Mit wenigen Handgriffen verschnürte Arya den Beutel mit den übrig gebliebenen Kräutern und Salben. Da Jaqens Hemd unwiderruflich zerstört war, gab sie ihm den Mantel, den sie auf dem Weg hierher getragen hatte. Er war für Jaqen zwar etwas kurz, ansonsten passte er aber.
Danach machten sie sich auf den Weg weiter in die Dunkelheit hinein. Sie war aus der anderen Richtung gekommen und dort hatte es eindeutig keine Treppe oder Leiter gegeben. Der Tunnel fiel ein kleines Stück weiter ab, weshalb sie immer wieder im Wasser wateten und sehr darauf achtgeben mussten, nicht auszurutschen.
«Wir können von Glück reden, dass die Wachen uns hier unten nicht gesucht haben», flüsterte sie nach einer Weile. Arya hatte während der fünf Tage hier unten keine Ruhe gehabt und bei jedem Rascheln einer vorbeihuschenden Ratte ihr Messer gezückt. Selbst nachdem es mehr als zwei Tage ruhig geblieben war hatte sie befürchtet, die Söldner oder ein Fischer könne sie finden. Keins von beidem war geschehen, wohl das einzig Positive in dieser ganzen Misere.
Sie warteten im Schutz der Dunkelheit, bis die Sonne gänzlich im Meer versunken war. Erst dann wagten sie sich aus dem Schatten. Im letzten Tageslicht erkannten sie dann tatsächlich eine schmale Treppe, die in den Stein gehauen war. Von der Brücke und der Strasse aus war sie nicht zu sehen, wenn man nicht wusste, dass sie da war. Es mochten etwa dreissig Tritte sein, eigentlich nicht weiter anstrengend. Doch Jaqen blieb schnell hinter ihr zurück, jeder Schritt bereitete ihm Mühe. Oben angekommen wirkte er etwa so angestrengt, wie sie sich nach einem ausgiebigen Training fühlte. Nein, es ging ihm noch nicht so gut, wie sie gehofft hatte. So zog sich auch der Weg zum Versteck länger hin und es war längst Nacht, als sie ihr Ziel erreichten.
Es lag verlassen da. Nichts liess darauf schliessen, dass sich wenige Tage zuvor über dreissig Leute hier befunden hatten. Aber es war auch kein Blut zu sehen, was darauf hoffen liess, dass die Gesichtslosen den Ort freiwillig verlassen hatten. Wäre das Versteck durch Hestins Männer gestürmt worden, gäbe es bestimmt Blutflecken auf dem Boden.
«Warum immer sie auch gegangen sind, sie werden ihren Grund dafür gehabt haben.» Jaqen lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Sie spürte, dass er nicht mehr lange weiter konnte. Hierbleiben war zur riskant, Geld für ein Gasthaus hatten sie keines dabei. Ihr kam nur ein Ort in den Sinn, an dem sie etwas Ruhe finden konnten ohne der nächtlichen Kälte ausgesetzt zu sein.
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Als Brea sie einige Tage zuvor eingeladen hatte sie zu besuchen, hätte sie sicher nicht damit gerechnet, dass sie mitten in der Nacht an ihre Tür hämmerte und einen Verletzten bei sich hatte. Doch wie Arya vermutet- oder viel eher gehofft hatte, liess sie die beiden ohne Wiederworte eintreten und schloss die Tür hinter ihnen. Das letzte Stück hatte sie Jaqen eher mitgeschleift als gestützt.
«Ich weiss, ich schulde dir eine Erklärung und ich verspreche dir, die bekommst du auch. Kann er ein paar Tage hierbleiben?» Brea war gefasster als Arya erwartet hätte, wirkte aber nicht übermässig erfreut über den Besuch.
«Bist du sicher, dass ihr nicht verfolgt werdet?» Sie nickte und sah Brea direkt in die Augen, als sie antwortete.
«Ja. Sonst wäre ich nicht zu dir gekommen.» Das war die Wahrheit. Erst als sie sich völlig sicher war, dass man sie nicht beobachtete, hatte sie es gewagt sich dem Haus zu nähern.
