Mit einem erschrockenen Keuchen fuhr sie aus dem Schlaf und fühlte die leichte Nässe auf ihrem Gesicht. Zuerst glaubte sie es sei Blut, doch dann erinnerte sie sich wieder daran, dass sie sich auf einem Schiff befand und Tions Blut längst weggewaschen war. Nicht aber die Schuldgefühle, die sich an ihr festklammerten, seitdem der Soldat sein Schwert durch Tions linke Schulter gebohrt hatte.
Zuerst war alles gut gelaufen, Tion hatte durch seine Arbeit tatsächlich so viele Bekannte wie sie gehofft hatte und ein Händler hatte sich bereit erklärt, sie nach Braavos mitzunehmen - wohl auch nur, weil Tion damit geprahlt hatte, dass er sich lieber nicht mit ihr anlegen sollte. Doch irgendjemand hatte sie erkannt und Tion für ihren Komplizen gehalten. Der einzige Grund, warum man sie nicht gefasst hatte war wohl, dass der Kapitän dem Angreifer eine Flasche über den Schädel gezogen und ihn an Land zurückgelassen hatte, als das Schiff ablegte. Tion hatten sie schliesslich bei einem Heiler auf einer der kleineren Inseln zurückgelassen, Arya hatte ihm ihr ganzes restliches Geld gegeben und er hatte versprochen alles zu tun, was in seiner Macht stand um Tion zu retten. Ob das genug gewesen war würde sie jedoch nie erfahren.
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Gegen die rauen Steinstrände Loraths wirkte das frühmorgendliche Treiben in Braavos enorm laut und obschon es genau das war, was Arya an dieser Stadt sonst so mochte, wünschte sie sich im Moment nichts sehnlicher, als sich unter ihrer dünnen Decke zu verkriechen. Obwohl das unweigerlich bedeutet hätte einzuschlafen und Faorons verzweifelten Blick vor sich zu sehen. Sie wusste nicht, warum dieser sie so sehr verfolgte. Lag es daran, weil es ihr erster Auftrag war, bei dem sie ihrem Opfer beim Sterben zugesehen hatte? Wohl eher weniger, sie hatte schon getötet, bevor sie nach Braavos gekommen war. Viel eher lag es an ihren persönlichen Erfahrungen. Einfach so einen Teil der Familie zu verlieren, besonders auf solche Weise, das wünschte sie kaum jemandem. Ausserdem hatte sie seitdem kein einziges Mal mehr ihre Wolfsträume gehabt und obwohl sie sich sogar einmal absichtlich auf Nymeria konzentriert hatte, hatte es nicht funktioniert.
Sie hatte es nicht besonders eilig in den Tempel zurückzukehren. Den Auftrag hatte sie zwar erfüllt und ausser Josamo San’ka war auch niemand zu Tode gekommen – Tion hatte gemeint, er würde schon selbst zurechtkommen und sie hoffte das dem so war – aber bei so viel Aufsehen wie sie erregt hatte würde es sie wundern, wenn es nicht bereits bis hierher gedrungen war.
Irgendwann, die Sonne war schon deutlich höher als bei ihrer Ankunft, befand sie sich dann aber doch vor dem Tor, welches auf der linken Seite schwarz und auf der rechten weiss war. Wie lange war es her, seit man sie hier harsch abgewiesen hatte? Sie vermochte es selbst nicht mehr genau zu sagen. Ebenso wenig, was sie noch alles erwartete. Wann sie genug wusste, um sich rächen zu können.
Innerlich focht sie noch immer diesen Kampf aus, ein Teil von ihr, der grössere Teil, wollte irgendwann nach Westeros zurück und ihre Liste vollenden, aber da war auch dieser andere Teil, der alles loslassen- und einfach nur Niemand sein wollte. Wenn sie nicht mehr Arya Stark wäre, müsste sie auch nicht mehr an ihre Rache denken. Obwohl es eigentlich genau das gewesen war, was Jaqen ihr damals versprochen hatte. Ein Mädchen hat viele Namen auf ihren Lippen. Joffrey, Cersei, Ilin Payn, der Bluthund. Es könnte sie alle Opfern. Einen nach dem anderen.
Joffrey war tot, ebenso der Bluthund. Blieben also noch Ilin Payn, Cersei, die rote Frau und natürlich Walder Frey. Doch sie war sie sich nicht sicher, ob Jaqen seine Versprechungen halten würde, jeder Gedanke an Rache wurde bestraft. War es nur ein Trick gewesen um sie hierher zu locken? Sie hätte schon mehr als einmal die Gelegenheit gehabt fortzugehen, warum tat sie es dann nicht?
Ehe sie es sich versah, hatte sie die Tür aufgestossen und war in das dunkle Innere des Tempels getreten.
Wie immer wenn es draussen so hell war, dauerte es seine Zeit, bis sie sich völlig an das schummrige Licht gewöhnt hatte.
Es war kaum jemand hier, sie konnte lediglich eine Gestalt ausmachen, die sich zum Sterben in eine der Nischen zurückgezogen hatte. Auch von den Priestern fehlte jede Spur und Arya ging leise die Treppe ins Kellergewölbe, in dem die Leichen gewaschen wurden. Aber auch hier war es leer. Zumindest glaubte sie das, bis sie sich umdrehte und Jaqen erblickte, der vorhin noch nirgends zu sehen gewesen war. Sie hatte ihr Gehör in den Monaten in denen sie blind gewesen war geschärft und es war vollkommen still gewesen, trotzdem hatte sie nichts gehört, was auf seine Anwesenheit hingedeutet hätte.
„Valar Morghulis“, sagte er und sie erwiderte „Valar Dohaeris“, was wohl das erste gewesen war, dass sie hier gelernt hatte.
„Ein Mädchen hat das Geschenk überbracht?“
„Ja.“ Mehr sagte sie nicht, wusste nicht, was genau er hören wollte.
„Und dabei die halbe Stadt auf sich aufmerksam gemacht“, bemerkte er nur.
„Woher…“
„Das braucht ein Mädchen nicht zu interessieren.“ Seine Stimme war ruhig, aber schneidend und sein Blick liess nichts Gutes erahnen.
„Hat ein Mädchen sonst noch etwas zu sagen?“ Die Art, wie er das sagte liess vermuten, dass er irgendetwas ganz bestimmtes von ihr hören wollte.
„Ich weiss nicht, was du meinst.“
„Ein Mädchen hat sein Versprechen gebrochen.“ Sie war drauf und dran zu fragen, was er meinte, doch dann erinnerte sie sich.
„Das war Notwehr! Der Hund war einfach plötzlich da und ich konnte nicht anders. Aber woher…“ Sie hatte den Stock nicht gesehen, bis er sie damit am Arm getroffen hatte und irgendwie schaffte er es so viel Kraft in den Schlag zu legen, dass ihr gesamter Oberarm davon schmerzte. Sie biss sich auf die Zunge und schwieg. Keine Fragen, merkte sie sich. Dennoch nagte es an ihr nicht zu wissen, wie genau er die Sache mit dem Hund in Erfahrung gebracht hatte. Ändern liess sich das jetzt aber nicht mehr und so wartete sie ab, was als nächstes geschehen würde.
Er schwieg eine geraume Zeit lang und das war für Arya noch um einiges unangenehmer, als wenn er sie angeschrien hätte.
„Hat ein Mädchen das mit Absicht gemacht?“
„Nein.“ Sie sah ihm direkt in die Augen und hoffte, dass er sah, dass sie nicht log. Natürlich hatte sie gehofft, dass der Hund sich auf Faoron stürzte, aber sie hatte nicht direkt versucht ihren Geist in den Körper des Hundes zu versetzen, so wie sie es bei den Katzen gemacht hatte. Doch als sie schon einmal dort gewesen war, hatte sie ihre Chance ergriffen. Das erklärte sie ihm auch und er hörte zu.
