Seitdem sie ihr Augenlicht verloren hatte, erachtete Arya es als noch sinnloser, den Boden zu fegen. Allerdings konnte sie dieser Arbeit auch etwas Positives abgewinnen, denn nie konnte sie ihren eigenen Gedanken so gut nachhängen, wie in diesen Stunden.
Tagsüber war sie ständig unterwegs, musste sich auf all ihre Sinne oder gegebenenfalls diejenigen einer Katze verlassen, um nicht irgendwo gegenzulaufen und alles mitzubekommen, was irgendwie wichtig werden könnte. Lag sie abends im Bett, war sie meist so erschöpft, dass sie schnell einschlief und ganz von ihren Träumen in Beschlag genommen wurde. Und schliesslich war da noch das Training, welches fast jede Nacht stattfand und sie jedes Mal beinahe zur Verzweiflung brachte. Woran glaubten die beiden nur immer zu erkennen wann sie log? Warum konnte sie nicht an ihre Rache denken und trotzdem niemand sein? Sie konnte töten, wäre ihr Maryn Trant nicht ausgerechnet vor ihrem Auftrag begegnet, hätte sie keine Probleme damit gehabt, das Geschenk an den Betrüger zu überbringen. Warum gab man ihr nicht noch einen Versuch sich zu beweisen?
Sie merkte, wie sie mit dem Besen gegen eine der Statuen stiess und machte einen Schritt zurück. Unwillkürlich fragte sie sich dabei, um welche Statue es sich handeln mochte. Obwohl das ja keine Rolle spielte, eigentlich gab es ja nur einen Gott. Wenn auch einen ziemlich gemeinen. Zumindest liess er ihrer Meinung nach immer die Guten sterben, es sei denn, man half selbst etwas nach.
„An welche Götter hast du früher geglaubt?“ Obwohl sie die Heimastlose nicht wirklich sah, wandte sie sich ihr zu. Es schien sich um keine derjenigen Fragen zu handeln, bei denen sie sich einen Schlag einhandeln konnte, also antwortete sie ruhig und wahrheitsgemäss. „An die alten Götter des Nordens und die Sieben.“ Wie viel mehr es gab, hatte sie eigentlich erst herausgefunden, seitdem sie hier war. Nun wagte sie es auch, eine Gegenfrage zu stellen.
„Und du?“ Sie war schon damals erstaunt gewesen, als sie ihr von ihrer Vergangenheit berichtet hatte und tatsächlich antwortete sie auch diesmal.
„Mein Vater war ein Anhänger R’hllors. Als ich klein war, war ich zu jung um wirklich an etwas zu glauben und als meine Mutter starb war ich wütend auf alles und jeden, auch auf die Götter. Es war die sture Reaktion eines Kindes. Egal ob R’hllor, die alten Götter des Nordens oder die Sieben – es sind alles dieselben und der Grund, warum ich noch am Leben bin. Und du.“
Arya war sich unsicher, wie sie das nun auffassen sollte. Sollte das bedeuten, dass sie auf ihrer Reise viel Glück gehabt hatte, oder spielte sie auf ihre zweite Chance an, die sie hier erhalten hatte? Sie war schon drauf und dran ihre Frage laut zu formulieren, doch die Heimatlose schnitt ihr das Wort ab.
„Komm mit.“
Sie stellte den Besen an eine freie Wand und folgte dem Geräusch ihrer Schritte.
Einen Teil des Weges kannte sie, doch vor dem Kellergewölbe, in dem sie die Leichen wuschen, bogen sie rechts ab.
Da Arya noch nie hier gewesen war, hatte sie keine Möglichkeit zu sagen, wie es hier aussah, doch das erste was ihr auffiel, war eine Flut von fremdartigen Gerüchen.
„Was glaubst du machen wir hier?“, fragte die Heimatlose und blieb neben ihr stehen.
„Irgendetwas mit Kräutern. Gifte?“
„Richtig. Also versuch nichts umzuwerfen, manche davon sind schon beim Einatmen tödlich.“ Arya nickte und hätte beinahe gegrinst, hätte sie sich nicht noch rechtzeitig auf die Wange gebissen. Vielleicht gab es ja doch so etwas wie einen Gott, endlich tat sie mal wieder etwas anderes als zuhören und Schläge einstecken. Oder den Boden fegen.