«Ist gut.» Brea überlegte, wo sie ihn unterbringen sollte. Das kleine Haus erweckte nicht den Eindruck, als ob es Platz für Gäste bot. Aber dann stiess sie die Tür zu einer kleinen Kammer auf, wo Arya Jaqen aufs Bett fallen liess. Kaum legte sich sein Kopf auf das Kissen war er auch schon wieder eingeschlafen. Sie zerrte noch die Stiefel von seinen Füssen und warf die Decke über seine Beine. Danach wechselte sie die Verbände und hoffte, dass es kein Fehler gewesen war, den Weg auf sich zu nehmen.
Sie schloss die Tür leise hinter sich, als sie zu Brea in die Wohnstube trat.
«Danke. Aber wo schläfst jetzt du?» Das letzte was Arya wollte, war Brea aus ihren eigenen Räumen zu verbannen.
«In meinem Zimmer. Die Kammer in der er schläft gehörte Talea.» Als Brea da sagte wurde Arya bewusst, dass sie Talea auch bei ihrem letzten Besuch hier nicht zu Gesicht bekommen hatte. Beschämt musste sie zugeben, dass sie damals nicht mal daran gedacht hatte, nach ihr zu fragen.
«Wie…» Arya biss sich sofort auf die Lippe, als sie sah wie sich Breas Blick verdüsterte.
«Die Sklavenhändler?», mutmasste sie. Sofort musste sie wieder an Jaqens Narben denken.
«Nein. Bisher habe ich noch nie jemanden vor Kummer sterben sehen, aber bei ihr war es so. Eines Morgens war sie einfach…» Brea wandte den Blick ab. Arya hätte sie gerne getröstet, doch darin war sie noch nie besonders gut. Ihr zu sagen, dass jeder einmal sterben musste und Talea sicher nicht das schlechteste Los gezogen hatte, würde Brea in ihrer Trauer sicher auch nicht leichter machen. Also schwieg sie lieber.
«Ich habe noch eine Strohmatratze, die ich dir vor den Ofen legen kann», wechselte Brea das Thema. Worüber Arya mehr als dankbar war.
«Nicht nötig, ich habe noch etwas zu erledigen.» Sie war zwar sicher, dass die Gesichtslosen soweit in Sicherheit waren, aber sie wollte wissen, was genau passiert war und wie es jetzt weiter ging. Vorher fand sie keine Ruhe.
«Um diese Uhrzeit?» Mitten in der Nacht war die beste Zeit um untergetauchte Personen zu suchen. Doch auch das behielt sie lieber für sich. Jaqen und sie mussten darauf acht geben, dass Brea so wenig wie möglich wusste. Zu ihrer eigenen- und zu Maros Sicherheit.
«Leg dich wieder hin. Ich komme schon alleine zurecht und vor dem Morgengrauen bin ich sicher nicht zurück.»
So wie die Verhältnisse im Moment waren, fühlte sie sich nachts deutlich wohler in den Strassen als tagsüber. Es gab so viel Möglichkeiten, völlig unsichtbar durch die Strassen zu streifen.
Es war nicht so ruhig wie sie erwartet hätte, immer wieder begegneten ihr Menschen. Die einen waren Wachen, die anderen Menschen, die sich vor den Wachen versteckten- oder sie zumindest mit so viel Geld bestachen, dass diese sie ignorierten. Sie sah Huren und Diebe, Wirte, die ihren Laden schlossen, Ratten die vorbeihuschten und Katzen, die diese Ratten jagten. Doch sie begegnete niemandem, den sie als Gesichtslosen erkannt hätte. Sie trug absichtlich ihr eigenes Gesicht, weil sie so hoffte, so vielleicht erkannt zu werden.
Nachdem sie sicher fast zwanzig Strassen entlanggelaufen war, führte ihr Weg sie zum Lumpensammlerhafen. Hinter eine Kiste geduckt beobachtete sie dabei, wie ein Schiff ablegte.
Eine Hand legte sich auf ihren Mund und sie versteifte sich für einen Moment. Da sie aber gleich merkte, dass es eine Frauenhand war, blieb sie ruhig und die Hand verschwand auch sofort wieder. Sie drehte sich um und sah in ein ihr unbekanntes Gesicht, unter dem sich eine nicht unbekannte Person befand. Die Heimatlose war ein ganzes Stück kleiner, also konnte es sich nur um Sera handeln. Sie trug einen langen Rock, der ihr fehlendes Bein kaschierte, war oben aber so freizügig gekleidet, dass kein Zweifel daran bestand, als was sie unterwegs war. Sie zogen sich etwas weiter in den Schatten zurück, bevor sie es wagten zu flüstern.