„Ein Mädchen muss versuchen das in den Griff zu bekommen.“ Er wandte sich ab und ging, gab ihr aber zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte.
In der Halle der Gesichter entfernte er schliesslich das Gesicht des blonden Mädchens und obwohl Arya es getragen hatte wie eine zweite Haut, war sie irgendwie doch froh, ihr eigenes wieder zu haben.
~ ~ ~
Dafür, dass sie eine Akolythin war, hatte sie den Auftrag nicht schlecht gemeistert. Es war ohnehin nicht seine Idee gewesen, sie dorthin zu schicken. Ihm war eigentlich von Anfang an klar gewesen, dass das nicht gut gehen konnte. Als ihr Informant in seinem Brief aber beiläufig über die Sache mit dem Hund berichtet hatte, war ihm das sauer aufgestossen. Er war sich erst auch nicht ganz sicher gewesen, ob es wirklich das erste Mal gewesen war, dass sie ihre Abmachung gebrochen hatte. Sie schien jedoch nicht gelogen zu haben. Trotzdem fragte er sich, wie sich dieses Problem am schnellsten in den Griff kriegen liess, irgendjemand musste ihr beibringen, wie man damit umging, doch er konnte es nicht und er kannte auch keinen anderen Diener des vielgesichtigen Gottes, der diese Gabe besass. Es stellte sich ausserdem die Frage, ob es überhaupt Sinn machte, Zeit darin zu investieren ihre Fähigkeiten zu bändigen, so lange er sich nicht sicher war, ob sie überhaupt jemals eine von ihnen sein würde.
Ihm war die Erleichterung, als sie ihr eigenes Gesicht zurückerhalten hatte nicht entgangen und es sprach vieles dafür, dass sie nicht für dieses Leben geschaffen war. Aber der ältere Priester hatte Recht, es war äusserst schwer brauchbare Akolythen zu rekrutieren. Doch nur dadurch, dass sie bisher so wählerisch gewesen waren, war es dem Orden gelungen, diesen Tempel so lange zu erhalten. Allerdings schien sie nicht, wie bisher vermutet, nur aus ihrem Wunsch zur Rache geleitet zu werden. Sie hätte die Gelegenheit gehabt, nach Westeros zurückzukehren und ihre Liste zu vollenden. Obwohl sie schlecht log, war sie in mancherlei Hinsicht schwerer zu lesen als ein Buch mit sieben Siegeln.
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Es waren genau fünfzehn Personen im Raum, sobald Arya auftauchte waren es sechzehn. Drei Priester, zehn ausgebildete Diener des vielgesichtigen Gottes und drei Akolythen, von denen Arya zurzeit das einzige Mädchen war.
Alle drei Monde versammelten sich so viele Diener wie möglich im Tempel und besprachen, welche Aufträge es zu erfüllen gab und wer diese übernahm. Solche Entscheidungen hingen von mehreren Faktoren ab. Wer war das Opfer? War es ein Mann oder eine Frau? In welcher Schicht bewegte es sich? All das konnte den Ausschlag geben. Manche von ihnen waren auch nicht unterwegs um jemanden zu töten, sondern um den Preis dazu zu verhandeln.
Die Tür war hinter ihm noch nicht ganz ins Schloss gefallen, als Arya noch gerade so hereinhuschte und sich mit unverhohlener Neugierde umsah. Für sie war es das erste Treffen dieser Art, da sie beim letzten noch mitten in ihrer Bestrafung gewesen war und er sie daher nicht hatte teilnehmen lassen.
Er deutete auf einen Wasserkrug und sie sah zu den beiden anderen Akolythen, die ebenfalls mit einem Krug an der Wand standen. So konnten die Akolythen zuhören und lernten dabei auch gleich einiges an Geduld, denn solch ein Treffen konnte gut und gerne bis zu fünf Stunden dauern.
Diesmal gab es allerdings nicht viel zu bereden und er glaubte schon fast, dass sie mit allem durch waren, als einer ihrer Männer von einem neuen Kunden berichtete. Anscheinend war ein Streit zwischen der Turmalinbruderschaft und den Gewürzhändlern in Qarth ganz besonders ausgeartet. Im Normalfall hätte sie das wohl kaum interessiert, doch nun war genau dieser Streit zu ihrem Auftrag geworden, dem Anführer der Gilde der Gewürzhändler, Tychyllo Vorsay, sollte nun die Gabe überbracht werden. Fragte sich nur noch, wer diesen Auftrag übernahm. Die meisten von ihnen hatten einen Auftrag und es dauerte meist eine Weile, bis man an solche Opfer herankam. Ausserdem lag Qarth rund sieben Monate Seereise weit entfernt, selbst für ihre Verhältnisse war dies kein Katzensprung.
„Lasst uns logisch an die Sache herangehen. Wer von denjenigen die noch keinen Auftrag haben waren schon mal in Qarth?“ Er und zwei weitere Diener hoben die Hand.
„Und wie gut kennt ihr euch aus?“ Sofern sich die Stadt nicht allzu sehr verändert hatte, kannte er sie ebenso gut wie Braavos. Der ältere Priester wusste dies, denn er wartete gar keine Erklärungen ab, bevor er zu ihm herüberblickte.
„Wirst du den Auftrag annehmen?“ Er nickte. Dies überkreuzte sich zwar mit seiner Pflicht Aryas Ausbildung zu übernehmen, doch Akolythen ausbilden konnte jeder der Priester, er hingegen war der einzige unter den Anwesenden, der Quath und all seine Gilden inn- und auswendig kannte.
„Gut. Es kann aber noch einige Zeit dauern, bis der Preis verhandelt ist. Erst danach wirst du aufbrechen.“ Damit wurde die Versammlung aufgehoben und nicht nur sie, sondern auch die Akolythen konnten gehen. Oder zumindest zwei von ihnen, denn Arya bedeutete er zu ihnen herüber zu treten und sie kam dem nach, wenn auch etwas zögerlicher als er es von ihr gewöhnt war. Sie schien sich Gedanken darüber zu machen, ob sie nun doch eine Bestrafung zu erwarten hatte. Diesmal nicht, denn er hatte ihren Ausführungen geglaubt. Solche Kräfte, waren sie einmal entfesselt, liessen sich nicht einfach so zur Seite schieben. Das hätte ihm von Beginn weg klar sein müssen.
„Ein Mädchen wird ab morgen für die Stadtwache von Braavos arbeiten. Sie wird sich bei Sonnenaufgang bei Izembaro melden. Er ist Wachmann und gleichzeitig auch Ausbildner für die Stadtwache.“ Sie nickte und versuchte ihre Neugierde im Zaum zu halten, obwohl er sah, dass ihr eine Frage auf der Zunge brannte.
Im Gegensatz zu Brusco wusste Izembaro, dass sie im Haus von Schwarz und Weiss diente. Vor Jahren hatte er einmal ihre Hilfe verlangt und ein Teil des Preises war es gewesen, dass er ihnen zu Informationen verhalf und die Akolythen ein paar Monate, manchmal gar Jahre, bei der Stadtwache behielt. Auf den Märkten mochte man viel vom Fussvolk, den Händlern und den fremden Kontinenten erfahren, doch in die Oberschicht gelangte man durch die Wache um einiges besser.
„Ist sonst noch etwas?“, fragte sie und wirkte leicht verunsichert, weil er nichts mehr gesagt hatte.
„Mach keine Dummheiten.“ Mit diesen Worten erhob er sich und verliess den Raum. Er hatte eine lange Reise vor sich und obschon es noch einiger Wochen Vorbereitungszeit bedurfte ehe er abreiste, galt es bereits erste Vorkehrungen zu treffen.
Auf seinem Weg in das kleine Arbeitszimmer begegnete er der Priesterin, die ihn mit einem durchdringenden Blick musterte. Sie sagte nichts, doch sie beide wussten, woran sie dachte. Woran er dachte. Aber es spielte keine Rolle, er hatte seine Identität und alles was damit zusammenhing schon vor langer Zeit in sich vergraben. Und das würde auch so bleiben, daran änderte eine Stadt nichts. Dennoch erfüllte ihn nicht dasselbe angenehme Gefühl, wie es sonst der Fall war, wenn er einen anspruchsvollen Auftrag entgegennehmen durfte.
