Gemächlich schritt sie an den zahlreichen Kanälen entlang und genoss das Gefühl der Sonne auf ihrem Gesicht, auch wenn der Wind für die Verhältnisse hier in Braavos recht kühl war.
Um nicht sofort als Katz erkannt zu werden, trug sie andere Kleidung als damals und die Haare offen. Für den Fall, dass jemand sie dennoch erkannte, wäre ihr sicherlich eine Ausrede eingefallen.
„Hey, warte mal.“ Überrascht wandte sie sich um, mit Mojo hatte sie jetzt nicht gerechnet. Ausserdem musste sie noch immer an sein seltsames Verhalten vom vorigen Abend denken. Er war etwas ausser Atem, ansonsten aber wieder völlig normal.
„Musst du dich beeilen?“ Etwas verwirrt über die Frage zuckte sie mit den Schultern. „Warum fragst du?“
„Kannst du mir hierbei kurz helfen?“ Er verschwand in einer Gasse.
„Wobei denn?“, fragte sie und konnte das Misstrauen nicht vollständig aus ihrer Stimme heraushalten. Sie wollte nicht mehr Zeit als nötig vertrödeln und falls Mojo Ärger hatte, wollte sie sich da nicht mit hineinziehen lassen. Zum ersten Mal seit sie in Braavos war, ging es mit ihrer Ausbildung voran und sie hatte nicht vor, sich das zu zerstören, in dem sie Mojo dabei half, eine Leiche wegzuschaffen. Irgendetwas musste er am vorigen Abend verbrochen haben, sonst hätte er es nicht so eilig gehabt, die Waffen zurück zu legen.
Als er merkte, dass sie ihm nicht gefolgt war, trat er wieder aus der Gasse hervor und sah sich um. Sie tat es ihm gleich, nur um festzustellen, dass im Moment keine andere Menschenseele hier war. Hier bildeten die Gebäude eher einen Innenhof als eine Strasse.
Sein Gesichtsausdruck begann sich zu verändern und ihre Nackenhaare stellten sich auf.
Instinktiv nahm sie die Kampfhaltung ein, welche Jaqen ihr in den letzten Wochen eingebläut hatte. Vielleicht bildete sie sich auch alles nur ein, aber das hier gefiel ihr gar nicht und Mojos Blick liess sie erschaudern.
Weglaufen war für sie keine Option, zumal es unklug war, ihm den Rücken zuzuwenden. Gerade bei leisen Geräuschen konnte sie sich immer noch nicht vollständig auf ihr Gehör verlassen, was sie von hinten angreifbarer machte.
So standen sie also beide da und versuchten, den jeweils anderen einzuschätzen. Sie mochten schon einige Male gegeneinander gekämpft haben, doch diesmal durften sie sich beide keine Fehler erlauben. Seine Beweggründe waren ihr jedoch nach wie vor ein Rätsel. Sie war sich aber ziemlich sicher, dass dies keine Anweisung der Priester war, kein weiterer Test.
Nach Minuten des gegenseitigen Abschätzens war es schliesslich Mojo, der angriff.
Sein Schlag zielte gegen ihren Hals, allerdings konnte sie ohne weiteres ausweichen und versuchte dabei auch gleich, sich ein genaueres Bild ihrer Umgebung zu machen. Zu ihrer Linken war die Gasse, durch die sie hierhergekommen waren. Vor ihr waren Gebäude und natürlich Mojo, dem klar war, dass sie nicht nach hinten ausweichen konnte, weil sich dort ebenfalls eine Hauswand befand. Rechts verlief die Gasse noch etwas weiter, ehe sie wieder nach rechts abzweigte.
Mojos zweiter Angriff war noch schneller als sein erster, doch Arya, die damit gerechnet hatte, versuchte sich einen Vorteil daraus zu verschaffen, so wie Jaqen es bei fast jedem Training mit ihren Schlägen tat. Zu ihrer eigenen Überraschung bekam sie seinen Arm tatsächlich zu fassen, den zweiten, der gegen ihre Schläfe zielte, jedoch nicht.
