Nachdenklich strich sie sich eine Strähne hinter dem Ohr zurück. Ihr Plan war Wahnsinn. Doch es war ein wirklich gutes Gefühl, einmal wieder so etwas selbst auszuführen und nicht immer die Aufträge von allen anderen koordinieren zu müssen. Arya nannte sie immer die Heimatlose und das würde sie auch werden, wenn sie dieses Geschwür namens Hestin nicht bald restlos aus der Stadt entfernten. Und dabei reichte es leider nicht, bloss ihn los zu werden.
Das Tor vor ihr wurde geöffnet. Mit erhobenem Haupt trat sie Goran Mayr entgegen. Dessen Blick zeugte zwar von Neugierde, doch es würde sicher ein hartes Stück Arbeit werden, ihn zu überzeugen. Sie hatte ihre Bitte schriftlich darlegen müssen, bevor man sie überhaupt zu ihm vorgelassen hatte. Natürlich war sie dabei sehr vage geblieben und hatte auch nicht zu erkennen gegeben, zu wem sie wirklich gehörte. Es war ohnehin das erste Mal, dass die Gesichtslosen sich Hilfe von ausserhalb suchten. Nicht, dass es ihnen am Ende jemand danken würde, doch darum ging es hier auch nicht.
«Ihr sagtet, Ihr kommt aus der Stadt Braavos hierher um unsere Hilfe zu erbitten. Warum?»
«Weil Braavos nie eine Sklavenstadt war und auch keine werden will. Unser neuer Seelord ist auf dem besten Weg, uns dazu zu machen.» Während sie auf die Antwort wartete sah sie sich genauer im Raum um. Goran wurde flankiert von insgesamt sechs Wachen, drei zu jeder Seite. Sie trugen keine dicken Rüstungen, was sie zwar leichter verwundbar, aber auch schneller machte. Nicht, dass sie vorhätte heute ein Blutbad anzurichten. Sie war lediglich hier zum zu verhandeln.
«Und da senden die Rebellen ein kleines Mädchen. Aus welchem Grund? Glauben sie, so unser Mitleid zu erhalten?»
Sie lächelte kalt. «Ich bin so alt, wie ich es gerne möchte», entgegnete sie kühl und im nächsten Moment trug sie das Gesicht einer alten Frau. Die Häme verschwand schlagartig aus Gorans Gesicht und die Wachen zückten ihre Waffen.
«Schon gut. Wenn sie hier wäre um mich zu töten, würde ich wohl nicht mehr hier sitzen», schlussfolgerte er richtig. «Warum sollte es unser Problem sein, was aus Braavos wird? Unsere Städte standen nie in besonders engem Kontakt.» Wie denn auch , dachte sie für sich. Dafür war Myr viel zu sehr auf seine Zänkereien in den umstrittenen Landen konzentriert.
«Nun… Wenn Hestin es schafft, eine Stadt wie Braavos zu versklaven, was hält ihn dann davon ab, dasselbe mit anderen Städten zu tun? Myr liegt seit nunmehr Jahrhunderten im immerwährenden Krieg mit Lys und Tyrosh. Da bieten sich doch gerade diese drei Städte als nächstes Ziel an. Wer so sehr im Streit miteinander verstrickt ist, wird wohl kaum die Stärke besitzen, sich gegen einen solchen Gegner zu behaupten.»
«Genau ebenjener Streit ist es, der mich davon abhält, Euch zu helfen. Ich persönlich bin kein grosser Freund von Sklavenhaltung, doch diese völlig zu verbieten würden vielen aufstossen. Aber wenn wir uns nun entscheiden würden, euch zu helfen, so würden Lys und Tyrosh sich mit aller Wahrscheinlichkeit verbünden und uns gemeinsam in den Rücken fallen.»
«Lys hat einem Waffenstillstand auf Zeit zugestimmt, sofern Eure Stadt und Tyrosh dasselbe tun. Wenn ich Tyrosh auch noch davon überzeugen kann, bekommen wir dann eure Männer?» Er lachte. «Bevor Ihr das schafft, geht sie Sonne im Osten unter… Aber ja, wenn Ihr Tyrosh auch noch dazu bringen könnt, bekommt Ihr einen Drittel meiner Armee. Vorausgesetzt Ihr findet auch einen Weg, dass sie sich daran halten. Ich habe kein besonders grosses Vertrauen in Versprechungen.»
