Bereits auf ihrem Weg zum Hafen setzte ein leichter Nieselregen ein, der sich innerhalb weniger Minuten zu einem ausgiebigen Regenschauer steigerte. Im Osten machte sich der erste Schimmer des anbrechenden Tages bemerkbar, kam aber nicht gegen die dunklen Wolken an. Hoffentlich fanden sie überhaupt ein Schiff, welches sie mitnahm. Grosse Gesteinsbrocken die vom Titan ins Meer gestürzt waren machten das Anlegen noch immer schwer, weshalb es deutlich weniger Handel gab als zuvor. Entsprechend war es auch nicht mehr ganz so einfach, ein Schiff zu finden. Was den Ort ihrer Reise anging durften sie nicht wählerisch sein, Hauptsache weg aus Braavos.
Gerade mal fünf Schiffe lagen vor Anker. Zwei von ihnen waren für die Fischerei gedacht und fuhren sicher nicht in andere Städte. Also wandten sie sich einem der anderen drei Schiffe zu, aus dem gerade Stoffe entladen wurden. Der dortige Kapitän forderte jedoch einen Preis, der sie unter normalen Umständen nach Asshai und wieder zurück gebracht hätte, dabei fuhr das Schiff gerade mal nach Penthos. Der Kapitän wusste, wie wenige Möglichkeiten es zurzeit gab aus Braavos weg zu kommen und nutzte das schamlos aus. Sie machten sich nicht mal die Mühe zu verhandeln, sondern gingen in Richtung des zweiten Schiffes davon, nur um zu merken, dass dieses bereits abgelegt hatte. Nun gab es also bloss noch eine Möglichkeit und Arya hoffte auf etwas Glück. Nach allem was in den letzten Stunden vorgefallen war hätten sie das wirklich verdient. Sie baten einen der Matrosen, ihren Kapitän zu holen, der nicht lange auf sich warten liess. «Was kann ich für euch tun?», fragte er mit einem freundlichen Lächeln.
«Wir möchten gerne weg aus Braavos.», erklärte Arya. «Wohin fahrt ihr?»
«Zurück zu den Sommerinseln.», entgegnete der Kapitän. Die Sommerinseln… Dort war sie noch nie gewesen, nur war sie sich nicht sicher, ob das wenige Geld welches sie bei sich trugen für eine Überfahrt reichte. Diese Befürchtung bewahrheitete sich, als sie dem Kapitän vorlegten, was sie an Geld bei sich hatten. «Das würde im Normalfall für eine halbe Kajüte reichen. Aber zu eurem Glück sind die Winde bei der Rückfahrt um einiges schlechter, ein paar helfende Hände mehr können da sicher nicht schaden.»
Bei strömendem Regen Taue einzuholen war sicher keine allzu erstrebenswerte Arbeit, doch an diesem Tag hätte Arya auch Nachttöpfe ausgeleert, wenn es sie nur von Braavos wegbrachte. Für lange Jahre war die Stadt ihre Heimat gewesen und die Vorstellung, sich wieder eine neue suchen zu müssen bereitete ihr Unbehagen. Allerdings hätte sie als Kind auch nicht gedacht, einen anderen Ort als Winterfell ihre Heimat zu nennen. Ausserdem hatte sie diesmal den entscheidenden Vorteil, jemanden an ihrer Seite zu haben, dem sie bedingungslos vertrauen konnte. Solange Jaqen an ihrer Seite war, konnte sie sich überall zuhause fühlen.
Sie halfen den ganzen Tag tatkräftig mit, bekam dafür aber auch die Verpflegung und die Kajüte umsonst, das wenige Geld welches sie hatten, durften sie behalten. Ihnen stand eine eigene Kajüte zur Verfügung, was ihnen nur recht war. So hatten sie einen ungestörten Ort zum Reden. Sie setzten sich nebeneinander auf das untere der beiden Betten. Obwohl Arya viele Fragen auf der Zunge brannten und sie wusste, dass es Jaqen nicht anders erging, genossen sie für einige Zeit die Ruhe.