Der Schmerz liess sie ihren Griff etwas lockern und sie prallte mit dem Kopf gegen die Steinmauer. Es war, als verdränge der Schlag sämtliche Gedanken aus ihrem Kopf und für einen schrecklichen Moment befürchtete sie, noch ganz in die Bewusstlosigkeit abzudriften. Das wäre ihr Ende gewesen. Aber die Flecken wurden kleiner und ihre Entschlossenheit war grösser denn je. Sie hatte sich nicht fast sieben Jahre lang durchgeschlagen, um auf eine solche Art zu sterben, also stürzte sie nach vorne, auf ihren Gegner.
Von den Füssen reissen konnte sie ihn nicht, ihr Körper war eher auf Schnelligkeit ausgelegt, nicht auf pure Muskelkraft. Doch er taumelte und sie riss ihr Knie hoch, solange sie noch nahe genug an ihm dran war. Nun war er es, der den Griff um ihre Schulter lockerte, aber nicht, wie sie geglaubt hatte, um sie sinken zu lassen, sondern, um damit ihren Hals zu umschliessen. Von einem Moment auf den anderen bekam sie keine Luft mehr. Zuerst versuchte sie noch einen klaren Gedanken zu fassen und ihn mit gezielten Bewegungen von sich zu lösen, doch je länger sein Griff anhielt, desto lauter wurde das Pochen in ihrem Kopf. In ihrer Panik gelange es ihr zwar mit ihren Fingernägeln blutige Striemen in seinem Gesicht zu hinterlassen, doch seine Augen welche ihr eigentliches Ziel gewesen wären, bekam sie nicht zu fassen. Irgendwann begann ihre Panik etwas abzuflauen und ihr Überlebenswille gab ihr zu verstehen, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Sie nahm noch einmal all ihre verbliebene Konzentration zusammen und versuchte den Punkt an seinen Schultern zu finden, der die Arme taub werden liess. Sie glaubte sogar zu spüren, wie sich der Griff seiner rechten Hand etwas lockerte, aber es war bei weitem nicht genug.
Sie wehrte sich weiter, versuchte alles andere anzuwenden, was sie in all den Jahren gelernt, hatte, doch der Aufprall an der Wand, hatte sie zu langsam gemacht und sie schaffte es nicht, Mojos Griff von ihrer Kehle zu lösen. Mittlerweile hatte er sie auf den Boden gepresst und mit den Knien festgenagelt, damit sie ihn nicht mehr treten konnte.
Kalte Angst erfasste sie. Nicht die Angst vor dem Tod, eher die Angst, versagt zu haben. Und Wut darüber, dass es keinen Ort auf dieser Welt zu geben schien, an dem sie den Leuten vertrauen konnte.
Irgendwann begann der brennende Schmerz in ihrer Kehle abzuklingen und der Himmel hinter Mojo wurde dunkler. Ihre eigenen Hände waren mittlerweile nutzlos zu Boden gesunken und sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. So bemerkte sie erst auch gar nicht, dass Mojos Hände sich gelöst hatten.
~
Wie ein Ertrinkender schnappte sie nach Luft. Sie verstand nicht, was hier gerade passiert war, doch nach einigen Atemzügen begann sich ihr Blick wieder so weit zu klären, dass sie Mojo einige Meter neben sich am Boden erkannte, die Heimatlose über ihm.
Sie hörte eine Stimme, war im ersten Moment aber nicht dazu in der Lage, die Stimme einzuordnen oder den Wörtern irgendwelchen Sinn zu geben. Nach ein paar weiteren Atemzügen und einer Hand, die sie sanft aber bestimmt auf den Rücken zurückdrehte, erkannte sie Jaqen.
„Ruhig“, sagte er, „ein Mädchen muss ruhig atmen.“ Sie versuchte seinem Rat Folge zu leisten, das tat sie wirklich- doch das Einzige, was sie damit erreichte, war ein Hustenanfall. Erst als sie wirklich das Gefühl hatte, nicht jeden Moment zu ersticken, konzentrierte sie sich erneut auf ihre Umgebung. Jaqen kniete immer noch neben ihr.
