Sein Vorschlag die Toten beizusetzen wurde einstimmig angenommen. Jeder von ihnen hatte einen unglaublichen Tatendrang. Unterstützt wurde dieser Tatendrang durch den fehlenden Platz in ihrem Versteck. Es war ein grosses Kellergewölbe ohne Abtrennung, also auch ohne jegliche Art von Privatsphäre. Entsprechend froh waren alle, wenn sie sich draussen in der Stadt herumtreiben konnten. Sie mischten sich unter die Stadtwachen, unter die Hafenarbeiter und sogar unter zwei der wohlhabendsten Familien. Nichts in dieser Stadt geschah, ohne dass sie darüber Bescheid wussten. Um ihren Plan wirkungsvoll umsetzen zu können, brauchten sie jedoch Hilfe aus dem Volk. Nur wäre es verheerend, irgendjemanden im Voraus darüber einzuweihen. Sie brauchten einen Unruhestifter der mit Hilfe der Rebellen Hestins Söldner ablenkte. Ihm fiel schnell eine Person ein, die dafür bestens geeignet war.
Er fand Arya in der hintersten Ecke des Unterschlupfs, wie sie sich über ein Buch beugte.
«Ein Mann hat einen Auftrag für ein Mädchen.» Ihm war durchaus bewusst, dass sie nach wie vor wütend war und sie liess auch keine Gelegenheit aus um ihm das deutlich zu machen, aber der Gedanke an einen Auftrag war offenbar zu verlockend um die grimmige Fassade länger aufrecht zu erhalten.
«Worum geht es?»
«Um ein Ablenkungsmanöver. Ein Mädchen muss einen Aufruhr verursachen. Je grösser, desto besser.» Ein unheilverkündendes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht.
«Ich glaube, das bekomme ich hin. Aber es wird nicht ohne Blutvergiessen gehen.»
«Das ist einem Mann bewusst. Wichtig ist nur, dass es Hestins Leute sind, die mit dem Aufruhr beginnen. Und ein Mädchen darf nicht als Gesichtslose erkannt werden.»
«Nichts leichter als das.» Sie erhob sich sofort und klappte das Buch zu. Er erkannte den Titel, es handelte vom Jahrhundert des Blutes. So lange würde dieser Krieg hoffentlich nicht andaueren.
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Der morgendliche Nebel löste sich an diesem Tag gar nicht erst auf und liess die Konturen von allem und jedem verschwimmen. Es machte fast den Anschein, als ob, das Wetter ihr Vorhaben unterstützte. Nun gut, etwas Vorbereitung hatte es schon bedurft. Fünf der rund zwanzig Wachen auf dem Platz waren im Verlauf des Vormittags unauffällig durch ihre eigenen Männer ersetzt worden. Genug um die restlichen fünfzehn in Schach zu halten und doch so wenige, dass es nicht weiter auffiel. Das hier war kein gewöhnlicher Auftrag, bei dem sie sich lange vorbereitet hatten. Es war vieles improvisiert, doch länger konnten sie nicht untätig bleiben.
In die Stille des Nachmittags begannen sich vereinzelte Rufe zu mischen, Beschimpfungen wurden ausgetauscht und hin und wieder war das Klirren von Metall auf Metall zu hören. Arya machte ihre Arbeit wirklich gut. Vier der Wachen und die wenigen anderen Leute verliessen den Platz um zu sehen, was da draussen vor sich ging. Nun gab er das Zeichen und fast zwanzig Gesichtslose lösten sich aus dem Nebel. Nacheinander schnitten sie die Toten los und hievten sie über die Mauer, welche den Platz umgab. Die einzigen die sie eingeweiht hatten und die nicht aus dem Orden kamen, waren ein paar Händler, die schon seit Jahren gute Geschäfte mit ihnen machten. Sie hatten sich sofort bereiterklärt, Wagen und Pferde zur Verfügung zu stellen. Dass all dies so reibungslos verlief bedeutete, dass keiner sie verraten hatte.
Die Hälfte der Leichen hatten sie auf diesem Wege bereits hinüber gehievt, als die Wachen wieder auf den Platz zurückkamen. Sie hatten keine Chance, riefen aber noch um Hilfe ehe sie starben. Im Tumult der herrschte, gingen diese Hilferufe jedoch völlig unter.
Erst als sie die letzte Leiche losschnitten, stürmten weitere Wachen den Platz. Auch wenn er sich sehr gerne die Zeit dazu genommen hätte, ihre Reaktion zu beobachten… Jede Art von Vorsprung die sie haben konnten war wertvoll und jeder Moment äusserst kostbar. Also schwang auch er sich über die Mauer und half dabei die Wagen mit Planen zu bedecken.