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Sie war zwar nur eine Muschelverkäuferin gewesen, doch ihr Gesicht war zu bekannt, als dass sie es auch als Faye hätte tragen können. Hierfür hatte der Gütige Mann ihr ein anderes Gesicht gegeben, welches, wie er meinte, ähnlich hübsch wie ihr eigenes war.
Nun stand sie am vereinbarten Treffpunkt und betrachtete nachdenklich die drei Personen, mit denen sie sich wohl die nächste Zeit zurechtfinden musste. Der eine Junge war etwa im selben Alter wie sie, mit kurzem, aschblondem Haar und eindeutig zu viel Energie. Zumindest machte es den Anschein, als könne er keine zwei Minuten still dastehen. Schliesslich gab es noch einen zweiten Jungen, der nach seiner Haut- und Haarfarbe nach zu urteilen von den Sommerinseln stammte und ein breites Grinsen im Gesicht trug, während er auf ein weiteres Mädchen einredete.
„Du bist dann wohl auch neu hier“, begrüsste das andere Mädchen sie und war offensichtlich froh darüber, dem Gespräch entfliehen zu können. Sie war die Älteste von ihnen, schätzungsweise siebzehn oder achtzehn Jahre alt mit kastanienbraunem Haar, das Arya unweigerlich an ihre Schwester erinnerte. Das war aber schon das einzige, denn das Mädchen war kleiner und stämmiger als Sansa.
„Ja, ich bin Faye.“
„Nìna. Und die beiden Idioten hier sind Tekin“, sie deutete auf den ruhelosen Burschen, „und Mojo.“
Damit war die kurze Vorstellungsrunde aber auch schon beendet, denn ein recht kleiner Mann mit schwarzem Haar trat zu ihnen auf den Hof und stellte zwei Kessel neben sich ab.
„Ich bin Izembaro“, stellte er das Offensichtliche fest. „Und wie bei jeder Ausbildung werdet ihr mit dem beginnen, was sonst keiner machen will.“ Damit deutete er auf die beiden Kessel und Arya sah in einem von ihnen Wasser und im anderen Stofflappen und eine Flasche, die wahrscheinlich Öl enthielt. Rüstungen putzen, dachte sie für sich. In Westeros war das die Aufgaben der Knappen gewesen, doch in der Stadtwache von Braavos war dieser Ausdruck wohl mit den Auszubildenden gleichzusetzen. Ihr konnte es nur recht sein, es war immer noch abwechslungsreicher als den Boden zu fegen.
Mit dieser Meinung schien sie allerdings alleine dazustehen, denn die drei anderen erledigen ihre Arbeit weder sorgfältig, noch mit besonders viel Motivation.
„Mir ist jetzt schon langweilig“, jammerte Nìna, und sie waren noch keine zwei Stunden bei der Arbeit.
„Kennt irgendeiner von euch eine Geschichte?“ Ihre Stimme war nicht nur bittend, flehend traf es eher. Und Arya hätte so einige gekannt, die alte Nan hatte manche Geschichten so oft wiederholt, dass sie sich praktisch in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten. Aber die meisten davon handelten von Westeros und warum sollte Faye, die Tochter eines Händlers aus Lys, Geschichten aus Westeros kennen?
Also schwieg sie und auch Tekin schüttelte den Kopf. Nur Mojo schien ernsthaft nachzudenken.
„Habt ihr schon mal etwas von einem Djinn gehört?“
„Ist das ein Tier?“, fragte Tekin und der Junge von den Sommerinseln lachte schallend.
„Nein du Idiot. Ein Djinn ist ein Geist. Man erzählt sich auf den Sommerinseln, dass manche Hexenmeister sie beschwören können. Angeblich hat man, wenn man dies tut, drei Wünsche frei.“
Nìna wirkte skeptisch. „Dann ist es klar, dass es ein Märchen ist. Sonst würden das doch gleich alle Hexenmeister tun.“
„Nein“, murmelte Arya und dachte an all die Kriege, die durch mächtige Leute ausgelöst worden waren.
„Alles was mächtig ist, bringt auch Nachteile mit sich.“ Mojo sah sie verblüfft an und nickte.
„Stimmt. Denn angeblich bereitet es den Geistern unglaubliche Schmerzen wenn man sie so beschwört, weshalb sie die Wünsche gegen dich auslegen könnten. Wenn du dir zum Beispiel mehr Geld wünschst, wirst du vielleicht so reich, dass jemand dich aus Eifersucht umbringt. Oder wenn du dir Regen für dein Land wünschst, setzt eine Sinnflut ein, die alles ertränkt. Deswegen wurden diese Zauber schon seit Jahrhunderten nicht mehr verwendet.“
„Dann muss man seine Wünsche eben genau aussprechen“, erwiderte Tekin entschlossen. „So schwierig wird das doch wohl nicht sein.“
„Ich an deiner Stelle würde es nicht versuchen“, riet ihm Mojo und schüttelte dann grinsend den Kopf.
„Aber du könntest sowieso keinen beschwören und die Schriftrolle, auf welcher der Zauber steht, gibt es angeblich nur noch in Asshai.“
Nach dieser Geschichte setzte eine Diskussion darüber ein, wer sich wohl was wünschen würde. Sie selbst dachte darüber nach und das erste was ihr in den Sinn kam war natürlich, dass sie sich ihre Familie zurückwünschen würde. Doch Berics Worte hatten sie nie ganz losgelassen, immer blieb ein Teil von ihm zurück. Und was war, wenn sie tatsächlich zurückkehren würden, nur um nach ein paar Tagen wieder von jemandem getötet zu werden? Das würde sie nicht aushalten.
Wäre es nicht besser, wenn sie einfach alles auslöschen könnte, was sie an ihre Heimat erinnerte? Damit sie wirklich niemand werden, konnte? Nein, entschied sie. Denn dann würde sie auch all das Gute vergessen, die unzähligen Stunden, in denen sie mit ihren Geschwistern gespielt hatte. Nymeria, ihr Training mit Syrio, Nadel. Sie hielt mit ihrer Arbeit inne und erinnerte sich an das dünne Schwert. Sie wusste, wenn sie wirklich hierbleiben wollte, musste sie es früher oder später aufgeben. Aber noch war sie nicht dazu bereit. Ebenso wenig, wie sie dazu bereit war, nach Westeros zurückzukehren.
Nach diesen Gedanken war ihre Laune auf dem Tiefpunkt. Indem sie mit den anderen sprach, konnte sie sich aber zumindest zwischenzeitlich von ihren eigenen Problemen fernhalten.
So erfuhr sie zum Beispiel, dass Nìnas Vater für die Wache arbeitete und ihr so die Lehrstelle besorgt hatte – ähnlich wie Arya hatte sie es nicht wirklich mit den mädchenhaften Berufen. Die meisten Frauen in der Wache erhielten zwar nie dieselben hohen Positionen wie die Männer, aber im Gegensatz zu Westeros war es schon ein Vorteil, dass Frauen überhaupt akzeptiert waren. Wie sich herausstellte, war Tekin ihr Vetter, der aber bei ihr und ihrer Familie lebte, weshalb er der Einfachheit halber auch gleich hier eingeteilt worden war.
„Und du?“, fragte Mojo, nachdem er ihnen erklärt hatte, dass er einem der Wachen durch eine Prügelei aufgefallen war und so an die Lehrstelle gekommen war.
„Mein Vater war ein Kaufmann aus Lys.“
„Dann war deine Mutter also eine Hure?“, fragte Tekin gerade heraus und Nìna verpasste ihm eine Kopfnuss dafür.
„Kurtisane“, korrigierte Faye mit einem Grinsen und die drei anderen lachten.