Sie versuchte sich aufzusetzen und war froh, dass es ihr auf Anhieb gelang- auch wenn ihr augenblicklich übel dabei wurde. So übel, dass sie es gerade noch schaffte, sich von Jaqen weg zu drehen ehe sie sich übergab. Sie konnte nicht sagen, was sie gerade mehr schmerzte, ihr Hals, oder ihr Kopf. Dennoch fühlte sie sich danach etwas besser und versuchte Mojo ausfindig zu machen, doch sowohl von ihm als auch von der Heimatlosen fehlte jede Spur.
Jaqen betastete leicht ihren Hals, was nicht halb so wehtat, wie ihr Versuch zu schlucken.
„Was hatte das zu bedeuten?“ Ihre Stimme klang heiser und sie schluckte nochmals, entschied dann aber, es besser bleiben zu lassen. „Das wird sich noch zeigen“, erwiderte er nur. „Sobald ein Mädchen glaubt, dass es gehen kann-“ Ohne den Rest seiner Worte abzuwarten erhob sie sich, hatte es jedoch nur der Wand hinter ihr zu verdanken, dass sie nicht gleich wieder zu Boden sackte. Nach einiger Zeit vertraute sie ihren Beinen wieder soweit, dass sie ein paar zögerliche Schritte tat und sie den Rückweg zum Tempel antreten konnten.
Es gab zahlreiche Fragen, die ihr im Kopf herumschwirrten, doch nur eine, die ihr genug wichtig erschien, um sie gleich zu stellen. „Was passiert jetzt mit ihm?“ Sie stellte diese Frage nicht etwa aus Mitleid, sondern weil sie sich ernsthaft fragte, was nun geschah. Auch wenn sie schon eine Vermutung hatte. Es dauerte eine Weile, ehe er antwortete. „Vermutlich wird es eine Anhörung geben.“ Mehr sagte er nicht dazu und sie wusste es war, weiter danach zu fragen. Sie hatten den Tempel ohnehin erreicht.
Der gütige Mann hatte offenbar auf sie gewartet.
„Von den Brüdern und Schwestern die in Braavos sind, fehlen nur noch wenige. Wir können in Kürze beginnen.“ „Gut. Ein Mädchen muss kurz warten, nach der Verhandlung…“ „Sie muss dabei sein.“ Sie nahm den Wortwechseln recht teilnahmslos wahr, dennoch glaubte sie in Jaqens Miene einen kurzen Wiederwillen aufblitzen zu sehen. Jedoch nur so kurz, dass sie sich vielleicht auch getäuscht haben konnte, denn danach führte er sie ohne zu zögern in den Raum, in welchem bei Neumond die neuen Aufträge verteilt wurden.
Obwohl sich mehr als ein Dutzend Personen im Raum befanden, waren ihre Schritte das Einzige, was hier drin zu hören war. Instinktiv blickte sie zur Wand, an welcher normalerweise die Akolythen standen. Oder besser gesagt, sie wollte dorthin blicken, doch stattdessen fiel ihr Blick auf Mojos Gestalt. Er stand in der Mitte des Raumes und war nicht einmal gefesselt. Warum auch? Jeder der hier Anwesenden bis auf Arya wäre in der Lage gewesen, ihn in kürzester Zeit auszuschalten, sollte er etwas Dummes versuchen. Dessen schien er ich auch vollkommen bewusst zu sein, denn er versuchte gar nicht erst, seine Angst zu verstecken- oder es gelang ihm einfach nicht. Sie merkte erst, dass sie stehen geblieben war, als Jaqen sie etwas weiter nach vorne schob.
Nun hatte sie einen noch direkteren Blick auf Mojo.
Es betrat nur noch eine Hand voll Leute den Raum, ehe die Tür mit einem lauten Poltern ins Schloss fiel. Das Geräusch erschien ihr unglaublich laut, vielleicht wegen ihrer Kopfschmerzen, vielleicht aber auch, weil es die Endgültigkeit bedeutete. Denn je länger sie darüber nachdachte, desto weniger glaubte sie daran, dass Mojo diesen Raum lebend verliess.