„Wie viele Gifte gibt es hier?“
„Genug. Und alle wirken verschieden. Was glaubst du wie man die Gifte verabreicht?“ Das war einfach.
„Durch Essen, Trinken oder vergiftete Pfeile.“
„Stimmt. Aber nur ein kleiner Teil davon. Denk weiter nach. Eine Lösung hast du vorhin schon gehört.“ Sie liess ihr Gespräch vor dem inneren Auge nochmal revuepassieren und dachte an die Warnung. „Durch die Luft?“
„Genau. Aber es gibt noch eine weitere Möglichkeit.“ Arya dachte scharf nach, doch ihr wollte einfach nichts mehr einfallen. Nach einiger Zeit antwortete die Heimatlose für sie.
„Durch die Haut.“ Sie war überrascht, konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie das funktionieren sollte. Was nicht hiess, dass es nicht möglich war.
„Nehmen wir an, dem Wirt eines Gasthauses müsste die Gabe überbracht werden. Wie wäre es am unauffälligsten?“ Irgendwie hatte dieses Gespräch Ähnlichkeiten mit den Unterrichtsstunden von Maester Luwin. Nur wusste sie kaum etwas über Gifte. Sie versuchte sich einfach vorzustellen, wie es unauffällig aussehen würde.
„Das Gift müsste langsam wirken. Damit es wie eine Krankheit aussieht. Wirte sind ständig in der Küche, man könnte es in seinen Becher kippen.“
„Und was, wenn der Becher nicht für ihn ist und einem Gast gebracht wird?“ Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe und erhielt dafür den ersten Schlag des heutigen Tages. Mist, dachte sie und glaubte zuerst, der Schlag wäre ihrer Antwort geschuldet.
„Du beisst dir ständig auf die Lippen. Es gehört zu Arya Starks Charakter. Wer bist du?“
„Niemand.“ Die Heimatlose seufzte und Arya hätte schwören können, dass es genervt klang, doch sie erhielt keinen weiteren Schlag und die Lektion wurde fortgesetzt.
„Wenn viele Leute in der Nähe sind ist es nie ratsam, einen bestimmten Becher zu vergiften. Es sei denn, man ist sich vollkommen sicher, dass nur das Opfer daraus trinkt. Überlege dir etwas anderes.“ Sie dachte nach. Wie sie eben erfahren hatte, konnte man das Gift auch über die Luft oder durch Hautkontakt aufnehmen. Bei der Luft bestand sicher dasselbe Problem wie beim Essen, Unschuldige könnten getroffen werden. Blieb also noch die Haut.
„Man müsste etwas vergiften, was wirklich nur der Wirt in die Hände nimmt. Also nicht das Geld.“ Was für Situationen gab es also, in denen nur jemand bestimmtes einen Gegenstand in die Hand nahm? Nach einer Weile hatte sie eine Idee. „Kann man Papier vergiften? Eine persönliche Nachricht würde sicher nur der Wirt entgegennehmen.“
„Ja, aber das wäre nicht zu empfehlen, da es den Boten der Nachricht auch umbringen würde. Das Wachssiegel wäre hier eher geeignet.“
„Glaubst du wirklich, so etwas würde funktionieren?“
„Das wirst du morgen selbst herausfinden. Sein Name ist Dallon Mirelima. Er ist der Wirt des Gasthauses Zum Zitternden Meer. Ich werde die Nachricht vorbereiten.“ Für einige Momente glaubte Arya, sie würde die Sprache gar nicht mehr wiederfinden. Sie wollte sich das aber nicht anmerken lassen und versteckte es deswegen hinter der erstbesten Frage, die ihr in den Sinn kam.
