirkte sein Blick unstet und seine Haltung verkrampft, das überraschte den Gesichtslosen doch etwas. Immerhin entstammte Donos aus einer Familie, in der er es gewohnt sein müsste, vor vielen Personen zu sprechen. Denn selbst wenn er nicht der neue Seelord wurde, wobei seine Chancen nicht mal schlecht standen, würde er später einen hohen Posten in der eisernen Bank bekleiden und Durchsetzungsvermögen war dort eine Grundvoraussetzung.
Trotzdem schallte seine Stimme weit über den Platz und sie hatten auch in dieser Höhe keine Probleme damit, jedes Wort zu verstehen.
«Ich könnte euch jetzt versprechen, all eure Probleme auf einmal zu lösen. Aber das kann ich nicht, das kann auch keiner sonst.» Selbst von hier oben aus sah man, dass er sich kurz umwandte und bei diesen Worten einen Blick zu seinen Kontrahenten warf. Die Menge lauschte gebannt und Donos fuhr nach einer kurzen Pause fort. «Trotzdem werde ich versuchen, das bestmögliche zu unternehmen. Mein Ziel ist es, dass keiner in dieser Stadt vor Hunger oder Kälte umkommen muss.» Auch wenn es sehr wenige Bettler bis auf den Platz geschafft hatten, wurde die Aussage mit Wohlwollen aufgenommen. Wer sich um die schwächsten der Stadt kümmerte, scherte sich sicher auch um die anderen. Für ihn war diese Aussage schnell gemacht, hatte er doch die grössten finanziellen Mittel die man sich vorstellen konnte. Allerdings, wenn er solch ein guter Mensch war, wie er hier behauptete, hätte er auch ohne den Titel des Seelords etwas gegen die Armut unternehmen können.
Es war deutlich, dass er noch etwas anderes sagen wollte, doch sollten die eben gesprochenen Worte die letzten seines Lebens sein. Kurz nach diesem Satz brach er auf dem Podest zusammen und auch wenn sogleich drei Gardisten und ein Heiler zu Hilfe kamen war ihm klar, dass diese auch nichts mehr ausrichten konnten. Der Zusammenbruch erklärte wenigstens, warum Donos vorhin so unsicher auf den Beinen gewirkt hatte. Das Gift musste ein langsam wirkendes gewesen sein, wenn auch keines von ihnen, denn auf sein Anraten hin hatten sie auch diesen Auftrag abgelehnt. Auf dem Platz brach ein heilloses Durcheinander aus, das Volk wusste nicht recht, was es mit dieser Situation anfangen sollte.
«Gehen wir zurück», schlug er vor. «Bevor sich die ganze Stadt entschliesst dasselbe zu tun.» Heute, das stand fest, wurde kein neuer Seelord mehr gewählt.