Von da an schien selbst Nìna dem Putzen der Waffen etwas Positives abgewinnen zu können, auch wenn sich ihr Aufgabenfeld im Laufe der Tage ständig erweiterte.
Zuerst durften sie kleine Erledigungen machen, auf dem Markt Poliermittel für die Waffen besorgen und Ähnliches, aber nach kurzer Zeit durften sie auch einfache und natürlich ziemlich unwichtige Nachrichten überbringen.
In einem Punkt war Izembaro jedoch fast so strikt wie die Priester im Haus von Schwarz und Weiss: Keine unnötigen Kämpfe. Das war jedoch das einzige, was ihn von einem typischen Braavosi unterschied, denn an Stolz mangelte es dem Wachmann nicht im Geringsten. Mit seinem schwarzen, gekraustem Haar und dem Schwert, welches er immer an seiner Seite trug, hatte er sie sogar für ein paar wenige Tage an Syrio erinnert und sie kam nicht umhin sich zu fragen, ob sich die beiden vielleicht sogar gekannt hatten. Wie sie wusste, hatte auch Izembaro Kontakt zum Seelord und Syrio war immerhin das erste Schwert von Braavos gewesen. Aber natürlich tat sie es nicht, das wäre eine Frage von Arya Stark gewesen und sie war Faye. Zumindest für den Moment.
~
Es war etwa der zweite Monat, nachdem sie ihre Ausbildung bei der Wache begonnen hatte und sie drehte sich zum gefühlt hundertsten Mal von der einen Seite zur anderen. Nach einiger Zeit war sie das aber leid und erhob sich so geräuschlos wie möglich aus ihrem Bett. Es war seit Königsmund das erste Mal, dass sie in einem Bett schlief, denn für die Pritschen im Haus von Schwarz und Weiss wäre das ein zu wohlwollender Ausdruck gewesen. Auch wenn es dort immer noch gemütlicher war als ohne Decke auf schlammigem Boden.
Sie trat vor das kleine Fenster und sah zu einem der Kanäle, auf dessen Oberfläche sich die dünne Mondsichel spiegelte. In genau zwei Nächten würde der Mond schwarz sein und sie zu ihren Pflichten als Dienerin des vielgeischtigen Gottes zurückkehren.
Sie öffnete das Fenster und nahm einen tiefen Atemzug der kühlen Nachtluft.
Izembaro hatte es ihnen nicht ausdrücklich verboten in der Nacht nach draussen zu gehen, er hatte nur gemeint, wer am Morgen nicht rechtzeitig auf den Beinen war würde die Latrinen schrubben. Also zog sie sich möglichst leise an und schaffte es die rostige Tür erstaunlich leise aufzuziehen. Wenn auch nicht leise genug.
„Kannst du nicht schlafen?“ Sie sah zu Nìna herüber und auch sie wirkte nicht so, als wäre sie erst seit ein paar Sekunden wach. Die Frage war aber ziemlich sinnlos, könnte sie schlafen, würde sie wohl kaum hier stehen. Ihre Zimmergenossin schien aber auch nicht wirklich auf eine Antwort aus zu sein, sondern klopfte neben sich auf die Matratze.
„Wenn meine kleine Schwester früher nicht schlafen konnte, ist sie immer zu mir gekommen.“
„Ich dachte, du bist Einzelkind?“
„Jetzt schon.“ Obwohl ihr die Situation etwas unangenehm war, hätte sie jetzt ein schlechtes Gewissen gehabt einfach so weg zu gehen. Besonders, da sie wusste, wie es war, seine Familie zu verlieren.
Also streifte sie ihre Schuhe ab, liess ihr Messer unauffällig unter ihrem eigenen Kopfkissen verschwinden und legte sich neben Nìna unter die Decke.
„Wie ist es passiert?“
„Wir haben draussen gespielt und sie hat sich an einem scharfen Stein geschnitten. Dann hat sich die Wunde entzündet.“ Arya wusste zwar, dass man an einer Blutvergiftung sterben konnte, aber warum hatte man sie nicht ins Haus der roten Hände gebracht? Nìnas Vater arbeitete für die Wache, er hätte sicher genug Geld gehabt.
Obwohl sie sich hütete dies auszusprechen, ahnte Nìna offenbar was sie dachte und erwiderte:
„Wir haben an einer Stelle gespielt, an die wir nicht hin sollten. Deswegen haben wir es unseren Eltern verschwiegen.“ Die beiden Mädchen schwiegen.
Nach einiger Zeit merkte sie, wie Nìnas Atem ruhiger wurde und auch sie hätte viel dafür gegeben, endlich einschlafen zu können. Ihr war warm, sie war müde und vielleicht hatte sie zum ersten Mal seit Gendry und Hot Pie wirklich Freunde gefunden. Doch genau hier lag auch das Problem. All ihre bisherigen Freunde waren tot, oder hatten sich nicht als richtige Freunde erwiesen. Jaqen konnte sie wohl kaum so nennen. Ausserdem war es nur eine Frage von wenigen Jahren – wenn überhaupt – bis sie ihre Lehre bei der Stadtwache beendet hatte und ab da würde sie vielleicht nie wieder Faye sein und dann lösten sich alle ihre Kontakte die sie nun knüpfte in Luft auf. Lohnte es sich dann also überhaupt, Freundschaften zu schliessen?
Nein, entschied sie und kroch wieder aus dem Bett. Diesmal bemerkte Nìna nicht, wie sie das Zimmer verliess und auch sonst schien hier keiner mehr wach zu sein.
Die Bewegung vertrieb ihre Müdigkeit und sie ging kreuz und quer durch die Strassen. Dabei wählte sie etwas belebtere. Sie mochte sich gut verteidigen können, aber ihr Glück herausfordern wollte sie dann auch wieder nicht.
Eigentlich achtete sie kaum auf ihre Mitmenschen, umgekehrt schien es nicht anders zu sein. Sie hatte sich inzwischen an das Sprachengemisch aus verschiedenen Städten gewöhnt, umso interessierter horchte sie jedes Mal auf, wenn jemand in der gemeinen Zunge sprach. So wie in diesem Moment.
„Um die Zeit ist doch nichts mehr los. Machen wir morgen weiter.“
„Geht Ihr nur, wenn Ihr schon müde seid, ich für meinen Teil geniesse die Freiheit.“
„Aber mach bloss nichts, dass du mit einem Bastard nachhause kommst.“
„Warum denn nicht? Mein Vater wäre wahrscheinlich noch stolz drauf.“
Faye blieb wie angewurzelt stehen, als sie sein Gesicht im Lichte einer Fackel ausmachen konnte. Sie konnte es mit keinem Namen in Verbindung bringen, aber sie hatte dieses Gesicht schon gesehen und bestimmt in keinem guten Zusammenhang.
Die drei Männer näherten sich dem beleuchteten Fenster eines Gasthauses und Arya konnte einen kurzen Blick auf einen Schwertgurt erhaschen, auf dem ein Wappen eingraviert war. Durch das schummrige Licht mochten die Farben nicht gut erkennbar sein, doch das Gebilde darauf umso besser. Zwei Türme, die genau gleich waren. Die Zwillinge. Ein Frey.
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Äusserlich stand er völlig entspannt da und tat seine Pflicht, wirkte dabei kühl wie immer. Doch innerlich, dies musste er sich eingestehen, brodelte er.
Als er zuerst gehört hatte, dass wieder ein Westerosi ermordet worden war, hatte er sich kaum darüber Gedanken gemacht. Er konnte ja kaum jedes Mal Arya die Schuld dafür geben, wenn jemand aus Westeros in Braavos getötet wurde. Als er dann vernommen hatte, dass es sich dabei um einen Frey handelte, war er jedoch stutzig geworden. So stutzig, dass er gestern Izembaro aufgesucht und gefragt hatte, wo Arya sich in jener Nacht befand. Und tatsächlich hatte einer der Wachen gesehen, wie sie in der Nacht nach draussen verschwunden war. Konnte es denn sein, dass sie in den letzten Monaten wirklich überhaupt nichts gelernt hatte?