„Und was für ein Gift wirst du verwenden?“
„Die Tränen von Lys. Damit es auch als Kontaktgift wirkt, muss es mit ein paar anderen Substanzen vermischt werden. Es ist ziemlich schmerzhaft und frisst einem die Eingeweide von innen auf. Da es auch eine Weile dauert, glauben die meisten, sie wären nur an bestimmten Organen erkrankt.“ Arya war beeindruckt. Doch hiermit schien ihre heutige Lektion auch schon beendet zu sein und sie war gerade im Begriff zu gehen, als die Heimatlose den Anflug ihrer guten Laune mit einem einzigen Satz verschwinden liess.
„Eine weitere Chance wirst du nicht kriegen.“ Sie wollte sich lieber nicht vorstellen was geschah, wenn sie auch hier versagte. Also durfte sie einfach nicht versagen.
~
Tatsächlich überreichte die Heimatlose ihr am nächsten Morgen eine sorgfältig eingepackte Schriftrolle. „Der Brief ist gefälscht, es geht um eine Lieferung, die sich angeblich verspätet.“ Obwohl der Brief noch zusätzlich in ein Tuch eingeschlagen war, versuchte Arya, ihn so wenig wie möglich zu berühren. Als wollte die Priesterin ihr damit Recht geben fügte sie hinzu: „Viele Gifte haben ein Gegenmittel, dieses nicht. Wenn du das Wachssiegel berührst, bist du in einer, wenn du Pech hast zwei Wochen tot.“
Mit diesen Worten und der Drohung vom vorderen Abend im Hinterkopf, machte sie sich auf den Weg. Im Gasthaus selbst war sie noch nie gewesen, wusste aber in etwa, wo es sich befand. Sie überquerte rund ein Dutzend Kanäle und musste sich mehrere Male durchfragen, da es heute mit den Katzen nicht so recht funktionieren wollte. Bei der ersten hatte sie es nicht geschafft einen Zugang zu finden und die zweite hatte sie gekratzt. Danach hatte sie sich für den „normalen Weg“ entschieden und war nun auch an ihrem Ziel angelangt.
„Tut mir Leid Kleine, aber Bettler sind hier nicht erwünscht.“ Man konnte der Bedienung ihre Vermutung nicht übelnehmen, seit ihrer Bestrafung trug Arya neben der schwarzweissen Robe nur die abgewetzte, viel zu grosse Kleidung, in der sie durch die Strassen streifte. So auch heute. „Ich bin nicht hier um zu betteln“, erklärte sie, „ich soll eine Nachricht an Dallon Mirelima überbringen. Ist er da?“
„Ich glaube er ist in der Küche, du kannst mir die Nachricht geben, ich gebe sie ihm weiter.“ Das hatte sie befürchtet. Hoffentlich war die Frau nicht allzu stur, sie wollte nicht das Risiko eingehen, jemand falsches zu töten.
„Der Kapitän hat gesagt, er hat schon viele schlechte Erfahrungen mit Boten gemacht und ich solle die Nachricht persönlich übergeben. Wäre es möglich, dass ich ihm die Nachricht selbst geben kann? Ich will keinen Ärger und brauche das Geld.“ Es dauerte genau fünf Herzschläge bis sie eine Antwort erhielt.
„Na schön. Warte einfach hier, ich schaue kurz nach, ob er Zeit hat.“
Sie folgte der Anweisung der Bedienung und stellte sich an die Wand neben dem Eingang. Dabei lauschte sie den Gesprächen, aber die meisten davon verstand sie nicht einmal und es dauerte auch nicht lange bis sie hörte, wie sich jemand vor sie hinstellte.
„Also, du hast eine Nachricht für mich?“
„Seid Ihr Dallon Mirelima?“, stellte sie die Gegenfrage.
„Ja. Also, gib schon her.“ Er klang genervt und nahm ihr die eingewickelte Schriftrolle grob aus der Hand, sicherlich hätte er das nicht getan, wenn er gewusst hätte, dass er gerade seinen Tod in die Hände schloss.
Sie hörte wie er die Schnur löste, den Brief aus dem Tuch herausnahm und gerade als sie dachte, sie wäre am Ziel, rief jemand nach ihm.