«Was ist geschehen? Wir waren gestern Abend im Versteck, aber ihr wart schon weg.» Arya gab sich nicht sonderlich viel Mühe, den Vorwurf in ihrer Stimme zu verbergen.
«Vor zwei Tagen haben wir entschieden, dass es zu riskant ist, wenn sich alle am selben Ort aufhalten. Wir wussten ja nicht, ob ihr gefangen wurdet oder nicht. Also haben wir die Vorräte aufgeteilt und entschieden, uns einzeln oder in kleinen Gruppen zu verstecken.» Sie verstand das nicht. Vor weniger als einer Woche hatten sie einen wahren Triumph gehabt und nun gaben sie einfach auf.
«Dann warten wir jetzt also und drehen Däumchen, werden Krieg gewinnt?» Ohne es zu wollen hatte sie ihre Stimme etwas erhoben, was ihr sogleich einen mahnenden Blick von Sera einbrachte.
«Nein, wir werden nicht abwarten. Einige von uns haben die Stadt verlassen, um von den anderen Städten Unterstützung zu suchen. Andere suchen sich hier eine Arbeit.» Arya hoffte ja, dass das für Sera nur eine Verkleidung war und sie nicht tatsächlich als Hure arbeitete. Jetzt wollte sie aber erstmal wissen, was sie verpasst hatten.
«Was ist in der letzten Woche geschehen?»
«Nicht viel. Die Wachen sind nervöser geworden. Aber was ist mit euch? Du hast vorhin in der Mehrzahl gesprochen. Also hat er überlebt?»
«Ja. Aber es geht ihm immer noch nicht gut. Fürs erste haben wir aber eine Unterkunft.»
«Gut. Dann solltest du jetzt zurück gehen und dir gründlich überlegen, wie du dir deinen Lebensunterhalt in den kommenden Monaten verdienen willst. Falls du mich suchst, ich arbeite meistens im Happy Port.»
Arya konnte es kaum fassen. «Mit einem Bein oder nicht, es hätte doch sicher etwas anderes gegeben, was du machen könntest.»
Sera lächelte nur. «Oh, da gäbe es sehr vieles. Und Geld habe ich genug, hier geht es nur um Informationen.» Arya konnte ihr wohl kaum einen Vorwurf machen, ihr war es ja nicht besser ergangen. Trotzdem erschreckte sie die Vorstellung, das Sera sich das nun Tag für Tag antun musste. Offenbar stand ihr all das ziemlich deutlich ins Gesicht geschrieben. «Wenn es dich tröstet, ich kann mir meine Freier selbst aussuchen. Nicht alle Männer sind wie unser neuer Seelord, ich hoffe das wirst du irgendwann auch noch erfahren. Und jetzt zurück mit dir. Wir treffen uns beim nächsten Neumond im Haus der Roten Hände.»
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Brea öffnete sofort. Sie sah nicht so aus, als hätte sie sich nach Aryas Aufbruch nochmal hingelegt.
«Schläft er noch?» Sie nickte. «Was du übrigens auch bald tun solltest.» Brea scheuchte sie zum Tisch, wo sie ihr sogleich einen dampfenden Teller Suppe und ein grosses Stück Brot vor die Nase setzte. Erst mit dem Geruch von Essen, begann sich Aryas Magen zu regen.
«Danke. Glaube mir, wenn ich auch nur einen anderen Ort gewusst hätte, an den wir gehen können, hätte ich Maro und dir das nicht aufgebürdet.» Sie griff nach dem Löffel und musste sich am Riemen reissen, die Suppe erst etwas abkühlen zu lassen.
«Ach Maro ist das kleinste Problem. Der war ganz aus dem Häuschen als ich ihm erzählt habe, dass du eine Weile bei uns bleiben wirst.» Brea lächelte, wie immer, wenn sie über ihren Sohn sprach. Doch sie wurde schnell wieder ernst.
«Ihr seid Rebellen, oder?» Arya hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, welche Lüge sie Brea genau erzählen wollte. Dankbar, dass sie ihr diese gleich auf dem Silbertablett servierte, nickte sie. Natürlich erst, nachdem sie einige Momente gezögert hatte, um alles noch etwas glaubwürdiger wirken zu lassen.