„Du weisst warum du hier bist. Aber manche hier wissen es noch nicht. Sag' es ihnen.“ Die Heimatlose war vorgetreten, ihre Stimme ruhig, ihr Blick eisig. Doch Mojo antwortete nicht, sah sein Gegenüber nur flehend an. „Bitte, ich-“ „Antworte.“ Er schluckte, antwortete dann aber tatsächlich.
„Ich habe Morde begangen, für die ich keinen Auftrag hatte.“ Niemand reagierte darauf, wahrscheinlich wussten in Wahrheit ohnehin alle Bescheid, dennoch schien es wichtig zu sein, dass Geständnis aus seinem Mund zu hören.
„Und warum hast du das getan?“ Er hatte sich etwas beruhigt, seine Stimme war zwar immer noch leise, aber etwas fester. „Weil ich das Geld wollte.“
„Und dafür würdest du wenn nötig jeden von hier eigenhändig umbringen?“ Sie liess sich nicht anmerken was sie davon hielt, es klang wie eine ganz gewöhnliche Feststellung. Doch Mojos Gesichtsausdruck veränderte sich etwas, er wirkte schon fast selbstbewusst. Er wandte sich um und Blickte Arya direkt in die Augen. Sie hätte den Blick gerne wütend erwidert, doch um wütend zu sein, fehlte ihr im Moment die Kraft.
„Sie wäre doch sowieso nie eine von uns geworden. Auch sie hat schon ohne Auftrag getö-“ „Und wurde dafür bestraft. Die Frage ist, was wir mit dir machen.“ Nun wandte sie sich an die Versammelten.
„Ihr entscheidet. Können wir das Risiko eingehen?“
„Nein“, kam eine Stimme, zu der Arya von dort aus wo sie stand kein Gesicht ausmachen konnte. „Er wird es sicher wieder tun.“ Zustimmendes Gemurmel erfüllte den Raum.
„Gehen lassen können wir ihn aber auch nicht“, warf ein zweiter ein. „Er weiss zu viel.“ Wieder zustimmendes Gemurmel. Die Heimatlose ging einen weiteren Schritt auf Mojo zu und sah ihm direkt in die Augen. „Könntest du uns hier und jetzt schwören, deine Fähigkeiten nie wieder einzusetzen wenn wir dich gehen lassen?“ „Ja“, antwortete er sofort. Sie seufzte. „Lüge.“
Innerhalb eines Wimpernschlages hatte die Heimatlose seinen Kopf gepackt und eine schnelle Bewegung ausgeführt. Das Knacken, welches darauf folgte, erschien ihren Ohren ebenso laut wie das Zuschlagen der Tür vor wenigen Minuten. Danach sank sein Körper zu Boden.
Sie hätte gedacht, dass sich die Anwesenden nun Zerstreuen würden, doch das taten sie nicht. Sie schwiegen für eine Weile und Arya glaubte, manche von ihnen leise beten zu hören. Sie konnte es nicht. Sie konnte ihm auch nicht vergeben was er getan hatte, doch da er nun tot war, hatte sie keinen Grund, noch wütend zu sein. Eine kleine Genugtuung verspürte sie dennoch, auch wenn diese unter dem Pochen ihres Schädels beinahe unterging.
Erst als die meisten anderen Personen den Raum verlassen hatten, sprach Jaqen sie an.
„Komm.“ Anscheinend hatte er die ganze Zeit neben ihr gestanden, sie war jedoch so auf Mojo und die Heimatlose konzentriert gewesen, dass sie fast alles andere ausgeblendet hatte.
Sie folgte ihm und bemerkte erst als sie den Raum betreten hatten, dass sie noch gar nie hier gewesen war. Es gab einen Schreibtisch und ein Regal mit Büchern, das war aber auch schon alles, zumindest alles, was sie auf den ersten Blick ausmachen konnte. Bis auf den Stuhl, auf den sie sich nun sinken liess. Jaqen verliess kurz darauf den Raum und sie versuchte die Übelkeit nieder zu kämpfen. So starke Kopfschmerzen hatte sie nicht mehr gehabt, seit der Bluthund ihr die Rückseite seiner Axt über den Schädel gezogen hatte.