«Warum wollte sie mich ausgerechnet jetzt töten? Seit unserer Rückkehr aus Westeros habe ich ihr keinen Anlass dazu gegeben.» Diese Frage beschäftigte sie schon seit sie vom Tod zurückgeschickt worden war.
«Ein Mann ist sich sicher, dass es immer noch mit Noridos zu tun hat. Sie konnte einem Mann nicht verziehen, dass er gelogen hat um ein Mädchen zu schützen.»
«Aber warum hat sie dann mich getötet und nicht dich?»
«Weil der Tod für einen Mann keine wirkliche Strafe gewesen wäre.» Er schwieg. Die Bedeutung seiner Worte wurden ihr erst nach und nachf bewusst. Ihr Tod wäre schlimmer für ihn gewesen als sein eigener. Diese Erkenntnis traf sie doch etwas unerwartet. Ihr war schon lange klar, dass sie beide mehr verband als noch vor ein paar Jahren. Ihre Freundschaft war tiefer als sie es je für möglich gehalten hätte. Alle Regelbrüche die er in den letzten Jahren begangen hatte, waren ihretwegen gewesen. Eine solche Verbindung war wertvoller als alles Geld der Welt.
«Irgendwie schon ironisch, dass ein Diener des Todes Leute ins Leben zurückholen kann», meinte sie schmunzelnd. Verständnislos sah Jaqen sie an. «Ein Mädchen hat doch gesagt, es war seine Entscheidung.»
«War es auch. Es war seine Entscheidung, ob er dich damit durchkommen lässt oder nicht. Ich hielt es allerdings für gesünder, innerhalb des Tempels nicht davon zu reden.» Sie musste über seine Verwirrung schmunzeln. «Hast du denn so wenig Vertrauen in deine eigenen Fähigkeiten?», neckte sie ihn. Er erwiderte nichts darauf und für länger Zeit herrschte wieder Stille. Sie glaubte schon für heute sei ihr Gespräch beendet und erhob sich um sich in das obere der beiden Betten zurückzuziehen, als er seine Sprache doch noch wiederfand. «Ein Mann hätte nie geglaubt, dass seine Jahre in Asshai doch noch für etwas gut sein könnten.»
~
Mit jedem Tag welchen sie den Sommerinseln näher kamen, besserte sich das Wetter. So weit im Süden war es kaum vorstellbar, dass in Westeros noch immer Winter herrschte. Doch nicht nur das Wetter war angenehm, die ganze Besatzung verbreitete gute Stimmung und es wurde im Verhältnis zu anderen Schiffen selten geflucht. Wenn es gerade nichts für sie zu tun gab, sassen sie gemeinsam mit der anderen Besatzung an Deck zusammen und erzählten sich allerhand Geschichten. Die meisten davon waren zweifellos gelogen oder masslos übertrieben, doch niemand störte sich daran. Lediglich in einem Punkt waren ihr die Sommermenschen etwas zu aufgeschlossen… Sie bekam sehr eindeutige Avancen, die sie aber alle höflich ablehnte. Keiner der Männer wirkte gekränkt oder wütend, sie fragten auch nicht weiter nach. Erst durch eine Bemerkung von Eno, einem der Matrosen, wurde ihr klar, wieso. «Willst du nur einen oder teilt er nicht gerne?» Arya, die nun wirklich nicht schwer von Begriff war, brauchte einige Momente bis ihr klar wurde, was er da gerade andeuten wollte. Sie brach in Gelächter aus. «Was? Nein! Wir sind nur Freunde!» Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Eno darauf gekommen war. Natürlich, Jaqen und sie waren ständig beieinander und sie wollte auch gar nicht abstreiten, dass er anziehend war. Aber auf eine solche Weise wie Eno davon sprach hatte sie noch nie über ihn nachgedacht.
«Ihr vom Festland seid ganz schön verklemmt», lachte er nur und ging, nicht ohne sich nochmal umzudrehen. «Sag einfach, wenn du es dir anders überlegst.»