Ihre Glückssträhne endete in dem Moment, als sich die drei Wagen in Bewegung setzten. Trotz ihrer Abwehr drängten sich nun die ersten Söldner hinter ihnen in die Gasse. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Flucht nach vorne anzutreten. Je zwei von ihnen schwangen sich auf den Kutschbock, einer zum Fahren, der andere um den Wagen zu verteidigen. Die restlichen Gesichtslosen blieben zurück um ihnen Deckung zu geben.
Da die Gasse recht eng war, gelang es ihnen die wenigen Soldaten vor ihnen über den Haufen zu fahren und auf den direktesten Weg zum Hafen einzubiegen. Auf ihrem Weg kamen sie am Aufstand vorbei, mittlerweile waren es sicher über hundert Leute, die sich der immer grösser werdenden Zahl an Soldaten und Wachen, die sich der Bevölkerung entgegenstellten. Wobei... Er glaubte zu sehen, dass einige der Wachen auf der Seite des Volkes kämpften. Sicher war er sich nicht, dafür waren sie zu schnell an der Menge vorbeigerauscht.
Am Hafen war schon alles vorbereitet. Elf kleine Holzboote lagen fein säuberlich nebeneinander angebunden, auf jedes davon wurden zwei der Toten gelegt, die sofort mit reinem Alkohol übergossen wurden. Fast zeitgleich wurden die Taue gelöst und sobald die Boote sich ein Stück vom Ufer entfernt hatten, wurden sie mit Brandpfeilen entzündet. Diese Art der Bestattung war in den freien Städten zwar nicht sehr weit verbreitet, aber es war besser als gar kein Begräbnis.
Er nahm sich noch einen Moment Zeit um die brennenden Boote dabei zu beobachten, wie sie vom dichten Nebel verschluckt wurden. Hinter ihnen wurden die Rufe immer lauter. Ihm war es ein Rätsel, wie Arya und die Rebellen die Wachen überhaupt so lange hatten in Schach halten können.
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Mit einem klaren Auftrag vor sich war Arya wieder völlig in ihrem Element. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde, war in der Umsetzung aber völlig frei. Sie hatte jedenfalls nicht vor, einfach in die Menge zu stehen und mit Steinen zu werfen. Sie hatte vor einigen Wochen eine Entdeckung gemacht. Normalerweise schenkte sie den Gesichtern der einzelnen Wachen nicht besonders viel Aufmerksamkeit, eher ihren Worten. Zwischen all den Männern hatte sie aber auch eine Frau entdeckt und diese unschwer als Nìna wiedererkannt. Dasselbe Mädchen, mit dem sie damals in der Stadtwache Stiefel geputzt und Botschaften überbracht hatte.
Leider konnte sie das Gesicht von Faye nicht mehr benutzen. Zum einen war sie sich nicht mal sicher, ob das Gesicht bei der Flucht aus dem Tempel hatte gerettet werden können, zum anderen wurden die Gesichter nicht älter- Arya aber war es geworden. Somit konnte sie zwar keinen direkten Vorteil aus ihrer Bekanntschaft mit Nìna ziehen, glaubte aber, in ihr eine mögliche Verbündete zu finden. So sanftmütig wie sie damals gewesen war, konnte es doch kaum in ihrem Interesse sein, dass Leute, für deren Schutz sie eigentlich da war, verschleppt und verkauft wurden.
Sie musste zwei Tage lange die ganze Stadt absuchen, bis sie Nìna endlich wieder über den Weg lief. Mit ihr ins Gespräch zu kommen war im Gegensatz dazu nicht schwer. Sie beobachtete Nìna den ganzen Tag bei der Arbeit. Am Abend setzte Nìna sich dann alleine an einen Tisch um etwas zu essen, während sich die meisten der anderen Wachen dem Würfelspiel verschrieben. Arya wartete nicht lange, bis sie sich zu ihr gesellte.
«Ist hier noch frei?» Sie bekam ein Nicken als Antwort und setzte sich. Sie bestellte sich einen Becher Wein und wartete sie einige Zeit ab, ehe sie sich verschwörerisch zu Nìna hinüberbeugte.
«Stimmen die Gerüchte, dass Hestin euch durch seine eigenen Leute ersetzt?» Misstrauisch blickte Nìna von ihrem Eintopf hoch.
«Auf der Strasse hört man ganz schön viel Mist.» Die Frage war vielleicht etwas zu direkt gewesen, aber Arya mochte es nach wie vor nicht, um den heissen Brei herumzureden. Sie wollte lieber gleich zur Sache kommen. «Das stimmt, aber meistens ist bei solchen Gerüchten etwas Wahres mit dabei.»