Als Jaqen zurückkehrte – sie hätte nicht sagen können, wie viel Zeit verstrichen war – trug er ein Tablett mit einigen Utensilien bei sich, welches er auf dem Tisch abstellte. Als Erstes reichte er ihr einen Becher, den sie ohne Fragen zu stellen leerte. Dabei war sie überrascht, dass es sich um normalen Kräutertee mit Zucker zu handeln schien, was sie aber nicht ganz glauben konnte. Danach nahm er einen Lappen, befeuchtete ihn in der Wasserschale und begann die Platzwunde an ihrem Hinterkopf zu reinigen.
„Wer weiss, dass ich noch am Leben bin? Und woher?“ Wenn es tatsächlich jemand aus ihrer Vergangenheit war- und das war die einzig sinnvolle Erklärung- hatte sie ein Problem.
Es war um einiges einfacher für sie hier zu bleiben und zu wissen, dass man sie für tot hielt. Es wäre einfacher gewesen, zu vergessen, wer sie war. Obwohl sie die Hoffnung, das so gut zu beherrschen wie die anderen hier, langsam aufgab. Wie schafften es nur alle ihre Vergangenheit zu verdrängen? Sie wusste, dass viele ähnliche Schicksale teilten wie sie.
„Nur wenige Leute“, beteuerte Jaqen, während er einen dünnen Faden durch eine Nadel zog und damit begann die Platzwunde zuzunähen. Sie spürte den Stich zwar, doch er war nicht halb so schlimm wie das Pochen in ihrem Kopf. Und selbst dieses begann langsam abzuflauen. „Wer?“ Ihr war nicht entgangen, dass er ihrer Frage auswich. „Die Königin. Sie hat ihre Leute geschickt, Mojo sollte ein Mädchen abliefern. Tod oder lebendig.“ Sie wollte noch weitere Fragen stellen, schaffte es aber nicht, diese zu formulieren.
Jaqen schnitt den Faden ab und wandte sich um, offensichtlich sprach er mit jemandem. Im Nachhinein wusste sie jedoch nicht, mit wem. Mittlerweile war ihr Oberkörper auf den Tisch gesunken und sie versank in einem so tiefen Schlaf, wie sie ihn schon seit Monaten nicht mehr gekannt hatte.
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„Und wer kümmert sich jetzt um die Westerosi?“ Er durchtrennte den Faden und wandte sich zur Priesterin um. Ihr Gesicht war ausdruckslos, dennoch sah er ihr an, dass dieser Tag nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Hätte Arya nochmals eine ernste Dummheit begangen, hätte er dasselbe mit ihr tun müssen wie die Priesterin mit ihrem Schützling. Und es wäre ihm alles andere als leichtgefallen, also konnte es ihr wohl kaum anders ergehen. Fünf Jahre Arbeit zerstört. Doch genau diese Disziplin war es, die dafür sorgte, dass ihre Gilde die letzten Jahrhunderte überdauert hatte, unterschied sie zwischen den einfachen Meuchelmördern, die fast überall zu finden waren.
„Ein Mann wird sich darum kümmern.“ Sie nickte nur und sah dann an ihm vorbei.
„Ich denke, ein wenig mehr Nahkampftraining würde hier nicht schaden.“ Er folgte ihrem Blick zu Aryas schlafender Gestalt und seufzte.
„Ein Mann denkt dasselbe. Aber Schlaf braucht ein Mädchen fast genauso dringend.“ Das Schlafsüss wirkte um einiges schneller, als er erwartet hatte.
„Du warst hier derjenige, der sie in den letzten Wochen nicht hat schlafen lassen. Warum eigentlich?“ Er hatte es nicht für nötig gehalten, jemandem von Aryas Traum zu erzählen, vielleicht weil er wusste, wie die Erwiderung des anderen Priesters gelautet hätte. Aber er log die beiden niemals an, auch wenn er wahrscheinlich sogar dazu in der Lage wäre.
„Offensichtlich hat jemand ihre Mutter von den Toten zurückgeholt. Ein Mann wollte, dass ihr Geist so wenig Zeit wie möglich in Westeros verbringt.“
„Hoffen wir, dass die Mühe mit ihr nicht auch umsonst ist.“ Diesmal war es nicht nur eine Annahme von ihm, die Bitterkeit in ihrer Stimme konnte man nicht weiter ignorieren.