Bisher war er gewillt gewesen die Sache mit dem Schwert zu ignorieren. Die Priesterin hatte sie dabei beobachtet, wie sie in den Felsen verstaut hatte und er hatte ihr aufgetragen, es dort zu lassen. Er hatte abwarten wollen, ob Arya es irgendwann von selbst fortwarf. Doch dazu war es nie gekommen. Würde es auch nicht, denn er hatte nicht vor, weitere Monate in ein Unterfangen zu investieren, das ganz offensichtlich aussichtslos war.
Als sie zurückkehrte, beobachtete er sie, doch sie liess sich mit keiner Regung auch nur irgendetwas anmerken. In diesem Punkt hatte sie vielleicht doch etwas mehr gelernt, als er erwartet hatte. Dennoch folgte er ihr in die Halle der Gesichter und wartete, bis sie es entfernt hatte, ehe er sie zur Rede stellte.
„Ein Mann dachte immer nur Walder Frey steht auf der Liste eines Mädchens.“ Erschrocken fuhr sie herum, ganz offensichtlich hatte sie ihn bis zu jenem Zeitpunkt nicht bemerkt.
„Was meinst du damit?“ Die Frage schien sie ernst zu meinen, doch lag auch Nervosität in ihrem Blick.
„Danwell Frey, Lord Walder Freys achtgeborener Sohn.“ Sie erblasste und er nahm dies als ein Schuldeingeständnis. Als sie zum Sprechen ansetzen wollte, versetzte er ihr einen Hieb mit dem Stock.
„Ein Mädchen hat nichts dazugelernt und wieder eines der Gesichter für ihre Zwecke missbraucht.“
„Was für Zwecke? Ich habe nichts-“ noch ein Schlag. Diesmal gegen ihren Kiefer, damit sie verstummte. Das leise Knirschen verriet, dass dieses Schweigen diesmal wohl länger anhalten würde. Und sie hatte noch Glück, wäre sie mit ihrer Ausbildung weiter fortgeschritten gewesen, wäre ein gebrochener Kiefer ihr kleinstes Problem gewesen.
Während sie so dastand ihr Gesichtsausdruck ein Wechselbad von Verwirrung, Schmerz und Wut, warf er ihr das Schwert vor die Füsse.
„Ein Mädchen hatte nie wirklich vor Niemand zu werden. Und das wird sie auch nie.“ Man sah, dass sie zum Sprechen ansetzen wollte, doch der gebrochene Kiefer hinderte sie daran und ihr entwich nur ein Keuchen.
„Ein Mädchen kann nach Westeros zurückkehren und ihre Liste vollenden, doch sollte es niemals nach Braavos zurückkehren.“ Sie konnte nach wie vor nicht sprechen, doch in ihren Augen erkannte er noch immer, dass sie nicht verstand, was hier vor sich ging. War sie sich denn wirklich nicht im Klaren darüber, was sie falsch gemacht hatte? Jedenfalls schien sie nicht weiter darüber diskutieren zu wollen – mit dem gebrochenen Kiefer hätte sie das wohl auch nicht gekonnt - denn sie packte ihr Schwert, sah ihn mit einem letzten, hasserfüllten Blick an und stürmte davon.
Ähnlich wie nach ihrer ersten Bestrafung blieb er noch kurz zurück und fragte sich, ob es vielleicht klüger gewesen wäre, sie doch noch zum Schweigen zu bringen. Aber sie kannte nicht einmal einen Bruchteil dessen, was sie hätte lernen müssen um wirklich eine von ihnen zu werden, von daher würde sie sich nicht als Gefahr herausstellen. Dennoch hoffte er, dass sie sich zumindest an seine Anweisung hielt und nicht mehr nach Braavos zurückkehrte.
Er vernahm leise Schritte, machte sich aber gar nicht die Mühe sich umzudrehen. Natürlich würde die Priesterin sich nicht dazu herablassen ihm zu sagen, sie hätte es ja schon die ganze Zeit gewusst, dennoch liess ihn etwas in ihrem Blick aufhorchen.
„Was?“ „Ich war vorhin auf dem Markt. Es hat sich das Gerücht verbreitet, dieser Lord aus Westeros sei von einem Schankmädchen ermordet wurde, weil er sie gegen ihren Willen angefasst hat. Angeblich hat sie die Tat sogar gestanden.“
Er schwieg. Schwieg, und hoffte, dass das Gerücht falsch war, denn wenn nicht würde es bedeuten, dass er Arya gerade ohne Grund den Kiefer gebrochen hatte. Und es würde ihren verwirrten Blick erklären. Und den Hass. Wenn diese Geschichte wirklich der Wahrheit entsprach, hatte er diesen letzten Blick mehr als nur verdient.
„Was hat sie eigentlich vorhin gesagt?“, fragte die Priesterin nun.
„Nichts.“ Wie denn auch, er hatte sie ja nicht ausreden lassen.
„Und wer hat das Gerücht verbreitet?“
„Die Köchin des Wirtshauses, die damit geprahlt hat was passiert, wenn Männer ihre Hände nicht bei sich behalten können.“
Das konnte doch nicht wahr sein… Es macht ohnehin keinen Unterschied, sie hat das Schwert nicht weggeworfen, rief er sich zur Ordnung. Dennoch bereute er das mit dem Kiefer ein wenig, sie würde einen guten Heiler brauchen, um das wieder in Ordnung zu bringen. Ändern liess sich daran jetzt aber auch nichts mehr. Er konnte sie nicht einfach so zurückholen. Solange sie dieses Schwert nicht hergab, war es sinnlos, sie zu unterrichten.
Die Priesterin stand immer noch neben ihm und reichte ihm einen Brief mit einem einfachen Wachssiegel ohne Gravur. Er brach es, glaubte aber den Inhalt der Nachricht schon zu kennen, was sich nun auch bewahrheitete.
Der Preis wurde bezahlt, das Geschenk, kann nun überbracht werden.
Er gab den Brief der Priesterin zurück und machte sich wortlos daran, ein paar passende Gesichter herauszusuchen. Sein Auftrag hatte Priorität.
Danach suchte er sich in der Waffenkammer alles zusammen, was ihm nützlich erschien. Dazu gehörte ein Blasrohr mit Pfeilen, drei verschiedene Gifte, zwei Dolche, ein Wurfmesser und ein Kurzschwert, welches allerdings eher der Tarnung galt.
Es gab einzelne Gifte, die nach einiger Zeit ihre Wirkung zu verlieren begannen, daher achtete er darauf, keines davon zu erwischen. Alleine die Schiffsreise nach Qarth dauerte Monate.
Das Packen bot ihm eine willkommene Ablenkung. Er beglich seine Schulden, Fehler eingestehen lag ihm da schon deutlich weniger. Und während er sich ganz auf seine Ausrüstung konzentrierte, blieb ihm auch keine Zeit dazu.
Als letztes ging er in ihr Arbeitszimmer und nahm sich ein Buch, das er vor einigen Monaten gekauft- doch nie gelesen hatte. Es war eines der Sorte Bücher, die man auf keinem öffentlichen Markt fand und für die man mehr ausgab, als sie eigentlich wert waren. Dafür entsprach der Inhalt meistens der Wahrheit, so hoffte er zumindest einen groben Überblick dessen zu erhalten, was es über Leibwechsler zu wissen galt. Geschrieben worden war es vor über hundert Jahren in Asshai.
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Der Schmerz in ihrem Kiefer breitete sich auf ihren ganzen Schädel aus, wurde im Moment aber durch die schier endlose Wut etwas verdrängt. Sie verachtete das Haus Frey und alle von Walders Nachkommen – wie sollte aus den Lenden eines solchen Mannes irgendetwas Besseres entstehen? Doch bei allen Göttern, mit Darryn Freys Tod hatte sie nicht das Geringste zu tun. Nachdem sie ihn erkannt hatte, war sie sofort wieder zurückgegangen, ironischerweise, damit sie keine Dummheiten tat. Doch genau das war es, was man ihr nun vorwarf. Sie war nicht einmal dazu gekommen, sich zu verteidigen. Sie schienen einen Sündenbock gebraucht – und gefunden zu haben.