Nìnas Blick war noch immer wachsam, aber auch neugierig. «Was willst du von mir?»
«Wissen, ob es noch jemanden in der Stadt gibt, der sich für die Menschen hier einsetzt. Der neue Seelord tut es ja offensichtlich nicht.» Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und beobachtete Nìnas Reaktion ganz genau. Das Misstrauen nahm wieder zu, aber verärgert wirkte sie nicht.
«Du weisst schon, dass ich dich alleine für deine Worte festnehmen könnte?»
«Schlechte Idee. Du würdest mich nicht zu fassen kriegen.»
«Ganz schön selbstbewusst.» Sie ging nicht darauf ein.
«Und, was ist jetzt? Bist du auf der Seite des Volkes oder des Seelords?» Nìna überlegte reiflich und Arya glaubte schon, ihr Glück überstrapaziert zu haben. Doch dann bekam sie doch noch eine Antwort.
«Ich bin auf der Seite der Person, die mir meinen Lebensunterhalt sichert. Mein Vetter allerdings sieht das etwas anders.» Tekin, erinnerte sie sich. Den hatte sie ja völlig vergessen… Da sie ja schlecht zeigen konnte, dass sie ihn kannte, schwieg sie und wartete ab bis Nìna fortfuhr.
«Er hat bis vor kurzem auch bei der Stadtwache gearbeitet. Nur ist er mit einem von Hestins Männer aneinandergeraten und wurde daraufhin entlassen.» Dann war es nicht weiter verwunderlich, dass er kein grosser Freund von Hestin und all den Söldnern war, welche dieser in die Stadt geholt hatte.
«Und wie finde ich deinen Vetter?» Nun wirkte sie etwas peinlich berührt.
«Im Hafen der Glückseligkeit. Ich befürchte langsam er verhurt noch sein ganzes Geld.»
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Sie lungerte fast die ganze Nacht in der Nähe des Bordells herum. Aber auch hier zahlte sich ihre Hartnäckigkeit aus. Auch wenn sie ihn fast nicht erkannt hätte, aus dem schlaksigen Jungen von damals war ein muskulöser junger Mann geworden. Der hätte es jedenfalls nicht nötig, sich in einem Bordell Frauen zu suchen, schoss es ihr durch den Kopf. Von den Schwärmereien anderer Mädchen hatte sie zwar nie viel gehalten, aber sie wusste, wie ein attraktiver Mann aussah.
Fast beiläufig gesellte sich neben ihn, er musterte sie kurz, beachtete sie aber nicht weiter. «Ich habe gehört, du hast etwas gegen unseren neuen Seelord?» Nun beachtete er sie sehr wohl und blieb sogar stehen. Sie tat es ihm gleich. «Wer erzählt das?» Seine Gegenfrage war berechtigt. Zum Glück hatte sie bereits damit gerechnet. Wäre er so dumm jedem gegenüber zuzugeben, dass er mit den Rebellen sympathisierte, wäre er wohl kaum noch am Leben.
«Die Leute reden. Deswegen solltest du in Zukunft vorsichtiger sein, wem du was erzählst.» Das war einfach nur geraten, aber offenbar hatte sie damit genau ins Schwarze getroffen. Nun wo er ihr schon mal zuhörte, machte sie gleich weiter.
«Man erzählt sich, du hast Freunde bei der Stadtwache. Manche von ihnen haben sicher auch ihre Stelle verloren, genau wie du. Ich könnte die Hilfe von diesen Freunden und dir gebrauchen.» Er war ebenso leicht zu lesen wie seine Cousine. Natürlich mistraute er ihr, einer Fremden, die ihn einfach so mitten in der Nacht ansprach. Aber sie sah auch den Ehrgeiz und den Wunsch, etwas zu verändern. Doch das Misstrauen war offensichtlich grösser.
«Nimm es mir nicht übel, aber ich kenne nur sehr wenige Frauen, die etwas fürs Kämpfen übrighaben. Wenn es dir darum geht, dass die Strassen sicherer sind, würde ich dir vorschlagen dich tagsüber darin zu bewegen und nicht mitten in der Nacht.» Das Grinsen, welches er aufgesetzt hatte verschwand als sie ihm das Knie zwischen die Beine rammte, ihn auf den Boden schubste und sich in aller Seelenruhe auf seinen Rücken setzte.