„He Dallon, der hier will nicht bezahlen!“
„Scheiss Söldner. Glauben nur wegen einem Messer können sie sich alles erlauben. Halt mal.“ Er drückte ihr den entpackten Brief wieder in die Hände und sie sog scharf Luft ein. Sie hat gesagt, nur das Wachssigel ist vergiftet. Diesen Satz wiederholte sie gedanklich so lange, bis der Wirt zurückkam, ihr die Nachricht aus der Hand nahm, das Wachssiegel brach und die Nachricht kurz zu überfliegen schien.
„Dafür hättest du nicht so lange zu warten gebraucht. Trotzdem danke.“
~ ~ ~
Sie war gerade dabei die Gifte einzuräumen und sämtliche Hilfsmittel abzuwaschen – hierzu trug sie Lederhandschuhe – als sie leise Schritte hinter sich hörte.
„Welches Gift hat ein Mädchen gewählt?“ Die Priesterin stellte die letzte Flasche an ihren Ursprungsort zurück, ehe sie die Handschuhe abstreifte, sich umdrehte und antwortete. „Die Tränen von Lys. Als Kontaktgift. Aber keine Sorge, so lange sie sich nicht allzu dumm anstellt, sollte nichts passieren.“ Anfangs hatte sie die neue Akolythin nicht sonderlich gemocht, obwohl persönliche Wertungen hier keinen Platz hatten. Aber dieses Mädchen hatte alles als selbstverständlich angesehen. Als ihr dann zu Ohren gekommen war, was sie mit diesem Mann aus Westeros gemacht hatte, war sie der Meinung gewesen, dass sie es nicht verdient hatte auch nur einen Tag länger hier zu bleiben. Auch jetzt war sich nicht sicher, ob Arya Stark es jemals schaffte, ihre Identität abzulegen. Doch gestern hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, etwas anderes zu sehen als eine rachedurstige Hochgeborene. Was nicht hiess, dass sie jetzt eine bessere Meinung von ihr hatte, aber so lange sie niemanden mehr aus persönlicher Rache umbrachte, hatte sie nichts gegen ihre Anwesenheit einzuwenden.
„Wirst du ihr das Augenlicht zurückgeben, wenn sie die Prüfung besteht?“ Seit der Bestrafung waren etwa drei Monate vergangen. Wie jeder Teil der Ausbildung dauerte auch dieser bei jeder Person unterschiedlich lange, manche erhielten ihr Augenlicht schon nach einem Monat wieder, es hatte auch schon Akolythen gegeben, die dafür fast ein Jahr gebraucht hatten. Es hing nicht nur davon ab, ob sie es schafften blind jemanden umzubringen, sondern wie sie aus dieser Schwäche eine Stärke machten.
„Nein. Nicht, solange sie nicht die Wahrheit über diese Träume preisgibt. Auch wenn ein Mann vermutet, dass sie schon längst wieder sehen kann.“ Sie runzelte die Stirn.
„Wie kommst du darauf? Ihre Augen sind noch immer getrübt und das Gift hat bis jetzt bei jedem gewirkt.“ Sie hatte es selbst gemischt und tat das schon seit fast zwanzig Jahren, noch nie wäre ihr ein solcher Fehler unterlaufen.
„Nicht durch ihre Augen. Die Träume haben erst angefangen, seit sie ihr Augenlicht verloren hat und seit damals hat sie ständig irgendeine Katze um sich herum.“ Er schüttelte den Kopf. „Ein Mann kann sich auch täuschen, aber irgendetwas geht da vor sich.“
~ ~ ~
Seit Aryas Auftrag waren schon rund drei Tage vergangen und er wollte sehen, ob sie es diesmal auch geschafft hatte. Hierfür trug er eine teure Seidenrobe und das glattrasierte blondhaarige Gesicht eines Lysener. Er setzte sich an den Tresen und bestellte einen Becher verdünnten Wein. Dabei sah er sich im Schankraum um, doch vom Wirt fehlte bisher jede Spur.