«Diejenigen Herrscher, welche sich nicht an die Waffenruhe halten, bekommen nochmal einen Besuch von mir.» Das war Versprechung und Drohung zugleich. Es war ein Spiel mit dem Feuer, aber viel anderes blieb ihr hier nicht übrig.
Für den Moment zufrieden mit dem Ergebnis suchte sie sich ein Schiff, das sie nach Tyrosh bringen würde. Hier erwartete sie den meisten Widerstand. Tyroshi waren oftmals habgierig. Ausserdem betrieben sie regen und ungenierten Sklavenhandel. Alles hing davon ab, wie sie jetzt verhandelte, auch wenn es sie anwiderte, sich Hilfe aus Städten zu suchen, die selbst Sklaven hielten. Daenerys Targaryen mochte dem zwar für den Moment Einhalt geboten haben, doch sobald sie aus Essos verschwunden war, hatte alles wieder von vorne begonnen.
Anders als in Lys und Myr hatte sie hier keinen Boten vorausgeschickt, sonst würde man sie wahrscheinlich nicht mal empfangen. Bei ihrem Weg durch die Stadt liess sie sich etwas Zeit. Ihr letzter Besuch hier lag lange zurück, es hatte sich aber kaum etwas verändert. Die innere Stadtmauer bestand nach wie vor aus hart zusammengeschmolzenen Drachenstein und das würde wohl auch noch ein paar Jahrhunderte so bleiben. Das einzige was höher war als diese Mauer, war der Blutturm dessen Spitze auch aus dem Stadtinneren zu sehen war.
Der Palast des Archon war nicht ganz so gross aber dennoch imposant. Im Gegensatz zu den Burgen in Westeros bestand dieser Palast lediglich aus einem Gebäudekomplex, dafür war dieser noch grösser als das haus von Schwarz und Weiss. Zudem bestand die Aussenmauer neben Stein auch zu grossen Teilen aus Marmor und Goldornamenten.
Die Wachen liessen sie zwar nicht eintreten, waren aber durchaus freundlich und überbrachten dem Archon ihre Nachricht. Sie wartete bestimmt zwei Stunden, nur um die Antwort zu erhalten, dass man sie nicht zu ihm vorlassen würde. Nur alle zwanzig Tage empfing er Bittsteller und dieser Tag war gerade erst gestern gewesen. Da sie nicht vorhatte, so lange auszuharren, drückte sie dem Wachmann eine ihrer Münzen in die Hand, welche das Wappen ihres Ordens zeigte. Nun dauerte es noch eine knappe Stunde, bis man sie vorliess. Und wahrscheinlich dauerte es nur so lange, weil Donys Tychor den Anschein von Überlegenheit wahren wollte.
«Nein», entschied Donys, kaum hatte sie zu Ende gesprochen. «Wir haben genug eigene Probleme, ohne uns die Euren auch noch aufzuhalsen.» Sie unterdrückte den Impuls, sich die Schläfen zu massieren. Von so viel Sturheit konnte man glatt Kopfschmerzen bekommen.
«Nicht mal mit einem unterschriebenen Waffenstillstand?»
«Gerade nicht dann! Die anderen Städte werden ihn bestimmt nicht einhalten, egal womit ihr ihnen droht oder was sie euch versprechen.» Während er sprach fuhr er sich durch den leuchtend gelben Bart.
Trotz ihres inneren Ärgers blieb sie äusserlich weiterhin ruhig. «Glaubt Ihr Hestin wird sich an so etwas halten, wenn er mit Braavos erstmal fertig ist?»
«Das sehen wir dann, wenn es soweit ist.»
«In Ordnung. Aber bedenkt… Wenn Braavos sich Hestin entledigen kann, werden wir nicht vergessen, wer uns dabei geholfen- und wer uns die Hilfe verweigert hat. Ich kann Euch nicht dazu zwingen uns zu helfen, doch seid gewiss, unser Orden wird keinerlei Morde mehr für Euch ausüben, egal wie viel Ihr zu zahlen gedenkt.» Ohne eine Antwort oder die Erlaubnis abzuwarten drehte sie sich um und ging.