«Ich danke dir für deine mitfühlenden Worte, aber ich kann mich ganz gut verteidigen. Ihr sollt mir nur dabei helfen diese Idioten etwas aufzumischen. Und ich will nicht dabei erwischt werden um neben diesen armen Kreaturen auf dem Marktplatz zu hängen. Wenn du und deine Freunde interessiert seid, treffen wir uns morgen hier. Selbe Zeit, selber Ort.» Sie erhob sich, wischte sich den Staub von der Kleidung und wollte Tekin auf dem Boden zurücklassen. Doch der packte ihr Bein und riss sie zu Boden.
«Und warum willst du die Wachen aufmischen?» Sie löste sich aus seinem Griff und erhob sich erneut. Entweder sie hatte ihn nicht richtig getroffen oder er kam mit Schmerz zurecht. Jedenfalls hätte sie nicht erwartet, dass er sich so schnell von dem Tritt erholte.
«Morgen, selbe Zeit, selber Ort.» Mehr sagte sie nicht und diesmal bekam er sie auch nicht mehr zu fassen, bevor sie mit der Dunkelheit verschmolz.
Mit ihrem Auftritt hatte sie viel riskiert, aber offenbar nicht zu viel. Sie war am nächsten Abend früher als verabredet am Treffpunkt, es war gerade erst Nacht geworden. Trotzdem wartete Tekin bereits und zwei seiner Freunde hatte er auch mitgebracht. Sie trat von hinten an die drei heran. «Dann hast du es dir überlegt?» Wie vom Donner gerührt fuhren die drei herum, alle mit gezogenen Schwertern. Die sie allerdings schnell wieder verschwinden liessen. Sie stellte sich innerlich schon darauf ein, mit Fragen gelöchert zu werden. Umso überraschter war sie, als Tekin lediglich zwei stellte- und diese waren ausserordentlich kurz.
«Wann und wo?» Sie lächelte dankbar, was sie gar nicht erst zu spielen brauchte. Die Zeit drängte und sie konnte von Glück reden, dass Nína ihr den Tipp gegeben hatte.
«So bald wie möglich. In der Gasse der Kaufleute.» Sie hatte gründlich überlegt, welcher Ort am passendsten war. Diese Strasse war die einzige, die etwas breiter war und Genug Platz bot um so viele Menschen zu versammeln wie sie es vorhatte.
«Warum ausgerechnet dort?»
«Alle Wachen konzentrieren sich auf den Marktplatz. Also haben wir etwas Vorsprung, wenn wir einen Tumult beginnen.» Diese Erklärung reichte Tekin offenbar, aber sein Blick machte klar, dass er mit ihr noch nicht fertig war. «Ich habe dich hier noch nie zuvor gesehen- und glaub mir, ich kenne viele der Rebellen. Wofür willst du dein Leben aufs Spiel setzen?»
«Rache», antwortete sie wahrheitsgemäss. Natürlich sollte es in erster Linie als Rückendeckung dienen, aber ein Akt der Rache war es dennoch. «Vier der gehängten Rebellen auf dem Marktplatz waren meine Freunde.» Dieses Argument reichte den drei Rebellen offensichtlich. Sie einigten sich darauf, wie sie den Tumult am einfachsten begannen. Tekin kannte noch über ein Dutzend weitere Männer, die aus der Stadtwache entlassen worden waren. Die meisten von ihnen besassen noch die alte Uniform, was dabei helfen dürfte, Verwirrung zu stiften. Garren und Vyro, wie sich Tekins Freunde vorgestellt hatten, erklärten sich sofort bereit, dabei zu helfen.
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Kurz nach dem Mittag, genauer gesagt nach der zweiten Wachablösung, trafen sie sich am vereinbarten Punkt. Vyro und Tekin trugen Uniformen der Stadtwache, während Garren sich noch versteckt hielt und auf seinen Einsatz wartete.
«Nur nicht zimperlich sein», erinnerte sie die beiden. Tekin lächelte böse. «Keine Sorge, das werde ich nicht.» Er war sicherlich etwas nachtragend wegen dem Tritt, den sie ihm zwei Abende zuvor verpasst hatte. Ihr war das nur recht, dann wirkte es um einiges authentischer.
Vyro packte sie an den Haaren. «Was hast du da eben gesagt?!»
«Dass ihr ein Haufen nutzloser Bastarde seid!» Sie schrie es so laut heraus, dass die umliegenden Leute es hören mussten. Obwohl sie mit Tekins Fausthieb gerechnet hatte, musste sie ihm zugestehen, dass er durchaus Kraft in den Armen besass. Ohne Vyros festen Griff wäre sie definitiv auf dem Boden gelandet. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund und spuckte es Tekin auf die Uniform. Nun schnellte Garren aus seinem Versteck hervor. Sie hatte die Wachen zwar provoziert, aber es war Tekin gewesen, der den ersten Schlag ausgeteilt hatte. Mit einem wilden Kampfschrei stürzte sich Garren von hinten auf Tekin und rang ihn zu Boden. Dabei glaubte sie den Anflug eines Grinsens auf seinem Gesicht zu sehen. Hoffentlich war er sich bewusst, dass es sich hierbei nicht um eine gewöhnliche Rauferei handelte.