An diesem Tag war in dem Gasthaus nicht allzu viel los, neben ihm und den beiden jungen Frauen die bedienten, waren nur etwa sieben andere Leute im Schankraum. Drei von ihnen spielten Karten, einer war schon so betrunken, dass er gleich am Tisch einschlief und drei andere sprachen miteinander. Keiner von ihnen schien Notiz von ihm zu nehmen und das war ihm auch ganz recht so.
Als die Bedienung kam und den Becher hinstellte, bezahlte er gleich und fragte beiläufig: „Wisst Ihr wo sich Dallon herumtreibt?“
„Er fühlt sich nicht so gut und liegt im Bett. Vielleicht versucht Ihr es ja nächste Woche nochmal?“ Für den Wirt würde es keine nächste Woche mehr geben. Es sei denn, er gehörte zu den Unglücklichen, die besonders lange mit dem Gift zu kämpfen hatten.
„Vielen Dank, das werde ich.“
Also hatte sie zumindest diesen Test bestanden. Er war durchaus zufrieden nach wie vor der Überzeugung, dass sie eine gute Dienerin für ihn mit den Vielen Gesichtern werden konnte – wenn sie es schaffte alles was mit Arya Stark zu tun hatte abzulegen. Und hier sah er das grössere Problem.
Er erhob sich, wandte sich um und war schon im Begriff das Gebäude zu verlassen, als er unwillkürlich einen Teil eines Gesprächs zu hören bekam. Die drei Männer sprachen in der gemeinen Zunge von Westeros.
„…fast zweihundert Tiere.“
„Und du bist sicher, dass du nicht einfach wieder zu viel getrunken hattest?“
„Ach, halt’s Maul. Hast du denn die Berichte nicht gehört? Die Viecher sind jetzt überall.“ Diese Worte liessen zwar eine Vermutung in ihm aufkeimen, doch er schüttelte schnell den Kopf und öffnete die Tür. Bevor sie hinter ihm ins Schloss fiel, konnte er noch genau einen Satz hören.
„Es ist, als wären diese Wölfe eine Plage des Nordens.“
So viele Zufälle gab es nicht. Er musste wissen, was es damit auf sich hatte und damit wollte er nicht bis am Abend warten. Also suchte er den Lumpensammlerhafen ab und fand sie an einem der Docks. Wieder sass sie einfach nur da und man hatte das Gefühl, als würde sie von ihrer Umgebung kaum etwas mitbekommen. Deshalb hielt er nach der Katze Ausschau und wurde nur unweit von sich entfernt fündig. Das Tier sass auf einer Holzkiste, schien einfach nur dazuliegen und seine Umgebung zu beobachten.
Als sie ihn bemerkte, war es bereits zu spät, er hatte das Tier im Nacken gepackt, hielt es vor sich hin und erklärte ruhig:
„Ein Mädchen sollte mit zurückkommen.“ Damit entliess er das Tier, welches sich sofort davonmachte in die Freiheit. Entweder hatte er gerade eine aussergewöhnliche Fähigkeit entdeckt, oder nur eine Katze vergrault.
Er blieb stehen wo er war, Arya sass rund zwanzig Meter entfernt und er hatte recht leise gesprochen, im Normalfall hätte sie ihn also nicht gehört – doch erhob sie sich augenblicklich und schien damit seinen Verdacht zu bestätigen. Arya Stark war eine Leibwechslerin.
Als sie eintraf, war er schon längst wieder im Tempel. Er kannte einige Abkürzungen und sie schien es mit dem Rückweg nicht allzu eilig gehabt zu haben. Auch jetzt zeugte ihre angespannte Körperhaltung davon, dass sie sich vor dem was kam fürchtete und auch er war sich unsicher gewesen, wie er am besten damit umgehen sollte. In gewisser Weise hatte sie bei ihrer Bestrafung geschummelt. Dieses Schummeln wäre aber ohne die Bestrafung gar nicht erst möglich geworden, denn erst seit jener Zeit schien sie diese Fähigkeit entdeckt zu haben. Sie stellte sich also vor ihn und schien unschlüssig, was sie nun mit ihren Händen anfangen sollte.
„Ein Mädchen hat gelogen“, stellte er fest.