Sie war bereits ein gutes Stück vom Palast entfernt, als sie eingeholt wurde.
«Wartet!» Sie bleib stehen. Ein junger Mann schloss zu ihr auf, man brauchte nicht viel Menschenkenntnis um zu sehen, dass es sich um Tychors Sohn handeln musste. Im Gegensatz zu ihm trug er keinen Bart und die Haare waren von einem durchdringenden Grün, die Gesichtszüge waren aber zweifelsohne die selben.
«Mein Vater ist manchmal ein echter Feigling. Aber er hat recht, was Myr und Lyss betrifft. Denkt ihr wirklich, dass sie sich an einen Waffenstillstand halten würden?» Seines alters zum Trotz wirkten die Augen des Jünglings älter als der Rest von ihm.
«Ich denke, dass sie uns mehr fürchten als Euer Vater es offensichtlich tut.»
«Ich habe einen gewissen Einfluss unter den Männern meines Vaters. Wenn wir den Waffenstillstand schriftlich bekommen, kann ich dafür sorgen, dass Ihr unsere Hilfe erhaltet.» Ob seine Worte der Wahrheit entsprachen, war schwer einzuschätzen. Aber es war die beste Chance, die ihr für den Moment blieb.
«Aber das tut Ihr sicher nicht umsonst.» Als sie das sagte, sah er weg, als würde er es nicht länger schaffen, den Blickkontakt aufrecht zu erhalten.
«Nein. Ich möchte, dass ihr dafür einen Mord für mich begeht.» Erst jetzt schaffte er es wieder, ihr in die Augen zu sehen.
«Euren Vater?», vermutete sie. Der junge Mann erblasste. «Woher…» Sie lachte nur. «Sobald wir die Hilfe erhalten haben, egal wie der Kampf ausgeht, werde ich mich höchstpersönlich darum kümmern.» Sie besiegelten die Vereinbarung mit einem Händedruck. Selbst wenn er sich nicht daran hielt, was hatten sie schon zu verlieren?
~ ~ ~
Arya hatte eigentlich nicht vorgehabt, nochmals mit den Rebellen in Kontakt zu treten. Doch nachdem sie für einige Tage untätig geblieben waren, brauchte sie unbedingt eine Beschäftigung. Am besten eine, die Geld einbrachte. Auch wenn Brea nie auch nur ein Wort darüber verlor wusste Arya, dass sie kaum genug hatte um Lebensmittel, geschweige denn anständige Kleider zu kaufen. Also entschied sie sich Vyro aufzusuchen. Wenn es ihr gelang, eine Stelle bei der eisernen Bank zu ergattern und wenn es nur als Laufbursche war, hätten sie nicht nur Geld, sondern wären so nahe wie möglich am politischen Geschehen. Zumindest unter Ferrego Antaryons Herrschaft hatte die eiserne Bank fast ebenso viel wenn nicht sogar mehr Einfluss gehabt als der Seelord selbst.
Da sie ja nun wusste, wo er lebte, war es nicht weiter schwer ein «zufälliges» Treffen zu arrangieren. Sie begegneten sich auf der Strasse und er war sichtlich überrascht. Zuerst dachte sie, Vyro wäre vielleicht etwas wütend, weil sie ihn in seiner geschützten Umgebung aufsuchte. Doch er freute sich offensichtlich sie zu sehen. «Ich dachte schon sie hätten dich geschnappt oder du hättest die Stadt verlassen.»
«Keine schlechte Idee», sagte sie, was sie nur zum Teil als Scherz meinte. Arya wäre es lieber gewesen, in einer der anderen Städte Hilfe zu suchen als hier zu bleiben und dabei zuzusehen, wie die Menschen unterdrückt wurden. Wobei das in anderen Städten ja nicht unbedingt besser ist, rief sie sich in Erinnerung. Braavos war bisher so ziemlich der einzige Ort gewesen, an dem kein Sklavenhandel betrieben worden war.