Weitere von Tekins Freunden, die nur auf dieses Zeichen gewartet hatten, eilten zu der Rauferei hinzu und mit ihnen auch ein paar von Hestins Männern. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich ein wahres Knäuel an Menschen gebildet. Neben den Rebellen, Wachen und Söldnern gab es jetzt auch immer mehr Leute aus dem normalen Volk, die sich einmischten. Es wurde mit Schwertern gekämpft, mit Messern, Werkzeugen und Steinen. Wer nichts davon zur Verfügung hatte, kämpfte mit Händen und Zähnen. Damit waren sie den anderen zwar Unterlegen, aber wenn sich zehn unbewaffnete zugleich auf einen bewaffneten Söldner stürzten, hatten auch diese nicht viel entgegenzusetzen. Keiner achtete mehr auch nur im Ansatz darauf, was auf dem Markplatz vor sich ging.
Der Tumult wurde grösser als Arya es sich vorgestellt hatte, was Jaqens Vorhaben nur in die Hände spielte. Es dauerte lange, bis die Wachen begriffen, was da auf dem Marktplatz vor sich ging. Immer mehr Wachen und Söldner versuchten sich aus dem Gewirr zu lösen, doch die Menge hatte Blut geleckt und folgte ihnen.
Unweit des Hafens setzten sie ihren Kampf fort. Es war zu unübersichtlich, weshalb sie erst gar nicht sagen konnte, ob die eigentliche Mission – nämlich die Bestattung der Toten – geglückt war. Erst als sie während des Kampfes an den Rand der Menge gedrängt wurde, erkannte sie die brennenden Boote, die im Nebel verschwanden.
Zufrieden wandte sie sich ihrem nächsten Gegner zu, einem Mitglied der Stadtwache, das aus freien Stücken zu Hestin hielt. Während des Kampfes hatte er sein Schwert wohl verloren, denn er stürzte sich nur mit einem Messer bewaffnet auf sie.
Arya wollte ausweichen, aber es waren zu viele Menschen um sie herum, weshalb sie mit der Schulter gegen einen der Söldner stiess. Der drehte sich natürlich sofort um und sah in ihr ein scheinbar leichtes Opfer. Sie belehrte ihn kurz darauf eines Besseren als sich ein Wurfmesser in seine Kehle bohrte. Sie kämpfte nicht oft damit, da es allzu deutlich machte, dass sie keine gewöhnliche Ausbildung genossen hatte. In diesem Fall war es aber eine gute Möglichkeit, den Söldner loszuwerden, bevor er ihr zu nahe kommen konnte. Dabei machte sie jedoch den entscheidenden Fehler zu wenig auf ihre Deckung zu achten- wie schon damals beim Kampf gegen die Weissen Wanderer. Zu ihrem Glück war es diesmal nur ein tiefer Schnitt im Oberarm. Ärgerlich und schmerzhaft, doch nicht weiter schlimm. Es war derselbe Wachmann, dem sie eben noch erfolgreich ausgewichen war. Mit einem triumphierenden Grinsen wollte er sich auf sie werfen, doch sie liess ihr Schwert nach oben schnellen und in seiner Brust versinken. Mit rasselndem Atmen und schreckensgeweiteten Augen sank er zu Boden.
Mit der Zeit machte sich deutlicher bemerkbar, dass viele der Rebellen keine Kampferfahrung- und somit auch keine Ausdauer hatten. Immer mehr von ihnen fielen den Schwerthiebe der Wachen und Söldner zum Opfer und einige begannen das Heil in der Flucht zu suchen. Ihr Plan war geglückt, daher gab es keinen Grund mehr, weitere Menschenleben zu riskieren.
«Wir müssen weg!», rief sie den verbliebenen Rebellen zu, denjenigen die etwas vom Kämpfen verstanden und zu stur waren um zu fliehen. Unter ihnen war auch Tekin. «Doch nicht jetzt!», rief er. «Es fängt doch gerade erst an, Spass zu-» Sein Satz endete abrupt, als plötzlich eine Schwertspitze aus seinem Oberkörper ragte.
