Beim ersten Licht des Tages machte er sich bereit. Geschlafen hatte er keine Sekunde. Doch mitten in der Nacht an die Tür zu klopfen hätte ihm nichts als Misstrauen eingebracht, also wartete er diese Stunden ab, so zäh sie auch dahingestrichen waren. Immer wieder mit der Frage im Kopf, ob er seinen Kameraden hätte retten können. Ob er nicht hätte misstrauisch werden müssen. In dieser Nacht war er auf keine Antwort gekommen und in den folgenden würde er das wohl genauso wenig.
Während er durch den Tempel schritt, war die einzige lebende Person der er begegnete Arya Stark. Solange sie die letzte Prüfung noch nicht abgelegt hatte, trug sie weiterhin ihren Namen, ganz egal, in wie viele Identitäten sie schon geschlüpft war. Er ging allerdings davon aus, dass dies nicht mehr lange der Fall war. Sie war alleine hier und das am Becken, eine Aufgabe, die eigentlich nur den Priestern oder länger gedienten Gesichtslosen zuteilwurde. Doch die Priester waren sicher zu sehr damit beschäftigt, das weitere Vorgehen zu besprechen und alle anderen irgendwo in der Stadt verteilt. Oder es war ein weiterer Test.
Sie musterte ihn ebenso genau wie er sie und machte keinen Hehl daraus. «Ich kenne dieses Gesicht, weiss aber nicht, woher.» Kluge Wortwahl, denn es war nicht mehr als ein Gesicht und ein Name der dazugehörte. Der Mensch, zu dem beides einst gehörte, war schon seit Jahren tot. Spielschulden bei den falschen Leuten...
«Du kennst das Gesicht aus Lorath», entgegnete er und tat ihr den Gefallen, sie von ihrer Grüblerei zu erlösen. In der Tat sah er fast sofort, dass sie ihn nun zweifelsfrei erkannte.
«Yazem, der Fischer?! Dann haben sie mir also doch einen Aufpasser auf den Hals gehetzt.» Er schnaubte. «Geschadet hat es jedenfalls nicht. Wenn ich mich recht erinnere, waren dir am Ende ein gutes Dutzend Wachen auf den Fersen.» Ihr finsterer Blick zeigte, dass auch sie sich noch bestens daran erinnern konnte. Allerdings war er nicht nur ihretwegen dort gewesen. Es hatte lediglich dazu geführt, dass er etwas länger geblieben war als vorgesehen.
Zwischen diesem Wortwechsel und dem erreichen seines Ziels lag nur eine kurze Zeitspanne. Die Mauern des Hauses waren so heruntergekommen wie vom Jungen beschrieben. An manchen Stellen bröckelte das Mauerwerk und auf das Dach würde er niemals klettern, aus Angst davor, in einem der dürftig geflickten Löcher zu treten. Kurz entschlossen klopfte er an die Holztür.
Eine Frau öffnete. Ihr Blondes Haar war durchzogen von weissen Strähnen, der Blick ihrer Augen wirkte um Jahre älter als es ihr Körper war. Sie waren geschwollen, sehr wahrscheinlich von Tränen. «Was wollt Ihr?» Ihre ganze Körperhaltung machte deutlich, dass sie von Fremden nichts als Ärger erwartete.
«Eine Nachricht überbringen. Kann ich kurz hereinkommen?» Es war zwar nicht wahrscheinlich, dass genau in diesem Moment Wachen von Hestin patrouillierten, doch war es ihm lieber, die Angelegenheit nicht hier zu besprechen.
«Nein. Entweder Ihr sagt jetzt, was ihr zu sagen habt, oder Ihr geht.» Seufzend gab er sich geschlagen und warf noch einen letzten Blick nach rechts und links. Keine Menschenseele war zu entdecken. «Es geht um Euren Sohn.» Wortlos versuchte die Frau die Tür zuzuschlagen, doch da er schon fast mit einer solchen Reaktion gerechnet hatte, stellte er seinen Fuss dazwischen. «Ich soll von ihm ausrichten, dass er Euch nicht im Stich lassen wollte.» Der Druck gegen seinen Fuss wurde stärker, doch er hielt ihm stand und hielt einen kleinen aber prall gefüllten Beutel durch den offenen Türschlitz. «Egal wo er das Geld her hatte… Ich will es nicht.» Ihr Gesicht konnte er hinter der Tür nicht mehr sehen, doch ihre Stimme klang tränenerstickt.
«Es ist kein gestohlenes Geld. Er hat mir bei etwas geholfen und es scheint mir nur recht, dass Ihr das Geld dafür erhaltet.» Er hielt die Hand noch ausgestreckt und zog langsam den Fuss zurück. Doch den Beutel nahm sie nicht entgegen.
«Geht. Wir wollen es nicht.» Als er erkannte, dass sie es nicht nehmen würde, selbst wenn er den ganzen Tag so verbrachte, zog er die Hand zurück. Sofort knallte die Tür vor seiner Nase zu. Er ärgerte sich. Über diese Frau, die Geld ablehnte, welches die Familie offensichtlich mehr als dringend brauchen konnte. Über sich selbst, der sich zu solch einem Versprechen hatte hinreissen lassen. Er war offenbar nur dazu geschaffen um zu töten, nicht um zu helfen. Am allermeisten bedrückte ihn jedoch der Gedanke, dass diese Frau jegliches Vertrauen in ihren Sohn verloren hatte – obschon dieser nichts getan hatte ausser zu versuchen, seine Familie zu retten.
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Vielleicht war es den Ereignissen der letzten Tage geschuldet, doch Arya kam es so vor, als sei die Stimmung in der Stadt gedrückter als gewöhnlich. Die Menschen auf den Strassen waren ruhiger, um nicht zu sagen vorsichtiger. Den Leuten konnte nicht entgangen sein, dass Menschen verschwanden.
Sie warf einen Blick auf die Liste, welche die Heimatlose ihr mitgegeben hatte. Baldrian und Kamille waren da noch am einfachsten zu beschaffen, den Rest der Pflanzen würde sie wohl kaum auf dem Markt finden. Aber mittlerweile wusste sie ganz genau, welche Händler sie zu fragen brauchte.
Plötzlich spürte sie ein Gewicht am Bein. Schnell erkannte sie, dessen Ursprung. «Maro!» Mit einem entschuldigen Blick kam Brea auf sie zugehastet. «Tut mir leid Katz, der Junge ist flinker als ein Aal. Übrigens kenne ich ihn sonst gar nicht so anhänglich.» Arya schüttelte nur lächelnd den Kopf. «Das macht doch nichts.» Ihr fiel gerade ein, dass sie die Muschel noch immer bei sich trug. Sie musste das Ding unbedingt bei der nächsten Gelegenheit loswerden.
«Komm weiter Maro, ich muss zur Arbeit.» Brea wirkte um einiges gestresster als bei ihrer letzten Begegnung. Die tiefen Augenringe zeugten davon, dass sie nicht besonders viel Schlaf bekam und auch Maros Kleidung war schmutziger als beim letzten Mal.
«Ist alles in Ordnung?» Eine dumme Frage. Wie sollte in einer Stadt, in der Menschen versklavt wurden schon etwas in Ordnung sein?
«Ja, es…» Sie schluckte und brach dann in Tränen aus. Arya hätte die Frage sicherlich nicht gestellt, wenn sie gewusst hätte, wie Breas Reaktion ausfiel. Aber der Schaden war nun schon angerichtet, also versuchte sie das beste aus der Situation zu machen. Feingefühl war noch nie eine ihrer Stärken gewesen. «Was ist denn passiert?» Brea fummelte unruhig am rechten Ärmel ihres Kleides, das Thema war ihr eindeutig unangenehm.
«D-Der Mann meiner Schwester… Ich… Kann nicht darüber sprechen.»
«Er wurde für irgendetwas festgenommen, das er nicht getan hat, stimmt's?» Brea warf ihr einen Blick zu, als wäre sie eine Hexe, die Gedanken lesen konnte. Wobei das bis vor ein paar Monaten sogar mehr oder minder zutreffend gewesen war.
«Talea… Sie verkraftet das einfach nicht. Seit er weg ist liegt sie nur im Bett, ich kann nicht mal Maro bei ihr lassen.» Dazu fielen ihr wirklich keine tröstenden Worte ein, nicht mal eine Lüge. Was solle sie schon sagen? Dass er sicher bald wieder freigelassen wurde? Das würde nicht mal Brea ihr glauben.
«Du bist stärker als du denkst, Brea. Ihr werdet das schaffen.»
«Ich fürchte nicht. Trotzdem danke.» Auch wenn sie ihr kein besonderer Trost war, beruhigte Brea sich mit der Zeit. Maro stand noch immer neben ihnen, hatte vom Gefühlsausbruch seiner Mutter aber wenig mitbekommen. Sein Blick war fest auf einen Verkaufsstand hinter ihnen gerichtet. Arya folgte seinem sehnsüchtigen Blick zu den Backwaren. Küchlein aller Art waren aufgestapelt und verbreiteten einen Geruch, der selbst Arya das Mund im Wasser zusammenlaufen liess. Wie sollte es da dem Kleinen schon gehen? «Welche magst du denn am liebsten?»
«Alle.» Während Brea nur peinlich berührt wirkte, musste Arya bloss schmunzeln. Am Ende kaufte sie ihm drei davon, allerdings mit der strickten Anweisung, nicht alle auf einmal zu essen, weil er davon nur Bauchschmerzen bekommen würde. Sie war sich fast sicher, dass er es trotzdem tun würde, sobald sie ihm den Rücken zuwendete.
Egal welchen Wegen sie folgte, das Bild war überall dasselbe. Verunsicherte Menschen, Spannung in der Luft. Während manche das Geschehen einfach so hinnahmen und versuchten, nur möglichst nicht aufzufallen, erkannte sie in den Augen vieler den Widerstand. Arya hoffte nur, dass er gut genug organisiert sein würde, um überhaupt eine Chance zu haben.
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Vorsichtig streute er Sand auf das Schriftstück um die überflüssige Tinte aufzusaugen. Anschliessend faltete er es zusammen und versiegelte es mit rotem Wachs. Sorgen, dass die Nachricht von einer fremden Person entziffert werden könnte, hatte er nicht. Schon seit Jahrhunderten verwendete der Orden diese Art von Verschlüsselung für wichtige Mitteilungen und entschlüsselt worden war sie bisher noch nie.
Achtundzwanzig identische Schriftstücke lagen nun säuberlich aufgereiht nebeneinander und würden mittels Boten in die verschiedensten Ecken von Essos verteilt werden. Wie lange es dauerte, bis alle ihr Ziel erreichten, war ungewiss. Ebenso ungewiss wie die nächsten Schritte des Seelords. Noch arbeitete er mehr oder minder im Verborgenen, doch früher oder später würde er neue Gesetze erlassen und versuchen Braavos offiziell zu einer Sklavenstadt zu machen. Alleine der Gedanke daran bereitete ihm Übelkeit.
Als er mit den Briefen fertig war, gab er sie einem der Gesichtslosen. Gerne hätte er selbst die Briefe an den Hafen gebracht, doch zum jetzigen Zeitpunkt war das nicht möglich. Seine Bestrafung dauerte zwar erst wenige Tage an, doch schon jetzt war er es leid. Im Tempel eingesperrt zu sein war für ihn um einiges schlimmer als der Käfig, welchen er sich mit Beisser und Rorge hatte teilen müssen. Denn damals hatte er mehr Tageslicht gesehen.
Anstatt sich an einer Tatsache zu ärgern, an der es im Moment ohnehin nichts zu ändern gab, vertrieb er sich die Zeit damit, die jüngeren Akolythen auszubilden. Arya war beim Üben früher zwar immer zu forsch gewesen und in ihrem Streben nach schnellen Fortschritten oft zu ungestüm, aber das war immer noch besser, als die Zurückhaltung, welche die neuen Akolythen zeigten. Immer wieder warf er sie auf den Rücken und dabei übte er sich seinerseits ebenfalls in Zurückhaltung, um keinen von ihnen ernsthaft zu verletzen. Doch es brachte alles nichts. Einmal gab er beiden die ausdrückliche Erlaubnis ihn gleichzeitig anzugreifen. Es endete damit, dass die beiden einander fast gegenseitig zu Boden warfen, weil er im letzten Moment einen Ausfallschritt zur Seite machte.
Sie waren beide in vielem anderen sehr geschickt. Der eine im Umgang mit Pflanzen, der andere hatte sich das Lesen und Schreiben in wenigen Wochen angeeignet. In drei verschiedenen Sprachen. Aber langsam war es Zeit, auch in anderer Hinsicht Fortschritte zu machen. Als sie vor lauter Anstrengung kaum noch stehen konnte entliess er sie in ihre täglichen Aufgaben. Arya, welche die letzten Minuten der Übungen schweigend beobachtet hatte, trat zu ihm.
«Du gehst mir aus dem Weg», stellte sie nüchtern fest.
«Ein Mann hat viel zu tun. Und ein Mädchen offensichtlich auch.» Er deutete auf die prall gefüllten Beutel, die sie bei sich trug. «Ja. Für zwei Stunden. Und es hat auch nur so lange gedauert, weil ich mir aus erster Hand anhören durfte, wie Hestin unschuldige Leute verschleppen lässt.» Sie war gereizt. Im Moment war er sich aber nicht sicher, ob sich diese Wut gegen ihn oder die Ungerechtigkeit richtete.