«Warum genau bist du hier?» Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, bloss wegen seiner Verbindungen mit ihm zu sprechen. «Ehrlich gesagt wollte ich mich zuerst wirklich aus dieser ganzen Sache heraushalten, aber… Zurückhaltung war noch nie wirklich meine Stärke.» Ein schelmisches Grinsen erschien in seinem Gesicht. «Was du nicht sagst.»
«Hör zu Vyro. Ich will ehrlich mit dir sein. Ich stecke momentan in einer schwierigen Situation und brauche eine Arbeit. Ich kann lesen, schreiben und Rechnen. Meinst du, du könntest mir eine Stelle vermitteln?» Er zögerte. Vielleicht war sie doch zu schnell auf ihre Bitte zu sprechen gekommen.
«Ich glaube dir, dass du das alles kannst. Wahrscheinlich sogar besser als viele Männer. Doch die Meisten Leute in der eisernen Bank sind eingebildete alte Männer oder deren Söhne. Es gibt keine einzige Frau, die in diesem Bereich für die eiserne Bank arbeitet.» Die Antwort hätte sie eigentlich nicht weiter überraschen dürfen.
«Aber falls du auf Geld angewiesen bist, würde ich dir sehr gerne was leihen. Ich sage absichtlich leihen, da ich nicht davon ausgehe, dass du ein Geschenk annehmen würdest.» Sein Angebot wirkte ehrlich, trotzdem war für sie klar, dass sie es nicht annehmen konnte.
«Da gehst du richtig davon aus. Und leihen ist auch nicht meine Art. Ich arbeite für mein Geld. Trotzdem danke.»
Sie sprachen nicht mehr darüber und gingen an einem Teil der Küste entlang, an dem sich Arya tatsächlich noch nie befunden hatte.
«Du weisst mehr über mich als ich über dich», begann Vyro schliesslich. Sie wusste, dass er nur noch mehr Fragen stellte, wenn sie jetzt auswich. Am Ende wurde er vielleicht sogar misstrauisch. «Mein Vater war ein gut verdienender Händler. Da Mutter gestorben war, war ich oft mit ihm unterwegs und er brachte mir alles bei, was er wusste. Schreiben, Lesen, Rechnen. Das Kämpfen habe ich in den Städten gelernt, in denen wir manchmal für ein paar Wochen geblieben sind. Ich wollte immer kämpfen und es fand sich immer irgendwo jemand, der sich einen Spass daraus gemacht hat, mich zu unterrichten.» Er glaubte die Lüge offenbar.
«Und wo lebst du jetzt?»
«Das ändert sich oft. Im Moment bei einer Freundin.» Sie stiess mit dem Fuss ein paar Kieselsteine weg. «Aber lass uns nicht weiter darüber reden. Was macht die Rebellion?»
«Nicht viel zurzeit. Ohne ein klares Ziel können wir nichts ausrichten und es ist klar, dass wir Hestin nicht einfach so aus der Stadt vertreiben können. Aber wir sammeln weiterhin Waffen und es gibt viele, die hinter uns stehen. Wir brauchen nur den richtigen Zeitpunkt.»
~
Nachdem sie sich von Vyro verabschiedet hatte, ging sie nicht zu Brea zurück. Die Sonne stand schon tief über dem Meer und sie hatte mit Jaqen vereinbart, dass sie sich bei Einbruch der Nacht am Lumpensammlerhafen treffen sollten um von dort gemeinsam zur Insel der Götter aufzubrechen. Dabei nahmen sie keine verschlungenen Wege, sondern schlichtweg ein Ruderboot. Es gab viele Leute, die dort Hilfe suchten. Im Gegensatz zu ihrem Orden hatte Hestin offenbar keinen Grund gefunden, sich der Heiler zu entledigen.
Während sie also auf Jaqens Eintreffen wartete, sah sie einigen Möwen dabei zu, wie sie sich stritten und einander hinterherjagten. Vielleicht war es auch eine Art Spiel, wer wusste das schon?