«Ja. Bei dem Aufstand letzte Woche wurde er schwer verletzt. Wir haben uns eine Woche lang am Rand eines Kanals versteckt. Aber lange hätte er das so nicht mehr durchgehalten.»
«So seht ihr auch aus. Hast du in dieser Woche überhaupt ein Auge zugetan?» Sie war hin und wieder eingenickt, aber die kurzen Schlafphasen waren weder tief, noch erholsam gewesen. Jedes Mal wenn sie aus dem Schlaf geschreckt war, hatte sie als erstes nach Jaqens Atem gelauscht.
«Nicht viel. Steht das Angebot mit der Matratze noch?» Brea hatte ihren Schlafplatz natürlich schon längst vorbereitet. Es war der wärmste im ganzen Haus und nun, da sie vorerst in Sicherheit und Jaqen ausser Lebensgefahr war, war ihr Schlaf nicht nur tief, sondern auch erholsam.
Als sie aufwachte, wurde es draussen bereits wieder dunkel. Oder schon wieder hell? Sie wusste es nicht, aber sie fühlte sich deutlich besser als zuvor und hoffte, dass es Jaqen ebenso erging. Jedenfalls war er wach, als sie das Zimmer betrat. Er wirkte noch immer blass und erschöpft, aber nicht mehr fiebrig. Da es in dem kleinen Zimmer keinen Stuhl gab, setzte sie sich auf die Bettkante.
«Geht es dir etwas besser?»
«Viel besser. Woher wusste ein Mädchen, dass wir hier Schutz finden?» Nachdem sie gemerkt hatten, dass das Versteck verlassen worden war, hatte sie ihn einfach hergebracht, ohne ihm überhaupt zu erklären wohin es ging. Er hatte auch nicht gefragt.
«Brea ist die Tochter von Brusco dem Fischer. Sie kennt mich noch als Katz, also solltest du mich besser auch so nennen, solange wir hier sind.» Wer hätte einmal gedacht, dass ihr diese Identität einmal so von Nutzen sein konnte…
«Ein Mann hat einem Mädchen viel zu verdanken.» Sie ihm nicht weniger. Sie konnte fast nicht zählen, wie oft er ihr schon aus der Klemme geholfen hatte. In Westeros, als er ihr zur Flucht verholfen hatte, als Mojo auf dem besten Wege dazu gewesen war sie zu erwürgen und nicht zuletzt als er ihr geholfen hat, unter Noridos’ Einfluss nicht den Verstand zu verlieren. Doch das alles konnte sie ihm so nicht einfach sagen.
«Sieht aus, als müssten wir eine Weile hierbleiben. Der Orden hat sich zerstreut.» Sie sah, dass der Gedanke ihm nicht behagte.
«Was? Das sind gute Neuigkeiten. Jedenfalls besser, als wenn sie gefangen worden wären.»
«Ein Mann weiss nicht, ob es so weit gekommen wäre, wenn er nicht auf den Plan bestanden hätte.»
«Diese Rebellion war das Beste, was der Stadt passieren konnte. Die Bürger haben sich erfolgreich gegen Hestin durchgesetzt. Auch wenn sie zurückgeschlagen wurden, ein Sieg war es trotzdem und den werden sie nicht vergessen. Ausserdem haben alle aus dem Orden dem Plan zugestimmt.»
«Wahrscheinlich hat ein Mädchen Recht.» Er schloss die Augen.
«Du solltest aufstehen. Brea ist so nett und macht Badewasser für dich bereit. Danach verbinde ich deine Wunde neu.»
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Das warme Wasser brannte zwar auf seiner Wunde, am Rest seines Körpers fühlte es sich aber so wohltuend an, dass der Schmerz dabei in den Hintergrund rückte. Da sich die Wunde ausserhalb seines Blickfelds befanden, hatte er noch nie einen Blick darauf werfen können, doch der Schmerz war im Vergleich zu den letzten Tagen schon jetzt zurück gegangen.
Stück für Stück lockerten sich seine Muskeln und er schloss die Augen. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte er sich wirklich entspannt. Ihm war durchaus bewusst, dass sie auf einem wahren Pulverfass sassen, doch für den Moment konnte er das ausblenden.