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Erschöpft aber zufrieden liess er sich auf einen Stuhl sinken. Die Toten hatten eine würdige Bestattung erhalten und Hestin war es nicht gelungen, das zu verhindern. Es war Jaqen ein Rätsel, wie Arya es geschafft hatte, in nur zwei Tagen eine Revolte auf die Beine zu stellen. Doch eigentlich dürfte es ihn nicht wundern. Genau deshalb hatte er sie ja für diese Aufgabe ausgewählt.
Gerne wäre er noch etwas länger geblieben, aber sie wollten mit dem Aufstand nicht weiter in Verbindung gebracht werden, weshalb sie sich schnell aus dem Geschehen zurückgezogen hatten.
Die Freude über den kleinen Triumph hielt nicht lange. Als sich die Heimatlose ihm gegenüber hinsetzte, verhiess ihr Blick nichts Gutes. Sie hatte nicht an ihrer Aktion teilgenommen, sondern war hier geblieben um auf die Rückkehr des Gesichtslosen zu warten, der sich erfolgreich in Hestins Umfeld hatte einschleichen können.
«Gibt es schlechte Neuigkeiten?»
«Genau genommen gibt es gar keine. Er ist nicht zurückgekehrt.» Er braucht einen Moment, bis er wusste, von wem die Priesterin sprach. Der Gesichtslose, der sich schon seit einigen Wochen unter Hestins Leuten bewegte und sie rechtzeitig vor dem Angriff auf den Tempel gewarnt hatte. Er versuchte, nicht gleich vom Schlimmsten auszugehen. «Vielleicht wurde er durch die Unruhen in der Stadt aufgehalten.» Sie wussten beide, dass es nicht so war. Aber es wäre eine angenehmere Erklärung als alles andere. Falls er tatsächlich aufgeflogen war, wurde er in diesem Moment sicherlich bis auf Blut gefoltert. Es sei denn, es war ihm vorher gelungen, das Gift zu schlucken. Die dritte Möglichkeit, dass er sie verraten hatte, war so gut wie unmöglich. Aber es durfte nicht ganz ausser Acht gelassen werden. So oder so musste jemand nachsehen, welche von den drei Möglichkeiten zutraf. Er hoffte die zweite. Dann hätte er wenigstens ein schnelles und vergleichsweise schmerzloses Ende.
«Hör zu. Ich weiss, ich verlange sehr viel von dir und ich wünschte es gäbe einen anderen Weg. Aber ich bin davon überzeugt, dass Hestin mit unserem Erscheinen rechnet. Nicht mal eine Maus könnte im Moment in diesen Palast eindringen, ohne dass er es mitbekommt.» Da mochte sie Recht haben. Hestin musste klar sein, dass sie nicht tatenlos bleiben konnten, wenn die Möglichkeit bestand, dass einer von ihnen Informationen preisgab.
«Ein Mann kann sich auch nicht unauffälliger machen als eine Maus.»
«In den Augen anderer kannst du das.» Ihm wurde klar, worauf sie hinauswollte. Sofort versteifte sich seine Haltung.
«Ein Mann hat diese Fähigkeit schon seit Jahren nicht mehr eingesetzt und sie funktioniert nur bei einer Person, nicht bei einem ganzen Haufen.»
«Aber ein panischer Wachmann kann schon ein ziemliches Chaos anrichten, meinst du nicht?» Er schwieg. Sehr zu seinem Missfallen hatte sie Recht. Ausserdem mussten sie bald handeln. Wenn er wirklich gefoltert wurde, war es nicht auszuschliessen, dass er Dinge preisgab, die ihnen gefährlich werden konnten. Den Ort ihres Verstecks beispielsweise.
«In Ordnung. Aber ein Mann braucht Hilfe.» Er fand schnell zwei Freiwillige, die ihm dabei halfen. Alle anderen packten das wenige, was sie aus dem Tempel hatten retten können wieder zusammen um fliehen zu können, falls dies wirklich erforderlich war.
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Sie hatten immer einige Uniformen der Stadtwache vorrätig, diese waren schon in so mancher Situation nützlich gewesen. Natürlich war es etwas riskanter, weil ihnen diesmal nicht die Zeit blieb, die Identität der richtigen Wachen zu stehlen. Es gefiel ihm nicht, dass so viel improvisiert war. Doch mit jedem Moment der Verstrich stieg das Risiko verraten zu werden – absichtlich oder nicht.
Die Strassen waren wie leergefegt, nicht ein einziger Händler oder Fuhrmann begegnete ihnen auf ihrem Weg zum Palast. Wahrscheinlich hatten alle zu viel Angst, fälschlicherweise für Rebellen gehalten zu werden. Stattdessen suchten sie den Schutz ihrer Häuser, bis sich die Situation wieder etwas beruhigt hatte.