Als die Tiere aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren, blickte sie stattdessen zu den Menschen und den Tätigkeiten, denen sie nachgingen. Da die eiserne Bank nun keine Möglichkeit darstellte, blieb ihr nichts anderes, als sich eine andere Arbeit zu suchen. Vielleicht hatte sie das Glück auf dem Markt eine Anstellung zu finden. Vielleicht Muscheln verkaufen, wie sie es für Brusco getan hatte. Aber jeder, der Fische verkaufte, musste neu die Hälfte direkt an den Seelord abtreten, darum konnten sich viele keine Angestellten mehr leisten.
Mittlerweile war Jaqen neben sie getreten. Gemeinsam beobachteten sie, wie die letzten Strahlen der Sonne alles in ein goldenes, warmes Licht tauchte. In dieser Abendstimmung war es schwer vorstellbar, welch ein Leid über die Stadt gekommen war. Und bevor es besser werden konnte, würde dieses Leid noch um ein Vielfaches grösser werden.
Schweigend sassen sie in dem Boot, Arya hatte darauf bestanden das Ruder zu übernehmen, damit Jaqens Wunden am Ende nicht nochmal aufrissen. Ausserdem half ihr die körperliche Betätigung beim Nachdenken.
Sie hatte das riesige Gebäude schon oft genug aus nah und fern gesehen, doch betreten hatte sie es nie. Sie wusste nicht, ob es älter war als das Haus von Schwarz und Weiss, aber viel jünger war es sicher nicht. Der grösste Unterschied bestand wohl darin, dass es drinnen deutlich heller war als im Haus von Schwarz und Weiss. Überall hingen Laternen, die mit einem speziellen Öl gefüllt sein mussten. Jedenfalls leuchteten sie deutlich heller als gewöhnlich. Der Eingangsbereich war nicht gross, es führten aber zahlreiche Türen in abgetrennte Räume.
«Wie kann ich euch helfen?», fragte eine junge Frau, sogar noch jünger als Arya es war. Sie trug ein hellblaues Gewand, ebenso wie die anderen Leute, die geschäftig von einer Tür zur anderen huschten.
«Wir sollen einige Freunde von uns treffen.» Sie wusste nicht, ob ihnen hier alle wohlgesonnen waren und es war nach wie vor ein beträchtliches Kopfgeld auf jeden Gesichtslosen ausgesetzt. Doch die Frau wusste offenbar worum es ging und deutete auf eine Tür zu ihrer linken. «Die Treppe runter und dann nach rechts.»
Auch wenn sie den Rest des Gebäudes nicht kannte, war sie sich ziemlich sicher, dass es sich hierbei nicht um einen oft genutzten Teil des Kellergewölbes handelte. Das Licht hier war nicht ganz so hell und der Boden um einiges staubiger. Die Türen die rechts und links abzweigten wirkten alt. Das einzige was ihre Tür von der anderen unterschied war der Mann, der davor Wache hielt.
Da die Heimatlose sich nicht in der Stadt befand, übernahm Jaqen als einzig verbliebener Priester die Leitung des Treffens. Allerdings hielt er sich sehr im Hintergrund und liess alle erzählen, was ihnen in den letzten Wochen widerfahren war und wo sie sich zurzeit aufhielten. In der Stadt selbst war es im Moment auffallend ruhig, eine Nachricht der Heimatlosen brachte aber Grund zur Hoffnung, dass sie vielleicht doch Unterstützung von anderen Städten bekommen könnten. Schwieriger würde es werden, den Angriff innerhalb und ausserhalb der Stadt gleichzeitig stattfinden zu lassen.
~
Ihr Rückweg war noch schweigsamer als der Hinweg. Es hing eine solche Stille über dem Wasser und der Stadt, dass jedes Geräusch nur umso lauter wirkte, selbst das Plätschern des Wassers, wenn die Ruder von neuem darin versanken. Arya hielt in der Bewegung inne. Sie sah zum Haus von Schwarz und Weiss, dessen Schemen sich kaum vom nächtlichen Himmel abhoben. Dort, wo noch ein paar Wochen zuvor das grosse, schwarzweisse Doppeltor gestanden hatte, war nun nichts mehr als ein gähnendes schwarzes Loch. Trotz all dem hatte sie plötzliche Bedürfnis einfach an Land zu gehen und den Tempel zu betreten, wie sie es die Jahre zuvor auch getan hatte. Sie wollte sehen, ob wirklich alles zerstört worden war oder ob es nicht doch etwas gab, was den Angriff überdauert hatte. Doch letzten Endes wusste sie, dass es töricht war und nichts an ihrer Situation ändern würde. Sie würde diesen Tempel wieder betreten, doch erst nachdem Hestin und sein ganzes Gefolge aus der Stadt gejagt- oder noch besser im Meer versenkt worden war. Also nahm sie die Ruder wieder in die Hand und machte weiter. Jaqens Blick blieb noch eine Weile am Tempel hängen- ihm erging es offensichtlich nicht viel anders als ihr.