Es dauerte weitere zehn Tage, ehe ein Ruf über das Deck schallte, der die Besatzung in freudige Aufregung versetzte. «Land in Sicht!» Arya konnte nicht anders als an die Reling zu eilen und tatsächlich: In weiter Entfernung begann sich ein grüner Streifen abzuzeichnen, der immer näher heranrückte. Es war lange her, seit sie so viel Grün gesehen hatte. In Braavos gab es fast nur Stein und bei ihrem letzten Besuch in Westeros war alles von Schnee bedeckt gewesen.
«Auf welcher der Inseln legen wir eigentlich an?», fragte sie Jaqen, der auch neben sie getreten war.
«Jhala. Sie ist die grösste der Sommerinseln.»
«Du warst schon mal hier?» Sie hatte ihn bisher noch gar nicht danach gefragt.
«Einmal, ja.» Er lächelte. «Es ist ein schöner Ort. Aber es ist besser, ihn schnell wieder zu verlassen.» Er fing ihren enttäuschten Blick auf und erklärte: «Sie werden uns suchen.»
«Sie wird uns suchen. Wäre es nicht besser, sie einfach abzufangen?» Sie führte nicht weiter aus, was genau sie damit meinte, aber Jaqen verstand auch so. Und der Gedanke gefiel ihm offensichtlich nicht.
«Hast du nach allem was passiert ist etwa Mitleid mit ihr?»
«Das ist es nicht. Aber ein Mann kennt ihre Fähigkeiten. Die Frage wäre, wer wen zuerst findet.» Das Argument hatte etwas. Aber es kam sicher nicht allzu oft vor, dass ein Schiff von den Sommerinseln in Braavos vor Anker ging. Das hiess, ihnen blieben bestimmt ein paar Wochen in denen sie planen konnten, was sie zu tun gedachten.
Der Anblick als sie an Land gingen verschlug ihr den Atem. Sie hatte schon viele Wälder gesehen, aber nie einen solchen. Nicht nur die Blätter der Bäume waren grün, auch der Grossteil der Stämme waren moosbewachsen. Vögel in den buntesten Farben huschten von Baumkrone zu Baumkrone und es lagen Gerüche in der Luft, die sie noch nie zuvor in ihrem Leben gerochen hatte. Sie hätte wohl den Rest des Tages damit verbracht ihre Umgebung zu betrachten. Aber der Kapitän machte sie darauf aufmerksam, dass das Ausladen auch noch Teil ihrer Aufgabe war, der sie dann auch ohne zu murren nachkam.
Wie sie erfuhren, war es auf den Sommerinseln brauch, nach jeder geglückten Heimkehr ein Fest abzuhalten und den Meeresgöttern dafür zu danken. Kaum hatte das Schiff angelegt, waren alle Bewohner die in der Nähe des Hafens wohnten an den Strand geströmt und hatten die Heimkehrenden in Empfang zu nehmen.
Anfangs kamen sie sich noch etwas fehl am Platz vor, die Besatzung liess ihnen jedoch keine Gelegenheit sich zurückzuziehen. Während Jaqen vom Kapitän mit den anderen Männern davongescheucht wurde um Holz zu sammeln, wurde Arya von den Frauen beiseite genommen um bei der Vorbereitung des Essens zu helfen. Ähnlich wie Näharbeiten gehrte das Kochen noch heute nicht ihren Lieblingsaufgaben, doch Gemüse schneiden lag durchaus noch im Rahmen ihrer Fähigkeiten.
Mit den meisten von ihnen konnten sie nicht sprechen, da sie nur die Sprache der Sommerinseln beherrschten. Arya kannte einige Stücke der Sprache, doch bei weitem nicht genug um sie flüssig sprechen zu können. Eine Ausnahme bildete Yna, sie hatte mehrere Jahre in Lys gelebt und auch wenn sie einen starken Akzent hatte, verstand Arya sie problemlos. Ihr Gespräch blieb allerdings sehr oberflächlich, was nicht zuletzt Aryas Schuld war. Sie hatte mit Jaqen noch keine einheitliche Lügengeschichte aufgestellt, die sie den Leuten erzählen wollten und sagte deshalb so wenig wie möglich.