Die Frage war nur noch, wie sie aus Braavos fortkam, bis auf Nadel und die Kleidung die sie am Leib trug, besass sie nichts mehr. Und schlimmer noch: Sie konnte nicht einmal mehr wirklich reden, denn jedweder Versuch ihren Kiefer zu bewegen, endete in solchen Schmerzen, dass sie recht schnell gelernt hatte, es zu unterlassen. Doch wie sollte sie ohne Geld oder die Möglichkeit sich zu verständigen einen Platz auf einem Schiff bekommen? Mit ihrem eigenen – oder auch Lanas Gesicht hätte nur Brusco ihr eine Hilfe sein können, doch ausgerechnet heute konnte sie ihn nirgendwo in der Menge ausmachen und langsam begann der Schmerz die Oberhand zu gewinnen und sie konnte nicht verhindern, dass ihr eine einzelne Schmerzensträne über die Wange rann.
Für längere Zeit stand sie unschlüssig da, wusste nicht, wohin sie gehen oder was sie tun sollte. Eigentlich hatte sie wirklich versuchen wollen, ihre Identität aufzugeben. Aber dieses Schwert mit all den Erinnerungen die daran hingen, hatten diesen Plan vereitelt. Nicht nur das Schwert, dachte sie. Wahrscheinlich hatte Jaqen schon lange einen Grund gesucht, sie los zu werden. Aufgrund einer Münze einem Mörder auf einen anderen Kontinent zu folgen, war vielleicht auch nicht die beste ihrer Ideen gewesen. Aber zu jenem Zeitpunkt hätte sie nirgendwo anders hingehen können und daran hatte sich auch jetzt nicht viel geändert.
Endlich glaubte sie Brea in der Menge zu erkennen, eine von Bruscos Töchtern. Mit entschlossenen Schritten ging sie auf die junge Frau zu und tatsächlich war sie ihr zuerst einen verwunderten und dann einen mitleidigen Blick zu. „Lana, was ist denn mit dir passiert?“ Sie deutete auf ihren Kiefer, als Zeichen, dass sie nicht sprechen konnte und Brea schien zu begreifen. Wahrscheinlich war die Schwellung auch nicht zu übersehen.
„Oh, tut mir Leid. Kann ich dir irgendwie helfen? Ich nehmen nicht an, dass du hergekommen bist um zu arbeiten.“ Arya deutete nur auf eines der Schiffe von denen sie wusste, dass es nach Westeros segelte. Diesmal musste sie Brea nicht auf die Sprünge helfen.
„Warum willst du denn gleich weg? Hast du so viel Ärger am Hals?“ Kaum hatte sie den Satz zu Ende gebracht, warf sie einen verdutzten Blick auf etwas, das sich hinter Arya befand. Diese drehte sich um und erkannte einen Mann in der Menge, welcher sie beobachtete. Ihr wurde schlecht.
„Bitte verzeih‘ mir, aber wenn du wirklich solchen Ärger hast, will ich mich da lieber nicht mit reinziehen lassen.“ Das war ein Schlag in die Magengrube, wie sollte sie denn sonst nur von hier wegkommen? Und doch konnte sie sie auch irgendwo verstehen, nicht jeder brauchte sich in so viele Schwierigkeiten zu bringen wie sie.
Sie ignorierte den Mann, was eher kindisch war, denn sie ahnte ziemlich genau, wer sich hinter diesem Gesicht verbarg.
„Ein Mädchen sollte warten.“ Sie wollte schon eine bissige Antwort geben, aber ihr Kiefer gehorchte ihr nicht im Geringsten und so blieb sie einfach stehen, wusste, dass sie ihm nicht davonlaufen konnte. Wäre es sein Ziel gewesen sie zu töten, hätte er das noch im Tempel getan – hoffte sie zumindest.
Da sie nichts sagen konnte, versuchte sie so viel Feindseligkeit wie möglich in ihren Blick zu legen, doch Jaqen liess sich nicht anmerken, ob ihr das auch gelang. Er trug nicht sein übliches Gesicht, sondern eines, das ihn ein paar Jahre jünger erscheinen liess. Ausserdem trug er Reisekleidung und eine Tasche mit Gepäck. Also entweder war dies ein Teil einer Verkleidung, oder er wollte wirklich fort. Sie dachte an das Treffen vor zwei Monaten.
Er musterte sie, doch schien der grössere Teil seiner Aufmerksamkeit Nadel zu gelten.
„Ein Mädchen muss sich entscheiden.“ Die Entscheidung hatte er ihr ja eben deutlich abgenommen, also was sollte das hier?
Er schien ihren Blick richtig zu deuten, denn er beantwortete die Frage, als hätte sie sie ausgesprochen.
„Ein Mann weiss nun, dass ein Mädchen nichts mit dem Tod von Darryn Frey zu tun hat. Deshalb kann sie die Ausbildung fortführen. Wenn sie das Schwert aufgibt.“ Sie schnaubte - immerhin das schaffte sie noch. Was glaubte er eigentlich? Dass sie das Schwert fortwarf und so tat als wäre nichts gewesen?
Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging auf das Schiff zu. Vielleicht schaffte sie es doch noch, den Kapitän irgendwie davon zu überzeugen, sie mitzunehmen.
„Was wird ein Mädchen tun, sollte es seine Rache bekommen?“ Sie wurde langsamer und blieb schliesslich ganz stehen, hatte ihm aber nach wie vor den Rücken zugewandt. Warum hatte er ausgerechnet das ansprechen müssen? Der Nachtwache beitreten um bei ihrem Bruder zu sein konnte sie nicht, oder besser gesagt, es wurde zusehends schwerer sich als Junge auszugeben. Und bei ihren anderen Geschwistern war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sie am Leben waren.
„Ein Mädchen will das Schwert nicht aufgeben, weil gute Erinnerungen damit zusammenhängen. Doch wenn ein Mädchen lernt die guten loszulassen, wird es irgendwann auch die schlechten loslassen können.“ Sie wollte sich wieder in Bewegung setzen und doch tat sie es nicht.
„Walder Frey, Cersei Lannister, sie alle werden früher oder später die Gabe erhalten, jeder Mensch stirbt irgendwann.“ Bei Walder Frey mochte das schneller passieren als gedacht, aber Cersei war noch nicht alt. Wenn sie darauf warten wollte, dass sie von alleine starb, würde das noch Jahrzehnte dauern. Allerdings hatte auch Joffrey auf ihrer Liste gestanden und der war ja auch ohne ihr Zutun gestorben. Auf ziemlich schmerzhafte Weise, wenn die Gerüchte der Wahrheit entsprachen.
Sie blickte wieder zu Nadel, dann zu Jaqen und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie umklammerte das Schwert so fest, dass ihre Knöchel weiss hervortraten.
Diesmal reagierte sie zu langsam als Jaqen zu ihr herübertrat. Er umfasste ihr Gesicht und für einen Moment fragte sie sich, ob er ihr das Genick brechen würde und das alles nur ein Trick gewesen war. Dann war da in der Tat ein lautes Knacken und ein heftiger Schmerz, allerdings in ihrem Kiefer, den sie auf einmal wieder bewegen konnte.
„Er war nur ausgerenkt. Trotzdem sollte ein Mädchen versuchen in den nächsten Tagen nicht zu sprechen.“ Das war alles was er dazu sagte und obwohl das ganze hier einer Entschuldigung schon recht nahe kam, würde sie wohl nie eine richtige zu hören bekommen.