„Nein“, erwiderte sie. „Du hast mich nur nach den Träumen gefragt und gegen die kann ich nichts tun.“
„Dann hat ein Mädchen eben die Wahrheit verschwiegen.“ Diesmal versuchte sie es gar nicht erst abzustreiten. „Das muss aufhören“, stellte er deshalb klar. „Zumindest so lange, bis ein Mädchen es kontrollieren kann.“ Obwohl ihre Augen durch das Gift getrübt waren, war die Überraschung darin nicht zu übersehen.
„Die Träume bedeuten wohl, dass ein Mädchen nicht immer selbst entscheiden kann, wann es passiert und wann nicht.“
„Ja, ausserdem kann ich in den Träumen nicht bestimmen, was Nymeria macht.“
„Nymeria?“ Sie sah aus als hätte sie etwas zu viel verraten. Anscheinend hatte das Mädchen noch viel mehr Geheimnisse als angenommen.
„Ein Mann verliert langsam die Geduld. Ein Mädchen sollte es nicht zu weit treiben.“
„Na gut. Als mein… Aryas Vater mit ihren Brüdern und ein paar Männern im Wolfswald unterwegs war, fanden sie eine tote Schattenwölfin mit sechs Welpen. Ein Welpe für jedes Starkkind. Wir haben sie grossgezogen. Als mein Vater die Stelle als Hand des Königs annahm und meine Schwester und ich ihn Richtung Süden begleiteten, hat Joffrey mich mit einem Schwert bedroht. Nymeria hat ihn gebissen und ich musste sie verjagen, damit man sie nicht tötet. Seit dem Tag habe ich sie nicht wiedergesehen.“
Am Anfang hatte sie noch versucht so zu tun, als wäre Arya Stark jemand anderes, aber selbst wenn sie es bis zum Ende durchgehalten hätte, hätte er ihr die Lüge nicht geglaubt.
Die Geschichte erklärte aber, warum sie eine solch starke Verbindung mit dem Tier hatte.
„Und das ist alles?“ Sie nickte.
„Hat ein Mädchen die Träume jede Nacht?“
„Fast. Aber es ist anders als mit den Katzen. Ich will ihren Körper gar nicht lenken, es ist mehr, als würde ich alles was sie tut aus ihrem Kopf heraus beobachten.“ Interessant. Wenn sie ausgebildet waren, konnten solche Fähigkeiten sehr nützlich werden um Aufträge, die weit entfernt lagen, rasch und unauffällig zu erledigen. Noch war dies nur Wunschdenken, aber es war eine Möglichkeit.
„Also“, nahm er das Thema wieder auf. „Ein Mädchen darf nicht mehr in den Körper von Katzen schlüpfen, bis ein Mann etwas anderes sagt. Verstanden?“ Sie nickte und er hoffte, dass sie es auch so meinte.
„Gut.“ Er drückte ihr den Besen in die Hand.
Da er selbst wieder einige Aufträge zu erledigen hatte, überliess er es der anderen Priesterin, ein Auge auf Arya zu haben und somit zu sehen, ob diese ihre Abmachung einhielt. Er war sich nicht sicher, ob er sich auf sie verlassen konnte, aber wenn sie es wirklich schaffte, war dies ein Schritt in die richtige Richtung. Er wusste durchaus selbst, wie verlockend es war gewisse Fähigkeiten einzusetzen, doch war es manchmal eine weit wertvollere Fähigkeit, es nicht zu tun.
Diese Gedanken schob er jedoch beiseite, als er einer jungen Frau ein Messer ins Rückgrat rammte. Er achtete darauf, dass die Klinge sofort alle lebenswichtigen Verbindungen durchtrennte, sie war eigentlich schon tot, ehe ihr Körper auf dem Boden aufschlug.
Da sie in der halben Stadt den Ruf hatte ihre Freier nach Strich und Faden auszunehmen und es somit genug Männer gab, die einen Grund gehabt hätten dies zu tun, machte er sich gar nicht erst die Mühe, es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Der Auftrag war von innerhalb des Bordells gekommen.
Er säuberte den blutverschmierten Dolch an der Kleidung der Toten, ehe er ihn an seinem Gürtel verschwinden liess.