„Das hofft ein Mann auch.“
Als die Priesterin weg war, trug er noch eine Salbe auf die Wunde auf, welche eine Entzündung verhindern sollte und brachte Arya danach in ihre Zelle. Bevor er sie allein liess betrachtete er noch einmal ihre schlafende Gestalt und hoffte inständig, dass er eines Tages nicht die gleiche Entscheidung würde treffen müssen wie die Priesterin an diesem Tag. Dennoch erschien ihm etwas daran seltsam, er konnte sich kaum vorstellen, dass Mojo einfach so auf die Idee gekommen war, Arya zu verraten. Es hätte viel einfachere Wege für ihn gegeben um an Geld zu kommen und von hier zu verschwinden.
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Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, wie er die Westerosi davon überzeugen konnte, dass sie einer falschen Fährte gefolgt waren. Doch es zeigte sich schnell, dass er ihre Ignoranz wohl bei weitem unterschätzt hatte, denn noch ehe er aufbrechen konnte, betraten zwei von ihnen den Tempel. Sie trugen das Wappen der Lannisters mit demselben Stolz, wie sie es auch in ihrer Heimat taten. Sie begriffen nicht, dass dieses hier etwa so viel Gewicht hatte wie eine Feder, die vom Wind davongetragen wurde. Zugleich bedeutete ihr Auftauchen, dass der Akolyth tatsächlich so dreist gewesen war, den Brief in ihrem Namen zu verfassen. Selbst wenn ihm sein Vorhaben gelungen wäre – hatte er denn tatsächlich geglaubt, sie würden es nicht herausfinden?
Er wartete, bis sie bei dem Brunnen angekommen waren, ehe er die beiden fragend ansah. „Wo ist sie?“ Die Stimme des Soldaten klang gebieterisch, doch der Gesichtslose liess sich nicht so einfach aus der Ruhe bringen. „Viele Menschen besuchen diesen Tempel.“ „Versucht nicht, uns für dumm zu verkaufen.“ Sein Begleiter wirkte genervt und sah sich um, als er die Menschen in den Nischen erblickte, wirkte sein Gesicht aber nicht mehr ganz so selbstbewusst, ihm schien eher etwas unbehaglich zu Mute zu sein.
„Ein Mann weiss nicht, worum es hier geht. Doch dies ist ein Ort der Ruhe und des Friedens.“
„Und das soll es auch bleiben. Aber wie wir hörten, befindet sich jemand in eurer Obhut, den wir suchen.“ Er reichte ihm ein Schreiben, welches er nur kurz überflog und dann ohne zu zögern in einen der Kamine warf, wo es sofort von den Flammen verschlungen wurde. Beide waren für den Moment zu verdutzt um zu reagieren und so war er es der Gesichtslose, der das Schweigen brach.
„Egal wer dies verfasst hat, gehörte nicht zu uns. Und wer immer diese Arya Stark auch sein mag… Hier ist sie nicht. Wir sind keine einfachen Meuchelmörder, die irgendwelche Briefe verschicken. Wer unsere Dienste sucht, meldet sich bei uns und nicht umgekehrt. Das könnt ihr eurer Königin gerne ausrichten.“
„Ihr wagt es-“ sein Begleiter packte ihn an der Schulter. „Wir sollten gehen. Das hier gefällt mir nicht und ich setze mein Leben nicht für irgendeinen Betrüger aufs Spiel.“
„Und was ist, wenn sie wirklich hier ist? Wer sonst weiss schon von diesem verdammten Schwert?“ Das schien den zweiten nun doch zu verunsichern. Sie machten den Anschein, als wägten sie ab, von wem die grössere Gefahr ausging. Von ihnen, oder von der Königin, die eine ganze Septe mitsamt der sich darin befinden Personen hatte in Flammen aufgehen lassen.
Letzten Endes war ihr Ruf in Westeros aber doch noch berüchtigt genug, denn obwohl sie nicht zufrieden wirkten, wandten sie sich wieder ihm zu.