„Also. Wenn ein Mädchen immer noch gehen will, kann ein Mann einen Platz auf dem Schiff suchen. Ansonsten sollte es das Schwert wegwerfen.“
Sie wusste, dass er Recht hatte, dennoch bezweifelte sie, sich dazu überwinden zu können.
„Kannst du es nicht irgendwo ins Meer werfen, wenn du unterwegs bist?“, ihre Worte klangen durch die Verletzung etwas undeutlich, von dem Schmerz der ihren Schädel durchfuhr einmal ganz abgesehen.
„Nein. Das muss ein Mädchen selbst tun.“
Er sah nun seinerseits zu einem der anderen Schiffe, welches ebenfalls so aussah, als würde es gleich in See stechen. Nach Qarth, wie Arya vermutete. Allerdings wirkte er nicht so, als hätte er es besonders heilig, dorthin zu kommen.
„Ich werde es tun.“ Sie klang entschlossener als sie sich fühlte und ihre linke Hand, mit welcher sie Nadel umklammert hielt, zitterte.
„Gut.“ Das war alles was er sagte, eher sich umwandte und mit der Menschenmenge verschmolz.
Jetzt war sie wieder alleine und hatte das Gefühl von einer riesigen Last erdrückt zu werden. Sie hätte die Chance gehabt zu gehen, hatte sie aber nicht ergriffen. Irgendwann musste sie sich entscheiden und vielleicht war jetzt der Zeitpunkt dazu.
Sie ging vom Hafen weg und folgte der Küste in nördliche Richtung, bis sie, wenn auch nicht völlig allein, aber doch zumindest nicht mehr allen Blicken ausgesetzt war.
Dieser Teil der Küste war ähnlich felsig wie in Lorath. Etwas weiter vorne im Wasser gab es aber auch einen Sandbank, der von den ständigen Wellen angespült- oder ins Meer zurückgespült wurde.
Das Wasser war kälter als sie erwartet hatte, aber vielleicht lag es auch daran, dass ihr im Moment auch sonst nicht besonders warm war.
Sie legte das Schwert in beide Hände, fühlte das kühle Eisen auf ihren Handflächen und sah, wie sich die vorbeiziehenden Wolken auf der dünnen Klinge spiegelten.
Es war nicht nur ein Schwert, es war ihr Begleiter gewesen, ihr Beschützer, jahrelang. Es war alles, was ihr noch geblieben war, das letzte Fragment ihrer Vergangenheit, an dem sie sich festklammern konnte. Es war alles, was sie noch besass. Selbst wenn sie es hätte loslassen wollen, sie hätte es nicht gekonnt, ihre Muskeln sträubten sich.
Sie dachte an Jon, Winterfell, ihre Familie. Das Schwert loszulassen, hiess auch sie loszulassen. Es fühlte sich an wie ein Verrat an allem, was ihr einst wichtig gewesen war. Noch immer wichtig war. Dennoch wusste sie, dass Westeros nicht länger ihr Zuhause war, ob mit oder ohne Nadel. Sie hatte ihre ganze Familie verloren und es überlebt, da würde sie es doch wohl schaffen, ein Schwert den Wellen zu überlassen.
In ihrem Kopf hatte sie diese Erkenntnis recht schnell gefasst, doch bis diese zu ihren Händen gewandert war, dauerte es lange. Es war beinahe Nacht, als sich ihre Finger langsam zu lockern begannen.
„Es tut mir Leid...“, murmelte sie und liess das Schwert vorsichtig, ja fast behutsam, in den nachgiebigen Sand sinken, von wo das nächste Gewitter es fortspülen würde.
Sie spürte einen Tropfen der ihre Wange hinab rann und glaubte zuerst, es handle sich um noch eine verräterische Träne, ehe sie begriff, dass es ein Regentropf war.
Wenn sie jetzt zurück ging und Nadel den Gezeiten überliess, war das Schwert morgen nicht mehr hier. Dennoch ging sie, auch wenn die ersten Schritte recht zaghaft waren und sie bis sie den Tempel erreicht hatte völlig durchnässt war. Dabei wusste sie nicht, ob sie einfach nur traurig oder auch erleichtert sein sollte. Es war, als hätte sie das letzte Band zu ihrer Familie durchtrennt.
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Schiffsreisen dieser Länge war er sich gewohnt. Doch freute er sich nicht sonderlich darauf, das nächste halbe Jahr auf einem Schiff eingepfercht zu verbringen.
Während das Schiff ablegte, blieb er noch an Deck und beobachtete, wie Arya am Wasser entlang ging. Er war sich immer noch nicht sicher, ob sie das Schwert wirklich aufgeben konnte, aber darauf hatte er keinen Einfluss. Gewissheit hatte er erst bei seiner Rückkehr. Bis dahin – vorausgesetzt sie blieb - arbeitete sie weiterhin bei der Stadtwache. Sobald das Jahr vorüber war fuhr die Priesterin bis zu seiner Rückkehr mit ihrer Ausbildung fort. Vorerst eher in theoretischem Wissen. Durch ihre Herkunft war Arya gebildeter als die meisten ihrer Akolythen, aber nicht auf den Gebieten, um die es bei ihrer Arbeit ging.
Sie musste lernen eine Formel richtig zu lesen und Gifte zu mischen, ebenso musste sie sich die Fähigkeiten der Tarnung aneignen. Ganz zu schweigen davon, dass sie endlich lernen musste, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen.
Als Arya aus seinem Blickfeld verschwunden war, wandte er sich um. Er hatte die Stadt schon so viele Male hinter sich verschwinden sehen, dass er sich nicht jedes Mal die Mühe machte abzuwarten. Obschon es auch jedes Mal sein konnte, dass er nicht mehr zurückkehrte. Ihre Ausbildung war gut, ihre Sinne geschärft, aber sie waren ebenso sterblich wie alle anderen Menschen.
Die Erkundung des Schiffes dauerte nicht lange. Es war nicht besonders gross und somit gab es bis auf die Belegschaft kaum ein dutzend Passagiere. Also dauerte es auch nicht lange, bis er in seine kleine Kajüte zurückkehrte, sich das Buch nahm, welches er eingepackt hatte und darin zu lesen begann. Vieles davon überflog er, ihm war durchaus bekannt, was Leibwechsler waren und was genau passierte, wenn sie einen Körper wechselten. Aber um einschätzen zu können, was ihn mit Arya noch erwarten mochte, wollte er sich lieber ein genaueres Bild davon machen. Vorausgesetzt sie war noch da, wenn er zurückkehrte.
Die Monate verstrichen zäh. Er hatte absichtlich auch Bücher mitgenommen, die er noch nicht gelesen hatte und solche, deren Sprache er nicht ganz beherrschte, aber bei einer so langen Reise war es nur eine Frage der Zeit, bis die Langeweile ihn einholte. Interessant wurde es nur dann, wenn sie irgendwo an Land gingen und ein paar neue Mitreisende dazu kamen- oder sie gar einen Tag Rast machten und er sich an Land aufhalten konnte, eine angenehme Abwechslung zum immer gleichen Meer. Wenigstens zeigte sich die See von ihrer angenehmeren Seite, der Wind war eigentlich immer zu ihren Gunsten und sie erreichten Qarth schon nach etwas mehr als fünf Monaten.
Es waren beinahe zehn Jahre vergangen, seit er zuletzt hier gewesen war, dennoch hätte er die Muster auf der äussersten Stadtmauer aus dem Kopf heraus aufzeichnen können, ohne sie noch einmal wieder zu sehen. Darum blieb er auch gar nicht lange stehen, sondern mischte sich unter die anderen Reisenden während er durch das erste Tor trat. Das Raunen und die Blicke verrieten deutlich, wer zum ersten Mal hier war und wer nicht. Er selbst vermied es auch hier den Blick zu heben, was ihm allerdings nur bis zum dritten Tor gelang, die mit Gold gespickten Augen fesselten seinen Blick fast jedes Mal.