Für den heutigen Auftrag trugen seine Begleiter die Namen Baerrel und Ennar. Er selbst nahm wieder die von ihm häufig genutzte Identität als Jaqen H’ghar an. Zwei Wachen mit einem Gefangenen fielen dort sicherlich weniger auf als drei fremde Wachen ohne bestimmten Auftrag. Es war zwar nicht sicher, ob sie den Gesichtslosen hier gefangen hielten, aber Zeit um das auf andere Weise herauszufinden blieb ihnen nicht. Tatsächlich wurden ihnen neugierige Blicke zugeworfen, doch die Wachen am Eingangsportal des Palastes liessen sie eintreten. Schnell setzten sie ihren Weg fort, auch wenn sie einmal die falsche Abzweigung nahmen und wieder umkehren mussten.
Erst die Wachen direkt vor dem Kerker zeigten Misstrauen und zückten ihre Schwerter.
Jaqens Begleiter spielten ihre Rolle allerdings ausgesprochen glaubhaft. «Wir haben die Anweisung, den hier in den Kerker zu bringen.» Ennar wirkte so selbstbewusst wie ein Hauptmann und die Wachen entspannten sich wieder etwas.
«Na schön, dann packt ihn in die Zelle nebenan und verschwindet. Die hier ist besetzt.» Wie um die Worte zu unterstreichen erklang in diesem Moment ein Schrei der Jaqen die Nackenhaare zu Berge stehen liess. Die Wachen grinsten. «Gewöhn dich lieber an das Geräusch, das könnte noch eine Weile dauern», meinte einer von ihnen.
Das Grinsen verging ihm allerdings, als Jaqen hervorschnellte und ihm mit der Faust gegen den Kehlkopf schlug. Die Luftröhre wurde nun völlig vom nach hinten gedrückten Kehlkopf verschlossen und innerhalb kürzester Zeit begannen die Lippen seines Opfers blau anzulaufen. Während der Wachmann die letzten Momente seines Lebens zuckend am Boden verbrachte, schnappte sich Jaqen seine Schlüssel. In der Zwischenzeit hatte sich Baerrel um die zweite Wache gekümmert.
So lautlos wie möglich öffneten sie die nun unbewachte Tür und waren angenehm überrascht, bloss zwei Personen darin vorzufinden- den Gefangenen und dessen Peiniger. Letzterer versuchte zwar noch sich zu wehren, wurde aber ebenso schnell und lautlos überwältigt wie die beiden Wachen zuvor.
Sofort knieten sie sich zu zweit neben den Verletzten, während der Baerrel die Leichen der beiden Wachen in den Kerker schleifte und sich anschliessend vor der Tür positionierte.
Die Kleidung hing dem Gefangenen nur noch in Fetzen am Körper. Unter all dem Blut war kaum noch ein Fleck saubere Haut zu erkennen. Ausserdem hatte man ihn mit schweren Eisenfesseln an die Wand gekettet.
Er lebte noch, war aber nicht bei Bewusstsein. Erst als sie ihm eine Ohrfeige verpassten, begann er sich zu regen. Es dauerte jedoch eine Weile bis er erkannte, wen er da vor sich hatte.
«Es t-tut mir leid. I-ihr müsst s-sofort hier weg.» Jaqen machte sich an der ersten Handfessel zu schaffen, es dauerte etwas, bis er den richtigen Schlüssel gefunden hatte. Das Reden überliess er Ennar.
«Solange keine Wachablösung kommt sind wir sicher. Glaubst du, du kannst aufstehen?»
«Nein. Sie haben meine Achillessehnen durchgeschnitten, ausserdem…» Seine Antwort ging in einem röchelnden Hustenanfall unter und Blut sickerte aus seinem Mund. Jaqen tastete nach den Rippen des Verletzten. Die meisten waren gebrochen, eine davon hatte vermutlich den Weg in die Lunge gefunden. Ihn so aus dem Palast zu schaffen war zwecklos, er wäre tot, bevor sie das Versteck erreichten. «Hast du ihnen irgendetwas verraten?»
«N-Nein…» Er rang nach Atem. Sein gequälter Blick machte deutlich, dass er wusste, wie es um ihn stand. «Bevor sie mich geschnappt haben, konnte ich ein Gespräch mithören.» Seine Worte kamen undeutlich, Blut begann seine Lungen zu füllen. «Er versucht sich die Unterstützung aller Sklavenstädte zu sichern, aber…» Wieder gingen seine Worte in einem Hustenreiz unter. «Aber Myr und Lys wiedersetzen sich…» So sehr er auch um Atem rang, er bekam ihn nicht mehr. Das Blut hatte alle Luft in seiner Lunge verdrängt. Es war Ennar, der das Leiden schliesslich beendete.