„Was macht Ihr da?!“ Eine andere Frau stand am Eingang der Gasse, die Augen schreckgeweitet und sah aus, als könnte sie ihm Probleme bereiten. Ihre Anwesenheit kam ihm aber eigentlich sogar gelegen, er trug nämlich das Aussehen eines Tyroshi. Durch diese Tarnung, zusammen mit der auf den ersten Blick fast stümperhaften Ausführung des Mordes, würde niemanden darauf schliessen lassen, wer der tatsächliche Mörder war und somit auch keine Anhaltspunkte auf den Auftraggeber geben. Oder in diesem Fall eher auf die Auftraggeberin. Manch einer würde es Geldverschwendung nennen, sich für eine einfache Hure von ihnen Hilfe zu holen, aber wer es sich leisten konnte vertraute darauf, dass solche Aufträge ohne Zwischenfälle passierten.
Also spielte er seine Rolle zu Ende, indem er das Messer wieder hervorzog und an die Frau herantrat.
„Es wäre jammerschade, gleich zwei so junge Leben zu vergeuden. Deswegen erwarte ich, dass du bis zehn zählst bevor du zu schreien anfängst, verstanden?“ Das junge Ding nickte völlig verschreckt und er warf ihr noch einen eindringlichen Blick zu, ehe er aus der Gasse verschwand und einen der eher unbekannteren Wege einschlug. Er hatte noch kaum bis vier gezählt, als die Frau um Hilfe zu schreien begann.
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Zurück im Tempel tauschte er die Strassenkleidung gegen seine Robe aus und brachte das Gesicht in die Halle zurück. Ein anderer Diener des vielgesichtigen Gottes war gerade dabei, einige neue Gesichter hinzuzufügen. Eines erkannte er wieder, es war der alte Mann, der vor einigen Wochen hier gewesen war und das Geschenk erbeten hatte.
Viele der Gesichter stammten von Leuten, die den Tod freiwillig gesucht hatten, doch nicht alle.
Im Moment trug er wieder das Gesicht des Lorathi. Ob sein Name wirklich Jaqen H’ghar gewesen war vermochte er nicht zu sagen, aber er war ihm bei einem seiner Aufträge in die Quere gekommen und sein Tod hatte sich nicht vermeiden lassen.
„Schon wieder da?“ Entweder war die Priesterin sehr leise gewesen oder er einfach zu abgelenkt, vielleicht war es auch eine Mischung aus beidem.
„Ja. Dasselbe könnte ein Mann auch zurückgeben. Gab es irgendwelche Probleme?“
„Nein, ich bin ihr jetzt fast eine Woche gefolgt und bis jetzt hat es nie den Anschein erweckt, als wäre da eine Katze mit im Spiel.“ Er nickte zufrieden. Obwohl sie wohl nicht ganz so blind gewesen war, wie er es eigentlich beabsichtigt hatte, schien sie doch vieles dazugelernt zu haben und ihr Gehör sowie ihre Reaktionen schienen besser geworden zu sein. Was nicht hiess, dass sie das Schlimmste schon hinter sich hatte.
„Soll ich schon mal das Gegenmittel vorbereiten?“ Anscheinend hatte sich die Priesterin ähnliche Gedanken gemacht und er nickte.
Als er Arya am nächsten Morgen sah, strahlte sie geradezu. Kurz versuchte sie ihre gute Laune zu verbergen, aber das gelang ihr nicht wirklich und auch er musste kurz grinsen. Hätte er sie damals auf den Teil der Ausbildung vorbereiten können, wäre es auch nicht ganz so schlimm für sie geworden, aber er hoffte, solche Massnahmen nicht wieder ergreifen zu müssen – darauf verlassen konnte er sich jedoch nicht.
Sie trug nun wieder die Kleidung und somit auch die Identität der Muschelverkäuferin Lana. Als Lana und als Beth hatte sie vielleicht dieselben Gesichter getragen, aber es gab in Braavos so viele Leute und so viele die sich ähnelten, dass wohl kaum jemand glauben würde, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte. Dafür waren hier alle zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt.