Direkt vor dem Haus blieb sie stehen. Ihr Verstand arbeitete, wollte ihr aber auf die Schnelle keine Lösung für ihre momentane Zwickmühle liefern. Zum ersten Mal seit langer Zeit war ihr wirklich zum Weinen zu mute, aber sie wusste, dass sie es nicht zulassen durfte und nicht zulassen wollte. Es war in keiner Art und Weise hilfreich, für solche Sentimentalitäten blieb einfach keine Zeit.
Als erstes, so viel war ihr klar, musste sie Maro in Sicherheit bringen. Ausserdem musste sie Nachschub für den Titan beschaffen. Das durfte sie nicht länger aufschieben.
Sie war sich nicht sicher, ob Sera sich immernoch im Hafen der Glückseligkeit befand, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie sonst mit der Suche beginnen sollte. Hin und wieder sprach sie mit Maro, erhielt aber nie eine Antwort. Zum Glück war er noch so klein und leicht. So konnte sie ihn mit der einen- und ihr Schwert mit der anderen Hand umklammert halten.
Die Kämpfe waren weiter ins Innere der Stadt vorgedrungen. Anfangs gelang es ihr noch, sich dicht an den Häuserwänden entlang zu schleichen, ohne von anderen Leuten bemerkt zu werden. Doch dann sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich ihr eine Gruppe Männer näherte. Uniformen trugen sie keine, wie Söldner sahen sie auch nicht aus. Entweder gehörten sie also zu der Sorte der völlig stumpfen Rebellen, oder es waren einfach Männer, die versuchten aus dem Leid der anderen noch so viel Profit wie möglich für sich selbst heraus zu holen.
Da sie zu viert waren, konnte sie Maro nicht auf dem Arm behalten. Stattdessen setzte sie ihn ab und schob ihn hinter sich an eine Hauswand. Die Männer beachteten ihn sowieso nicht, sie wollten etwas von Arya. Die einen vielleicht Wertsachen, die anderen wohl etwas anderes. Durch die letzten anderthalb Tage war ihr Geduldsfaden ohnehin schon gefährlich dünn, da brauchte es nicht viel, um ihn gänzlich zum reissen zu bringen. «Ich würde das Schwert an deiner Stelle runternehmen», sagte einer von ihnen. «Das ist kein Spielzeu-» Der letzte Buchstaben ging in einem Gurgeln unter, als sie mit dem Schwert seine Lunge durchbohrte. Eigentlich hatte sie sein Herz treffen wollen, aber die Anstrengung der letzten Tage und vielleicht auch die Wut über Breas Tod liessen ihre Hand leicht zittern. Einem der verbliebenen Angreifer wurde es zu viel, er machte kehrt und rannte davon. Die anderen beiden hatten es sich aber offenbar in den Kopf gesetzt ihren Freund zu rächen und stürmten gleichzeitig auf sie zu.
Sie machte einige Schritte von Maro weg, damit er nicht versehentlich in den Kampf hineingeriet. Die beiden Männer folgten ihr und bedrängten sie ihrerseits mit Schwertern. Anfangs konnte sie den Hieben noch mühelos ausweichen. Doch langsam aber sicher ging ihr die Energie aus und das machte sich auch bei der Geschwindigkeit ihrer Bewegungen bemerkbar. Im selben Moment in dem sie einem ihrer Gegner einen tödlichen Hieb gegen den Hals versetzte, durchbrach der verbliebenen ihre Deckung und versetzte ihr eine ziemlich tiefe Wunde am Arm. Um die Chance zu haben sie zu töten, musste er nochmal ausholen und diese kurze Zeit nutzte sie um mit ihm kurzen Prozess zu machen.
Schwer atmend blieb sie stehen, ihre Augen suchten instinktiv die Umgebung nach weiteren Gegnern ab. Doch für den Moment waren Maro und sie wieder für sich alleine. Bevor sie sich um ihren Schützling kümmern konnte, verband sie aber erst ihre Wunde. Der Schnitt war tief, schmerzhaft und blutete heftig, doch Muskel und Sehnen waren offenbar noch ganz. Beziehungsweise nicht so schwer in Mitleidenschaft gezogen, dass sie Angst hatte, den Arm zu verlieren.
Sie ärgerte sich etwas darüber, kein Verbandzeug mitgenommen zu haben. Also musste eben wieder ein Teil ihres Hemdes herhalten. Wenigstens gelang es ihr so, die Blutung einigermassen zu stoppen, aber ihr Schwert konnte sie mit dem linken Arm nun nicht mehr heben. Stattdessen nahm sie es in die rechte Hand und gab Maro die Hand ihres verletzten Armes, die er nach kurzem Zögern auch ergriff. Es gelang ihm gut mit ihr Schritt zu halten. Denn tragen konnte sie ihn nun nicht mehr und es war weitaus wichtiger, ihr Schwert kampfbereit zu halten.
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Ohne auf die überraschten und teils verängstigten Blicke mancher Prostituierten zu achten, hielt sie sofort auf Sera zu. Die war gerade in ein Gespräch vertieft, welche sie aber sofort unterbrach, als sie Arya erblickte.
«Soll ich überhaupt fragen, was passiert ist?» Sie sah zu Maro und zu Aryas Arm. Der Verband hatte sich etwas gelockert und es blutete etwas heftiger.
«Nein, sollst du nicht. Aber die Rebellen brauchen Hilfe beim Titan, uns gehen die Vorräte aus.»
«Ich kümmere mich gleich darum. Aber zuerst sehen wir uns mal diese Wunde an.» Die Art wie sie das sagte machte deutlich, wie wenig sie von Aryas provisorischem Verband hielt.
«Das kann ich selbst, ich brauche nur etwas Anständiges zum Nähen und Verbinden.» Sera seufzte zwar, brachte ihr aber die verlangten Utensilien. Die Stiche die Arya sich selbst setzte waren nicht besonders schön, erfüllten aber ihren Zweck.
Während sie bei der Arbeit war, hatte Sera den Raum verlassen. Für den Moment war es ziemlich still, auch wenn sie natürlich die aufgeregten Frauenstimmen von draussen hören konnte. Ihr war schwindelig und etwas übel. Jetzt wo sie zum ersten Mal etwas zu Atem kommen konnte, spürte sie erst wie sie der letzte Tag und vor allem die letzten Stunden ausgezehrt hatten.
Sera kam zurück. «Es ist alles geregelt, Vorräte sind unterwegs. Du solltest dich erstmal ein paar Stunden ausruhen, bevor du ihnen folgst. So blass wie du bist kippst du mir noch um, wenn du jetzt aufstehst.» Arya schnitt den überstehenden Faden ab und band sich den Arm neu ein.
«Danke für das Angebot, aber ich muss weiter.» Sie erhob sich, das leichte drehen, was sie zuvor verspürt hatte steigerte sich zu einem wahren Strudel. Sie wollte sich wieder setzen, doch da wurde bereits alles schwarz.
Als sie zu sich kam, hatte sie es durchaus gemütlich und warm. Ihr Körper gab ihr den Befehl, noch eine Weile liegen zu bleiben doch sobald die ersten Erinnerungsfetzen zurückkehrten, setzte sie sich sofort auf und wäre auf direktem Wege vom Bett gesprungen, wenn Sera nicht gewesen wäre. «Bleib sitzen! Sonst kippst du mir gleich nochmal um.» Zähneknirschend gehorchte sie, in erster Linie weil das schnelle Aufsetzen alleine schon dazu geführt hatte, dass sich so einiges im Raum wieder zu drehen begann. «Wo ist Maro? Und wie lange bin ich schon hier?»
«Der kleine Junge ist bei Kalan, einem der Mädchen die hier arbeiten. Sie hat selbst zwei Kinder und kümmert sich gut um ihn. Du warst etwa zwei Stunden weggetreten.» Sera reichte ihr einen Becher Wasser und einen Teller Suppe mit Brot. Arya war ihr dankbar dafür, dass sie sich jeglichen Kommentar darüber verkniff, sie genau davor noch gewarnt zu haben.
«Man kann nicht anderthalb Tage kämpfen und Blut verlieren ohne etwas zu sich zu nehmen. Merk dir das, denn die Kämpfe hier könnten Wochen dauern. Und beim nächsten Mal kippst du vielleicht vor deinem Gegner um.» Sie widersprach nicht, denn tatsächlich hatte sie seitdem der Kampf begonnen hatte vielleicht drei Schlucke Wasser getrunken. Also griff sie nach dem Becher und merkte erst jetzt, wie ausgetrocknet sie sich wirklich fühlte.
«Und um deiner nächsten Frage gleich vorzugreifen, da draussen herrscht der reinste Wahnsinn, aber ich denke mal, die Vorräte sind durchgekommen.» Während sie Sera zuhörte, ass sie einen Teil der Suppe und des Brotes. Dabei zwang sie sich, besonders langsam zu essen da sie ahnte, dass ihr Magen sonst seine ganz eigene Rebellion anzetteln würde.
«Danke. Für alles.» Sera wank ab. «Schon gut, beim Titan mithelfen kann ich ja schlecht, aber hier kann ich mich durchaus nützlich machen. Ich würde dir ja raten ebenfalls noch einen Tag hier zu bleiben, aber ich vermute, das wäre zwecklos.»
«Du kennst mich schon ziemlich gut.» Arya versuchte sich an einem Lächeln.
«Dann befolge wenigstens meine Ratschläge und renne nicht den ganzen Weg zurück. Und falls du die Zeit erübrigen kannst, empfehle ich dir ein Bad zu nehmen.» Gegenüber von dem Bett stand ein Spiegel und bei Seras Worten konnte sie fast nicht anders, als hinein zu blicken. Sie erkannte sich selbst kaum wieder. Ihr Gesicht war mit einer Mischung aus Russ und Blut bedeckt, derjenige Teil, der nicht veschmutzt war wirkte umso blasser. Ihr Haar war ein einziges Vogelnest. Wie sie für andere roch wollte sie sich an dieser Stelle lieber nicht vorstellen.
«Ich denke, eine Stunde kann ich wohl noch erübrigen.»
Das Bad half ihr tatsächlich, damit sie sich wieder etwas besser fühlte. Danach ass sie sogar noch einen zweiten Teller Suppe und fühlte sich schon fast wie ein neuer Mensch. Natürlich war sie noch lange nicht so in Form, wie sie es sonst war, aber es reichte um einen nächsten Aufbruch zum Titan zu wagen. Wobei sie vorhatte, auch hier auf Seras Hinweis zu achten und den Weg nicht rennend zurück zu legen. Ihre Kraft würde sie dann noch brauchen, um überhaupt dort hoch zu kommen.
Bevor sie ging, sah sie noch bei Maro vorbei. Er schlief mittlerweile auch und sie liess ihn. Sera versprach, ihn ins Haus der Roten Hände bringen zu lassen. Das war in den letzten beiden Tagen zu einer Art Anlaufstelle für Flüchtende geworden und es gab dort Leute, die sich gut um ihn kümmern würden.
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Auf den Felsen, auf denen der Titan stand, war es deutlich voller als noch ein paar Stunden zuvor. Nun wo es langsam wieder Tag wurde, sah sie die zahlreichen Leichen im Wasser treiben, die aber grösstenteils zu ihren Feinden gehörten. Dank der sichtraubenden Mischung aus Nebel und Rauch, wurde sie nicht entdeckt, bis sie den Rand der Klippe erreicht hatte. Imme wieder war sie Holztrümmern ausgewichen, die in ihre Richtung geschwemmt wurden. Bei zwei der undefinierbaren Kohlestücke war sie sich nicht ganz sicher gewesen, ob es sich um Holz oder verkohlte Leichen handelte, doch sie hielt es für besser, das nicht genauer in Augenschein zu nehmen. Mit ein wenig Kletterarbeit war sie auf dem Felsen und hielt zielstrebig auf den Titan zu. Die wenigen anderen Menschen die hier herumstanden gehörten alle zu den Rebellen. Bevor sie aber den Titan erreichen konnte, fing Vyro sie ab. Offenbar hatten er und einige seiner Leute eine Pause von der Hitze und dem Kohlestaub gebraucht. Verübeln konnte sie es ihm nicht.
«Hier steckst du. Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst.» Sie biss sich auf die Zunge. Ihm jetzt zu erklären, dass er sich besser um seine eigene Haut kümmern sollte, wäre vielleicht nicht förderlich für eine friedliche Zusammenarbeit gewesen.
«Ich wurde aufgehalten.» Sie machte Anstalten, sich dem Titan weiter zu nähern, aber Vyros Worte liessen sie innehalten.
«Du bist eine von ihnen, oder?» Sie hielt es für besser, nichts darauf zu erwidern. Das war auch nicht nötig, er erwartete offensichtlich auch gar keine Antwort.
«Ich bin nicht dumm. Deine Freunde sind allesamt bessere Kämpfer als meine besten Männer und die Pulver die sie mitgebracht haben findet man nicht an jeder Strassenecke. Hast du dich deswegen den Rebellen angeschlossen?» Sie erwiderte seinen Blick ohne die geringste Regung.
«Ich habe mich den Rebellen angeschlossen, weil ich Sklaverei verachtenswert finde. Das ist doch das einzige, was zählt.» Damit liess sie ihn dann doch alleine, sie hatte nicht vor, sich hier Vorhaltungen machen zu lassen. Es war sein Problem, wenn er mehr Gefühle für sie entwickelt hatte. Vielleicht war er auch einfach nur gekränkt, weil sie es gewagt hatte, seine Avancen abzulehnen.
Der Aufstieg war um einiges quälender als beim letzten Mal. Der Rauch, welcher überall in der Luft hing, liess ihre Augen tränen und hin und wieder wurde sie von heftigen Windstössen erfasst, die sie fast von der schmalen Treppe fegten. Das war insbesondere deshalb äusserst unangenehm, weil sie in ihrem verletzten Arm nicht die gleiche Kraft hatte wie zuvor.
Oben auf dem Titan herrschte eine ebenso brütende Hitze wie vor ihrem Abstieg, wenn nicht sogar noch schlimmer. Da ihr noch immer etwas kalt war, störte sie sich für den Moment nicht daran. Stattdessen beobachtete sie, was sich in den wenigen Stunden verändert hatte. Es gab mehr Leute hier oben, aber auch deutlich mehr Vorräte. Alle hatten etwas zu tun und gingen ihren jeweiligen Aufgaben nach. Zum Schaufeln war sie nicht mehr fähig, aber sie konnte sicher dabei helfen, die Sprengfallen vorzubereiten.
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«Mach es hier fest», wies sie Reeya an. Reeya war in Handwerksarbeiten am geschicktesten von ihnen allen und hatte darum die Aufgabe gefasst, sämtliche Fenster mit Brettern zu verriegeln. Zu Beginn der Kämpfe war das Gebiet in dem ihr Bordell stand noch unbehelligt geblieben, doch langsam aber sicher verwandelte sich die ganze Stadt in ein Kriegsgebiet. Einige der Mädchen waren an vermeintlich sicherere Orte geflüchtet, doch viele von ihnen hatten sich dafür entschieden zu bleiben. Wahrscheinlich, weil sie keinen anderen Ort hatten, an den sie hätten flüchten können.
Meralyn, welche das Bordell schon seit fast zwei Jahrzehnten leitete, war ebenfalls geblieben. Allerdings verstand sie nicht besonders viel davon ein Haus zu befestigen und so hatte sie die Aufgabe gerne an Rina abgegeben, so lautete ihr Name hier. Entgegen vieler Meinungen kamen einfache Namen bei den Freiern oft besser an. Wobei sie sich die Sache mit dem Namen auch ganz hätte sparen können, meistens wurde nur nach "der mit dem fehlenden Bein" verlangt.
Mit ihrer Mithilfe bei der Befestigung des Bordells konnte sie sich wenigstens auf diese Art und Weise etwas nützliches beitragen, wenn sie sich denn schon nicht in den Kampf stürzen konnte. Natürlich war sie immer noch geschickt und hatte nichts verlernt, doch das Holzbein erlaubte es ihr nicht mehr, sich so wendig zu bewegen wie früher und auch ihr Gleichgewicht war deutlich schlechter. Sie machte sich daran, die verbliebenen Vorräte aufzulisten um auszurechnen, wie lange sie es hier aushalten konnten. Selbst wenn sie die Rationen pro Person stark kürzten, würde es höchstens fünf Tage reichen.
Erneut wurde sie unterbrochen, diesmal von Kalan, die den kleinen Jungen bei sich hatte. Ihre eigenen Kinder lebten bei deren Vater, allesamt ausserhalb von Braavos. Eines musste man Kalan lassen, bei der Wahl ihrer Freier hatte sie ein gutes Händchen besessen. Es waren eher wenige, die ihre Kinder anerkannten oder auch nur Notiz davon nahmen, dass es sie gab.
«Ich bringe ihn jetzt weg und kommen dann zurück.» Rina legte die Tafel weg, auf der sie alles berechnet hatte. Egal wie oft sie ihre Berechnungen durchging, das Ergebnis blieb dasselbe.
«Du wärst töricht, wenn du das tun würdest.»
«Wo soll ich denn sonst hin?» Bei dieser Frage wirkte sie selbst fast wie ein Kind. Wie alt mochte sie sein? Siebzehn? Achtzehn?
«Du hast zwei Kinder vom selben Mann, also wird er wohl irgendetwas an dir gefunden haben. Ich an deiner Stelle würde zu deinen Kindern gehen, wenn das hier vorbei ist. Und bis dahin kannst auch du im Haus der Roten Hände unterkommen.» Sie wirkte noch immer nicht ganz überzeugt, der Idee aber auch nicht ganz abgeneigt. Sicher hing sie nicht besonders an ihrem Leben hier, wahrscheinlich war es eher die Angst vor dem Unbekannten, das sie so lange hier gehalten hatte.
Als die beiden das Bordell verlassen hatten, blieb nicht mal genug Zeit um die Tür wieder zu verriegeln, als ein Schwerverletzter hineinstolperte. Ob Verbündeter oder Feind liess sich auf den ersten Blick nicht sagen. Sie war die erste, die sich ihm näherte. Die Kleidung machte den Eindruck eines einfachen Handwerkers. Während sie sich zum Verletzten hinabbeugte und sich instinktiv daran machte, die Blutung zu stoppen waren Reeya und Meralyn geistesgegenwärtig genug die Tür zu verriegeln.
«Wir sind kein Siechenhaus», murrte Meralyn, die wohl nicht ganz so erfreut darüber war, alle paar Stunden jemanden ihren teuren Teppichboden vollbluten zu sehen.
«Tut mir leid, aber ich wurde…» Er hustete und das Röcheln liess erahnen, dass sich seine Lunge langsam mit Blut zu füllen begann. «…wurde in die Enge gedrängt und ihr wart das einzige Haus in der Nähe. Ausserdem…» Ein grinsen legte sich auf sein Gesicht. «Gibt es sicher schlimmere Orte zum Sterben als zwischen ein paar schönen Frauen.» Das stimmte Meralyn wohl wieder etwas gnädiger – oder sie hatte erkannt, dass ihr Teppich aus Myr ohnehin nicht mehr zu retten war. Jedenfalls verlor sie kein Wort mehr darüber.
Obwohl Rina klar war, dass dem Verletzten nichtmehr zu helfen war, verband sie die Wunde so gut es eben ging. Wäre sie alleine gewesen, hätte sie dem Sterbenden wohl ein schnelles Ende bereitet, aber es war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt um preiszugeben, woher sie wirklich kam. Das letzte was sie brauchen konnte waren ein paar hysterische Frauen.
Sie hatten vielleicht für eine halbe Stunde Ruhe, in der kaum gesprochen wurde. Bloss der Kampflärm von draussen war ihr ständiger Begleiter. Manchmal wurde er etwas leiser, dann wieder etwas lauter, doch aufhören tat er nie.
Alle im Raum zuckten zusammen, als es gegen die Tür hämmerte.
«Aufmachen!» Die Stimme klang nicht verzweifelt, sondern eher gereizt. Entsprechend blieben alle schön wo sie waren und keine von ihnen hatte vor, der Aufforderung zu folgen.
«Im Namen des Seelords! Dieses Haus soll ein Stützpunkt für Soldaten werden. Wenn Ihr die Tür jetzt öffnet, können wir das friedlich gestalten, aber wenn nicht…»
Einige der Mädchen wurden auf der Stelle unruhig und wollten Meralyn dazu drängen, die Tür zu öffnen. Meralyn hingegen zögerte- und das aus gutem Grund.
«Wenn wir sie jetzt hier rein lassen, werden sie jede von euch nehmen, die ihnen gerade passt. Sie werden euch nicht einfach so gehen lassen.»
«Lieber lasse ich mich umbringen, als für diese Kerle die Beine breit zu machen. Selbst eine Hure hat ihren Stolz», entgegnete Reeya und die meisten der Mädchen stimmten ihr dabei zu.
«Scheiss auf den Stolz», fauchte Valla. «So viele Schweine wie ich schon an mich ranlassen musste, kommt es auf die auch nicht mehr an.»
«Ach… Und wenn ihnen deine Unterwürfigkeit gefällt? Vielleicht verkaufen sie dich ja als Sklavin, wenn das hier vorbei ist.» Es war deutlich, worauf sie anspielte. Als so viele Leute in der Stadt verschwunden waren, hatte es fast einen Drittel aller Huren im Hafen der Glückseligkeit erwischt.
«Jetzt haltet beide den Mund», herrschte Meralyn die Streithähne an und tatsächlich hielten sie in ihrem Gezänke inne, auch wenn ihre Blicke Funkten sprühten.
«Rina, was meinst du?»
Bevor sie antwortete liess sie ihren Blick durch das Innere des Raumes schweifen. Und zu den verriegelten Fenstern, die ihnen höchstens etwas Zeit verschaffen konnten.
«Sie werden sich Zugang zu diesem Haus verschaffen, so oder so. Das einzige was ich vorschlagen kann ist, dass wir ihren Aufenthalt hier so unangenehm wie möglich gestalten. Aber wenn wir das tun, werden es wohl nicht alle von uns überleben.»
«Dann lasst uns flüchten!», rief Valla.
«Ich bin sicher, dass sie ein genaues Auge auf das Bordell werfen. Bevor wir flüchten können, müssen wir sie zuerst ablenken.»
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Sie hatte bei weitem nicht genug Waffen dabei, um alle Mädchen auszurüsten. Aber das war auch nicht nötig, viele von ihnen wären damit ohnehin nicht zurechtgekommen. Reeya gab sie einen Flakon mit Gift und wies sie damit an, sämtliche Wasservorräte zu vergiften. Natürlich erst, nachdem die Mädchen nochmal getrunken hatten, denn das würde danach nicht mehr möglich sein, das machte sie allen von ihnen deutlich.
Merlalyn gab sie kurzen Unterricht mit der Armbrust, die sie in ihrem Gepäck hatte und war erstaunt, wie schnell sie lernte. Natürlich wäre es effektiver gewesen, selbst damit zu schiessen, aber am Ende war sie im Nahkampf wohl doch am nützlichsten, trotz ihres kleinen Problems… Entsprechend behielt sie nur ihr Messer. Den anderen Mädchen half sie dabei, aus Alltagsgegenständen kleinere Fallen vorzubereiten, die den Soldaten das Leben so schwer wie möglich machen sollten. Während sie das tat, entsperrte Meralyn unten die Tür und zog sich dann ebenfalls in einen der oberen Räume zurück. Der Verletzte, der sich hineingedrängt hatte, war zwischenzeitlich längst gestorben. Seine Leiche hatten sie liegen gelassen.