Ihnen blieb nicht mal die Zeit, die Augen des Toten zu schliessen, da wurden draussen Schritte laut. «Da ist einer. Ich habe euch doch gesagt, den habe ich hier noch nie gesehen. Seine Begleiter müssen hier auch noch irgendwo sein.» Schlau, dachte Jaqen. Anstatt sie gleich oben anzugreifen, mussten die Wachen sich erst Unterstützung gesucht haben, um sie hier unten in die Ecke zu drängen. Sie mussten verschwinden- und zwar schnell.
Die Tür zum Korridor war einen Spalt breit geöffnet. Er näherte sich der Tür nur so weit, bis er den Wachtrupp erkannte, der direkt vor Baerrel halt gemacht hatte. Auf die Schnelle zählte er fünf Männer, es konnten aber auch mehr sein. Er konzentrierte sich auf einen von ihnen und stellte sich vor, wie die Wachen zu scheusslichen Gestalten mutierten, nicht unähnlich den Weissen Wanderern in Westeros, nur um einiges grösser und mit den gefletschten Zähnen eines Raubtiers.
Der Soldat schrie und wie erhofft begann er nur kurz darauf wie im Wahn mit dem Schwert um sich zu schlagen. Während die meisten der Männer also damit beschäftigt waren, ihren wildgewordenen Freund unter Kontrolle zu bringen, stiess Jaqen die Tür auf und sie rannten los. Sobald er den Blickkontakt zu seinem Opfer verloren hatte, verschwand auch die Illusion und die Wachen fingen sich schnell.
Sie waren schon auf dem halben Weg die Treppe hinauf, als ein Ruck durch Jaqens Körper fuhr. Er geriet ins Stolpern, fing sich aber rechtzeitig wieder und rannte weiter. Er wusste nicht, was es gewesen war, das seinen Rücken getroffen hatte, aber er spürte das warme Blut, das seine Kleidung durchtränkte. Das Tempo mit dem sie rannten konnte er nur deshalb aufrechterhalten, weil der menschliche Körper einen erstaunlichen Selbsterhaltungstrieb besass. Derselbe Selbsterhaltungstrieb war es auch, der den Schmerz vorerst noch als Nebensächlichkeit bei Seite schob. Ohne weiter darüber nachzudenken folgte er Baerrel, der die Führung übernommen hatte. Wissend, dass der Eingang zum Palast nun sicherlich geschlossen war, hatte er stattdessen ein Fenster gesucht und nun auch gefunden. Jaqen folgte ihm ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sich unter ihnen nun Felsen oder Wasser befand.
Der Sturz dauerte nicht lange und beim Aufprall erwies sich der Untergrund glücklicherweise als Wasser. Während die Kälte für den Grossteil seines Körpers eine wahre Wohltat war, liess ihn das Salz im Meereswasser vor Schmerz schreien. Der Schmerz verdrängte sein ganzes Denken. Für einen Moment konnte er nicht sagen, was oben und was unten war. Er spürte jedoch, als er von zwei Händen gepackt weitergezerrt wurde. Irgendwann spürte er wieder festen Boden unter sich und schnappte zitternd nach Luft. Die Atemgeräusche hallten von Wänden zurück. Für den Moment hatte er aber nicht die Kraft sich Gedanken darüber zu machen, wo genau er sich befand.
«Diese verdammte Aktion war ein riesiger Fehler», stiess Baerrel hervor. Dem konnte er nicht widersprechen. Er wartete auf eine Erwiderung von Ennar, die aber nicht kam.
«Wo ist…»
«Tot. Sie haben ihn geschnappt, kurz bevor wir gesprungen sind.» Jaqen kämpfte sich auf die Knie und sah sich um. Sie befanden sich am Eingang eines unterirdischen Kanals. So wie es hier unten roch war es eher ein Abwasserkanal.
«Er hatte weniger Glück als du», fügte Baerrel hinzu.
Jaqen wollte nach seinem Rücken tasten, doch jede Bewegung liess ihn zusammenzucken. «Wie schlimm ist es?», fragte er.
«Die Wunde muss versorgt werden und das schnell. Aber in deinem Zustand kommst du hier nicht raus. Wir müssten ein Stück weiterschwimmen und am Brückenpfeiler hochklettern.» Das konnte er nicht und Baerrel sah das offenbar ebenso.
«Halte dich versteckt. Ich lenke die Wachen ab und hole Hilfe.» Jaqen nickte bloss. Was hätte er auch anderes tun können?