Trotz der vorangeschrittenen Stunde waren Maro und Brea wach, als sie zurückkehrten.
«Er will einfach nicht schlafen», seufzte Brea. Tatsächlich wirkte sie um einiges müder als ihr kleiner Sohn, der sich mit ein paar Holzfiguren vor das Kaminfeuer gesetzt hatte. Damit belegte er nun Aryas Schlafplatz. «Leg dich ruhig hin, ich schaue schon, dass er ins Bett kommt.» Brea tat nicht mal so, als würde sie sich gegen den Vorschlag sträuben.
«Danke.»
Sie setzte sich neben Maro auf die Strohmatratze. Jaqen hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen.
«Was spielst du da?»
Er spielte weiter, während er antwortete. «Zwei Krieger, die gegeneinander kämpfen.»
«Und warum kämpfen sie?» Die Frage schien den Jungen zu überraschen.
«Braucht es denn immer einen Grund? Hier kämpfen doch auch immer alle und da weiss ich auch nicht warum.» Die Antwort versetzte ihr einen Stich. Natürlich war er noch zu klein, um zu wissen, warum Braavos gerade im Chaos versank. Und sie verspürte nicht das Bedürfnis, es ihm zu erklären. Also sagte sie: «Du hast Recht. Manchmal kämpfen Menschen auch einfach so. Aber meistens haben sie einen Grund dafür. Zum Beispiel um Leute zu beschützten, die einem am Herzen liegen.»
«Mama erzählt immer solche Märchen. Das finde ich langweilig. Kennst du auch Geschichten?» Bei der Frage begannen seine Augen zu leuchten und er schenkte den Holzfiguren keinerlei Beachtung mehr. Geschichten erzählen gehörte weder zu ihren Stärken, noch zu den Dingen, die sie gerne machte. Aber nein zu sagen war bei dem hoffnungsvollen Blick ein Ding der Unmöglichkeit und wahrscheinlich der schnellste Weg, um ihn zum Einschlafen zu bewegen. Also lächelte sie nur. «Oh ganz viele. Was für eine willst du denn hören? Eine von Königen oder von Drachen?»
«Drachen? Das ist doch auch wieder nur ein Märchen. Ich will wahre Geschichten hören.»
«Oh, diese Geschichte ist wahr. Ich habe schon Drachen gesehen.»
«Und du lügst mich nicht an?»
«Dich würde ich doch nie anlügen.»
Maro strahlte über das ganze Gesicht. «Dann will ich die Geschichte hören. Wann hast du denn den Drachen gesehen? Wie sah er aus?»
Sie setzte sich etwas bequemer hin und begann zu erzählen. «Das ist jetzt schon ein paar Jahre her, es war auf einer meiner Reisen. Der eine Drache hatte goldene und bronzene Schuppen, der andere …» Und so begann sie von den Drachen und von Kämpfen zu erzählen, von Königinnen und Rittern. Immer sehr darauf bedacht, keine Namen zu nennen. Anfangs klebte Maro geradezu an ihren Lippen. Aber es dauerte nicht lange, da begannen seine Augen schwer zu werden und er legte sich hin. Kaum berührte sein Kopf das Stroh war er auch schon tief und fest eingeschlafen. Arya betrachtete ihn noch eine ganze Weile. Sie war nach wie vor der Meinung, dass sie nie eine gute Mutter geworden wäre. Aber durch Maro verstand sie wenigstens, warum es Frauen gab, die diese Mühen auf sich nahmen.