Es dauerte keine zwei Minuten, bis Hestins Männer das Bordell stürmten. Die ersten stolperten geradezu herein, offenbar waren sie davon ausgegangen, die Tür weiterhin verschlossen vorzufinden.
«Sie sind weg!», rief einer.
«Sind wir nicht», entgegnete Rina. Sie hatte sich bereit erklärt, die Männer in Empfang zu nehmen und den Mädchen notfalls ein Zeichen zu geben, falls eine Flucht doch unabdingbar war. Dafür hatten sie sogar eines der verbarrikadierten Fenster wieder geöffnet. Meralyn würde den Flüchtenden in dem Fall Rückendeckung mit ihrer Armbrust geben.
«Na sieh mal einer an.» Einer der Männer kam grinsend auf sie zu, wobei sie lasziv den Rock hob um ihr Holzbein zu entblössen. Wie sie gehofft hatte, erstarrte das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes. Es gab Männer, die auf Kuriositäten wie sie scharf waren, viele hingegen schreckte es ab und in diesem Fall war sie durchaus dankbar dafür.
«Wo sind eure Vorräte?», blaffte ein anderer der Männer. Sie deutete auf die Küche und drei der Männer stürmten gleich hinein. Das Gift mit welchem sie dem Wasser einen tödlichen Beigeschmack verpasst hatten, wirkte erst nach einigen Minuten und so hoffte sie, dass möglichst viele der Soldaten davon tranken. Sobald die ersten von ihnen tot umfielen würde es nicht lange dauern, bis ihnen klar werden musste, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
«Und wo sind die hübschen Huren?», fragte ein anderer der Männer.
«Die warten sicher auf hübschere Freier als dich.» Sie machte sich bereit den kommenden Angriff abzuwehren, aber soweit kam es gar nicht. Der Rüpel wurde durch einen seiner Kollegen zurückgehalten, der ihn am Kragen packte. «Wenn wir diese scheiss Rebellen los sind, kannst du dir so viele Weiber nehmen wie du willst, aber jetzt müssen wir hier erstmal unser Lager vorberieten. Also reiss dich gefälligst zusammen!» Zähneknirschend zog sich der Soldat zurück, doch Rina war klar, dass er das nur tat, solange sein Vorgesetzter ein Auge auf ihn hatte.
Am Anfang hatten sie tatsächlich Ruhe. Die Soldaten schafften Waffen, Vorräte und Verwundete herein. Sie machten im Bordell eigentlich dasselbe wie die Rebellen im Titan, nur das letztere die weitaus bessere Ausgangsposition hatten.
Leider ging ihr ursprünglicher Plan mit dem Gift etwas schief, es tranken nicht so viele von dem Wasser, wie sie erwartet hätten. Als drei von ihnen plötzlich wie vom Schlag getroffen zu Boden stürzten, herrschte erst grosse Verwirrung, doch noch schien keiner zu ahnen, woher ihr plötzlicher Tod wirklich kam. Mittlerweile herrschte solch ein grosser Tumult, dass die drei Toten ohnehin kaum ins Gewicht fielen.
Erst nachdem die Kämpfe draussen etwas abflauten fiel den Männern wieder ein, wo sie sich hier befanden und machten sich auf die Suche nach Beute. Einige der Mädchen waren sicher geflüchtet. Aber nicht alle, denn nur wenig später war ein erstickter Schrei aus dem oberen Stockwerk zu hören. Die meisten Soldaten lachten nur, weil sie das Geräusch wohl als etwas ganz anderes auffassten. Zwei der Soldaten wurden jedoch hellhörig und verschwanden ebenfalls ins obere Stockwerk- keiner von ihnen kehrte zurück. Sie vermutete, dass Meralyn einen guten Teil dazu beitrug. Rina umfasste den Griff ihres Messers deutlich fester. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch dem dümmsten unter den Besetzern aufging, was für ein Spiel hier gespielt wurde.