«Übrigens werden wir beobachtet. Auf dem Weg zwischen der Innenstadt und der Insel der Götter ist ein Händler herumgelungert, der kein Händler war.» Überrascht sah er sie an.
«Woran hat ein Mädchen das erkannt?»
«Er wollte mich davon überzeugen, den Tempel zu meiden. Hat allerlei Schreckensgeschichten von schwarzer Magie erzählt. Er hat wohl geglaubt, ich käme hierher um zu beten und ich hielt es für klüger, ihn in dem Glauben zu lassen.»
Er nickte anerkennend. «Das war klug.»
Sie verzog das Gesicht zu einem entschuldigenden Lächeln. «Lob mich lieber nicht zu früh. Als ich den Weg zum Tempel fortgesetzt habe, hat er mich angegriffen. Ich weiss nicht, ob es als Abschreckung für die anderen Menschen dienen Sollte. Jedenfalls treibt seine Leiche jetzt im Kanal.»
Sofort liess er seinen Blick über ihren Körper schweifen. «Wurde ein Mädchen verletzt?»
Misstrauisch beäugte sie ihn. «Ich hätte jetzt eher mit einer anderen Reaktion gerechnet.»
«Ein Mann meint es ernst. Hat ein Mädchen irgendeine Wunde? Selbst wenn sie nur oberflächlich ist…» Sie schüttelte den Kopf. «Nein. Er hatte in keiner Art und Weise damit gerechnet, wer da vor ihm stand. Ich habe ihn mit seinem eigenen Dolch erstochen. Da es mir zu auffällig erschien, seine Leiche zum Tempel zu schleifen oder einfach so liegen zu lassen, habe ich sie in den Kanal geworfen.» Nicht die dümmste Idee, es kam nicht selten vor, dass Leichen in Braavos auf diese Art entsorgt wurden, besonders bei Gewaltverbrechen.
«In Ordnung. Ein Mädchen sollte überprüfen, ob die Leiche wirklich ins Meer gespült wurde.»
«Das werde ich.» Trotzdem machte sie keine Anstalten weg zu gehen. «Was ist los mit dir?» Der Blick ihrer sturmgrauen Augen war durchdringend. Es kostete ihn einiges, ihm standzuhalten.
«Zwei unserer Mitbrüder sind tot. Ein Mann hat viel zu tun.»
«Wenn du nicht darüber reden willst, dann tu` es nicht. Aber versuche nicht, mich anzulügen.» Damit schnappte sie sich ihre Einkäufe und verschwand, er jedoch blieb zurück. Er hatte ihr eindeutig zu viel beigebracht.
Eigentlich hätte ihre Reaktion ihn kalt lassen müssen. Sie hatte kein Recht darauf zu wissen, was in ihm vorging. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er durch ihre Frage eine längst verschlossene Tür wieder öffnete. Schon das Zusammentreffen mit Quaithe und Melisandre hatte ihm gereicht. Nun war er also einmal mehr ein Gefangener, wenn auch nur auf Zeit.
Er verwendete all seine Konzentration darauf, nicht genau das auszugraben, nach dem Arya ihn gefragt hatte, doch ähnlich wie einem Damm der gebrochen war, strömten die Erinnerungen auf ihn ein.
Kalte Nächte, heisse Tage. Schmerzen. Schreie. Manche Leute waren der Meinung, dass es Sklaven, die bereits in der Sklaverei geboren wurden leichter fiel, weil sie ein freies Leben nie gekannt hatten. Für einige mochte das zutreffen, er hingegen hatte es immer gehasst. Hatte seine Meister immer gehasst. Und sie ihn. Deshalb war er, sobald sie erkannten, dass es sinnlos war ihm die Gehorsamkeit einprügeln zu wollen, einfach an den nächsten verkauft worden. So hatten sie wenigstens noch etwas Geld bekommen und sich nicht die Mühe machen müssen, seine Leiche zu entsorgen. Immer weiter östlich war er verkauft worden. Auch wenn er damals natürlich nichts über Geographie wusste, geschweige denn je eine Landkarte gesehen hatte. Irgendwann landete er dann in Asshai…
Entschlossen schob er die Erinnerungen beiseite. Das alles war schon so lange her. Es spielte keine Rolle. Viel besorgniserregender als die Erinnerungsfetzen war, dass es Arya war, die das alles wieder an die Oberfläche brachte, weil sie es nicht lassen konnte, sich um ihn zu sorgen. Er musste sich von ihr distanzieren – und zwar schnell.