Das Fest war wirklich schön, es wurde gelacht, getanzt und Arya liess sich sogar dazu hinreissen mit ein paar der jüngeren Mädchen ein Spiel zu spielen, bei dem man einen Ball über ein Netz schlug. Wenn der Ball den Boden berührte, gab es einen Punkt für diejenige Gruppe, die den Ball geschleudert hatte.
Es dauerte viele Stunden, bis sich die Masse an Menschen langsam zerstreute. Mit einem vernehmbaren Seufzen liess sich Arya neben Jaqen in den Sand sinken. Der hatte sich von der Feier abgewandt und starrte auf die Wellen hinaus.
«Was beschäftigt dich?» Es dauerte eine Weile, bis sie eine Antwort erhielt, doch daran hatte sie sich schon beinahe gewöhnt.
«Die Zukunft.»
«Gibt es denn einen Ort, wo du schon immer mal hinwolltest?»
«Ein Mann hatte in seinem Leben nie die Gelegenheit, über so etwas nachzudenken.» Sie kam sich dumm vor. Sie wusste um seine Kindheit und streute noch unnötig Salz in die Wunde.
«Es tut mir leid.»
«Braucht es nicht. Dank einem Mädchen hat ein Mann nun die Möglichkeit darüber nachzudenken. Das sollte ein Mädchen übrigens auch.»
«Was meinst du damit?»
«Ein Mädchen ist jung, die Welt steht ihr offen. Was ein Mann mit seinem Leben anfängt sollte dabei keine Rolle spielen.»
«Das soll wohl ein Witz sein», sagte sie aufbrausend und erhob sich, nur um gleich darauf direkt vor ihm wieder in den Sand sinken zu lassen.
«Du bist meine Familie. Und meine Familie lasse ich nicht nochmal zurück.» Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
«Du willst also, das wir getrennte Wege gehen?», fragte sie ungläubig.
«Nein», entgegnete er entschieden. «Alles was ein Mann wollte, ist einem Mädchen eine Wahl geben.»
«Das hast du hiermit getan. Und ich habe gewählt.» Unweit von ihnen liess sich ein Paar in den Sand sinken. Viel sehen konnten sie im Licht des erlöschenden Feuers zwar nicht, doch die Geräuschkulisse war ziemlich eindeutig.
«Solange wir hier sind sollte sich ein Mädchen vielleicht auch etwas Zerstreuung suchen.» Nun war sie durchaus dankbar für die Dunkelheit, denn sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg.
«Wozu? Ich verstehe bis heute nicht, was daran so erstrebenswert sein soll.» Sie erwartete schon beinahe einen Vortrag darüber, dass nicht alle Männer so seien wie Hestin. Stattdessen meinte er nur mit einem ironischen Lächeln: «Irgendetwas muss es offenbar geben, sonst hätten die Sommermenschen dem keinen ganzen Tempel gewidmet.» Und wie um seine Worte zu unterstreichen, gab die Frau im Sand ein weithin hörbares Stöhnen von sich. Arya entgegnete nichts darauf, sondern setzte sich stattdessen wieder neben Jaqen, damit sie auch wieder einen Blick auf die Wellen erhaschen konnte.
«Wollen wir bleiben oder weiterziehen?»
«Ein Mann hat darüber nachgedacht. Ein Mädchen hatte Recht, es ist besser hier zu bleiben und die Angreifer zu stellen. Ein Mann würde gerne wissen wie es ist, frei zu leben.» Sie tastete im Sand nach seiner Hand und drückte sie einmal kurz. «Das wirst du.» Sie wusste nicht, ob sie für immer in Ruhe würden leben können. Wenn ihr Plan misslang konnte es sein, dass es sie beide doch noch das Leben kostete. Aber für den Moment waren sie glücklich und das war gerade das einzige für sie, was zählte.