Sobald er das Tor hinter sich gelassen hatte, zog er sich in eine der Nebengassen zurück und tauschte seine Reisekleidung gegen ein schlichtes Leinengewand und ein etwas abgewetztes Tigerfell. So wirkte er wie ein Einheimischer aus der Mittelschicht. Nicht sehr reich, aber auch nicht sonderlich arm. Ideal um in der Menge unterzutauchen. Das war es auch, was er als erstes tat.
Er tauchte in das Geschehen der Stadt ein, liess sich vom Strom der Menschen treiben und achtete dabei besonders auf alles, was einen Hinweis auf die Gildemitglieder geben konnte. Dabei kam er nicht umhin, die Gebäude doch etwas genauer zu mustern, auch wenn sich nicht wirklich viel verändert hatte. Manche Gebäude hatten sicherlich einen neuen Anstrich erhalten zu haben, andere wiederum waren etwas blasser geworden. Wirklich heruntergekommen war hier keines der Häuser, die Qartheen waren dafür zu eitel.
Insbesondere die Händler interessierten ihn an diesem Tag, sie hatten mit der Gewürzgilde oft am meisten zu tun. Er war jedoch nicht so konzentriert wie sonst, etwas war seltsam. Er fühlte sich zwar nicht direkt beobachtet, aber das Gefühl in ihm kam dem recht nahe. Normalerweise hätte ihn das kaum beunruhigt, aber er fragte sich doch, wie er so schnell hatte auffallen können. Und der Beobachter, sollt wirklich einer hier sein, verhielt sich recht geschickt, ansonsten hätte er ihn schon längst erkannt.
So schnell wie es gekommen war, verschwand das Gefühl auch wieder und er entschied sich die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen und seine Suche fortzusetzen.
Es dauerte eine geraume Zeit, ehe er ein Gespräch bemerkte, welches ihn zum Anhalten veranlasste. Offenbar war zwischen den Reingeborenen und der Gilde der Gewürzhändler wieder ein Streit entbrannt, weil eine der reich verzierten Galeeren gesunken war und die Gewürzhändler dafür verantwortlich gemacht wurden. Offenbar bestritten diese das. „Also ich glaube ihnen“, meinte eine der Frauen. „Sie haben vielleicht Schiffe, aber warum sollten sie so töricht sein, sich mit einer ganzen Flotte anzulegen.“ Ob der Vorwurf nun der Wahrheit entsprach oder nicht, brauchte ihn nicht zu kümmern. Doch wusste er nun mit Sicherheit, wie er den Mord ausführen würde. Die Reingeborenen waren bekannt dafür, ihre Gegner zu vergiften und diese neue Auseinandersetzung bot einen guten Anlass dazu.
Gerade als die Dämmerung hereinzubrechen begann, verspürte er wieder dieses Gefühl beobachtet zu werden, diesmal war es sogar noch deutlicher. Doch er ignorierte es noch immer. Wenn es jemand auf ihn abgesehen hatte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Angreifer sich von selbst verraten würde.
Jede Stadt veränderte sich im Verlaufe der Jahre, unverändert blieben aber meistens die Gasthäuser und ihre Gäste. Die Gilde der Gewürzhändler trieb sich immer noch im selben Lokal herum und sie schienen auch kein Geheimnis aus ihrer Anwesenheit zu machen. Die Spunte befand sich in der Nähe des grössten Marktplatzes, wo sie auch einen Grossteil ihres Geldes verdienten. Der Menge von Wein nach zu urteilen, war heute ein guter Tag für sie gewesen. Einige der Gesichter kannte er, andere waren ihm neu. Sein Opfer hatte er zuvor noch nie gesehen, weshalb er hoffte, ihn durch reines Zuhören zu finden.
Nach einer Weile stellte er aber fest, dass er damit an diesem Abend kein Glück haben würde. Alle hier kannten sich so gut, dass nie ein Name fiel und es gab niemandem, der ihm besonders aufgefallen wäre. Trotzdem wartete er mehrere Stunden und verliess das Gasthaus als einer der Letzten.
Der Wind hatte aufgefrischt und die Strassen waren deutlich leerer als noch vor ein paar Stunden, aber für heute brauchte er auch nichts mehr in Erfahrung zu bringen. Da er nichts über Tychyllo Vorsay gehört hatte, war dieser entweder unterwegs oder auf seinem Schiff geblieben. Auf dem Rückweg war er in Gedanken ganz bei seinem Auftrag, erst das altbekannte Kribbeln im Nacken erinnerte ihn an seinen Verfolger. Langsam drehte er sich um, die Silhouette einer Person war in der Dunkelheit zu sehen, trat sogar nach vorne. Er griff noch nicht nach seinen Waffen und blieb gelassen, zumindest so lange, bis die Gestalt in den Lichtschein einer Fackel trat und er die Maske erkannte. Die Maske und die Augen, die sich dahinter verbargen.
Aber es war nicht Quaithe, die ihn aus der Fassung brachte, sondern ihr Blick, der verriet, dass sie auch ihn erkannte. Obwohl das nicht möglich war. Er trug nicht sein richtiges Gesicht und es war bestimmt schon fünfzehn Jahre her, seit sie sich das letzte Mal von Angesicht zu Angesicht begegnet waren.
„Was willst du?“ In diesem Fall wusste er, dass es wenig Sinn machte zu lügen. Ausserdem hatte sie bestimmt einen Grund, warum sie sich ihm so offensichtlich zeigte. Auch wenn er nicht wirklich gewillt war, diesen zu erfahren.
„Nichts. Die Frage ist, was du willst.“ Er war es leid immer die richtigen Schlüsse aus ihren Andeutungen ziehen zu müssen, seine Antwort war aber dennoch vollkommen ehrlich.
„Dass eine Frau verschwindet.“ „Nein, das ist es nicht was du willst. Du hast schon lange verdrängt, wer du einmal gewesen bist und ich erinnere dich daran.“ Offensichtlich hatte sie nicht vor zu verschwinden, warum auch? Sicherlich hatte sie von Anfang an gewusst, dass er so reagieren würde. Vielleicht weil sie es gesehen hatte, vielleicht aber auch weil sie den Mann - oder eher den Jungen der er einmal gewesen war - besser kannte, als es ihm lieb war.
„Dann sollte sie sagen, warum sie hier ist.“ Er hatte seine Stimme und seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle, ihrem Blick wich er ohnehin nicht aus.
„Um dich zu warnen.“ „Egal was es ist, ein Mann will es nicht wissen.“ „Oh doch, das will er.“ Sie trat noch einen Schritt auf ihn und für einen kurzen Moment musste er den Reflex unterdrücken, einen Schritt von ihr weg zu machen.
„Denn egal was du dir selbst einredest, du fürchtest dich ebenso sehr vor dem Tod wie jeder andere auch, der eine bessere Wahl hat.“ Das mochte für Menschen gelten, die noch Träume hatten, etwas, woran sie sich festhielten. Als er sich für diesen Weg entschieden hatte, hatte er alles hinter sich gelassen, was ihn davon hätte abhalten können seine Pflicht zu erfüllen und dazu gehörte nunmal auch die Angst vor dem Tod. „Ich habe gesehen, dass du damals dem Tod in den Flammen entgangen bist, doch zugleich sah ich, dass sie eines Tages dennoch dein Ende bedeuten werden.“ Wirklich Angst machte ihm die Vorhersage nicht, er wusste aus Erfahrung, dass sich diese ändern konnten und selbst die begabtesten Schattenbinder nicht alles sahen. Also musterte er sie nur kühl.
„Ein Mann wird jetzt gehen.“ Neben ihren Augen erschienen kleine Fältchen, offensichtlich lächelte sie.
„Tu‘ das. Wir werden uns in weniger als drei Jahren wieder sehen.“ Damit trat sie zurück in den Schatten der Gebäude und verschwand aus seinem Sichtfeld, nicht aber aus seinen Gedanken. Wir werden uns in weniger als drei Jahren wiedersehen. Er hoffte inständig, dass sie sich irrte.