„Ich hoffe für Euch, dass Ihr die Wahrheit sprecht. Wenn wir etwas anderes herausfinden…“ Den Rest liess er unausgesprochen, vielleicht auch, weil er den Blick es Gesichtslosen Mannes richtig deutete, dem langsam aber sicher die Geduld ausging. Er war nun schon viele Jahre hier, aber so viel Unverschämtheit war ihm innerhalb dieses Tempels noch nie untergekommen.
Er sprach kein Wort mehr, beobachtete die beiden aber so lange, bis das Tor hinter ihnen zugefallen war.
Mit einem kurzen Blick streifte er die Überreste der Schriftrolle und trat dann den weg zu seiner eigenen Zelle an, nach diesem Tag konnte auch er etwas Ruhe vertragen. Doch offensichtlich war ihm diese noch nicht vergönnt, denn der andere Priester kam ihm auf halbem Weg entgegen und hielt ihn auf.
„Die Westerosi?“
„Sind weg. Vorerst jedenfalls. Ein Mann ist sich nicht ganz sicher, ob sie sich wirklich damit zufriedengeben.“ Der ältere Mann nickte. „Wo wir gerade schon hier sind… Es gibt einige neue Aufträge und zwei von ihnen würde ich gerne mit dir besprechen.“
Anstelle seines Bettes war also das Nächste, was er sah ihr Arbeitszimmer, in dem noch immer das Verbandsmaterial auf dem Tisch stand.
Er schob alles zur Seite, als der ältere Priester eine Schriftrolle vor ihm ausbreitete. Kurz überflog er den Text, offensichtlich ging es um einen Händler, der einen Auftrag für sie hatte. Es war alles sehr vage, für den Fall, dass die Nachricht abgefangen wurde. Er verstand nicht ganz, warum das nicht bis morgen hatte warten können, doch die Erklärung dafür kam sofort.
„Auch wenn die Westerosi tatsächlich abziehen, vielleicht kann es nicht schaden, Arya eine Weile aus der Stadt zu schaffen. Ausserdem wird es Zeit, dass sie auch die anderen freien Städte kennenlernt.“ Dem gab es nichts entgegenzusetzen.
„Der zweite Auftrag“, fuhr er fort, „hätte eigentlich schon längst erledigt sein sollen. Es sind schon über drei Jahre vergangen und wir haben noch immer keine Nachricht aus Asshai erhalten.“ Seine Nackenhaare stellten sich auf und sein Blick war wohl nicht ganz so neutral, wie er glaubte.
„Du kennst dich dort besser aus, als jeder andere von uns.“ Sein Blut wurde zu Eis. Aber er blieb still. Konnte nur beten, dass nicht alle ihn so schnell wiedererkannten wie Quaithe es getan hatte. Er wollte Arya da nicht mit hineinziehen. Das Opfer hiess Noridos El-Ostaan, ein Hexenmeister, dessen richtiges Alter niemand kannte, doch hiess es, er sei in Valyria geboren worden, kurz vor dessen Untergang. Doch er kam gar nicht erst dazu, seine Einwände vorzubringen.
„Sie muss lernen mit ihren Fähigkeiten umzugehen. Und welcher Ort wäre dafür besser geeignet als Asshai?“ Wir werden uns in weniger als drei Jahren wiedersehen. Die rote Maske erschien vor seinem geistigen Auge und sein Inneres verkrampfte sich. Warum hatte sie sich nicht dieses eine Mal täuschen können? Ausserdem wusste er, dass der Auftrag hier nur eine untergeordnete Rolle spielte. Der Priester wollte, dass Aryas Kräfte voll ausgebildet waren, damit man sie für Aufträge benutzen konnte. Und von ihm wollte er, dass er sich den Schatten seiner Vergangenheit stellte, anscheinend war seine Abneigung gegen diese Stadt etwas zu offensichtlich gewesen.
„Euer Schiff legt in zwei Tagen ab.“ Damit liess er ihn alleine, mit sich, seinen Gedanken und düsteren Erinnerungen, die weit zurücklagen und zu jemandem gehörten, der eigentlich schon vor Jahren hätte sterben sollen.