Trotz der angespannten Umstände in denen sie sich befanden, versuchte er seinen Atem zu beruhigen. Mit Hilfe seiner Gabe machte er sich immer für den nächstgelegenen Gegner unsichtbar. So schaffte er es, bis zu den Seilen vorzudringen, mit denen die Vorräte nach oben gebracht wurden. Dafür, dass er sich vor langer Zeit geschworen hatte seine Fähigkeiten nicht mehr zu gebrauchen, nutzte er sie in letzter Zeit deutlich zu viel für seinen Geschmack.
Barrael und zwei weitere Gesichtslose verschafften ihm Rückendeckung, während er eine Schlinge knüpfte und sie über die Konstruktion warf, an der noch wenige Stunden zuvor der schwere Eisenkessel hing. Hin und wieder musste er hustend innehalten, selbst hier, an der Kante über dem Abgrund war der Rauch äusserst aggressiv.
Während all diesen Vorbereitungen waren auch anderen Rebellen der Gestank und der Rauch aufgefallen. Während die Söldner ruhig blieben, immerhin wussten sie nicht, auf was für einem Pulverfass sie sassen, wurden die Rebellen immer unruhiger. In der aufkommenden Panik gelang es ihnen sogar, den Eingang von ihren Feinden frei zu räumen. Auch Jaqens Bemühungen waren nicht unentdeckt geblieben und die Rebellen stritten sich darum, wer als erster heruntergelassen werden sollte. Barrael setzte sich durch und entschied sich für einen der Verletzten. Sie banden ihm das Seil um die Beine während er seine Hände weiter oben um das Seil schlang. Das Meer unter ihnen war abgesehen von den Trümmern im Moment frei und so liessen sie ihn hinab. Das Seil ächzte zwar, hielt der Belastung aber stand. Allerdings war der Verletzte auch ein Leichtgewicht, was längst nicht auf alle hier oben zutraf.
Während Barrael das Seil wieder nach oben zog, sah er sich nach den anderen Gesichtslosen um. Im Gegensatz zu den Rebellen waren sie alle noch am Kämpfen und verschafften so den anderen genug Zeit zur Flucht. Also liessen sie einen Rebellen nach dem anderen hinab, in erster Linie die Verletzten. Den meisten der gesunden Rebellen ging es zu langsam voran und sie drängten alle zum anderen Ausgang. Jaqen fragte sich, wie viele von ihnen wohl lebend unten ankamen. Wer auch immer das Gleichgewicht verlor, riss alle anderen unter sich mit in den Tod.
Langsam mussten auch die Gesichtslosen sich zurückziehen, der Rauch wurde immer beissender und es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihnen hier alles um die Ohren flog. Barrael dachte offenbar dasselbe, ohne sich abgesprochen zu haben verliessen sie ihre Plätze am Seil. Wer flüchten wollte war bereits geflüchtet und neben den Gesichtslosen war eigentlich nur noch eine Hand voll Rebellen übrig, die den Mut besessen hatten, bis am Ende durchzuhalten. Nun war es kein Kampf mehr um den Sieg zu erringen, sondern ein Kampf ums Überleben.
Gemeinsam kümmerten sie sich um die wenigen verbliebenen Söldner. Erst jetzt, ohne Feinde im Rücken, konnten sie einen geordneten Rückzug antreten. Jedenfalls war es zu beginn noch geordnet. Plötzlich hörten sie ein Zischen hinter sich und selbst ein Grossteil der Gesichtslosen verfielen in Panik. Während alle auf die dünne Treppe zustürmten, nahm er Arya bei Seite und ging mit ihr zum Seil. Es war arg mitgenommen, doch ihr Gewicht würde es sicher noch tragen. Sie erkannte was er vorhatte.
«Und was ist mit dir?»
«Ein Mann wird den anderen Ausgang nehmen, sobald ein Mädchen unten angekommen ist.» Ihr Blick machte deutlich, wie sehr sie diesen Plan missbilligte.
«Dafür wird die Zeit nicht reichen. Wir lassen uns gemeinsam runter, das Seil wird schon halten», entschied sie.
«Wird es nicht. Es bleibt keine Zeit für Diskussionen.» Er konnte den Satz gerade noch zu Ende sprechen, bevor er von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Das Zischen hinter ihnen wurde immer lauter.
«Das sehe ich genauso.» Sie schlang das Seil um sie beide und packte das obere Ende.
«Entweder wir gehen gemeinsam nach unten oder bleiben gemeinsam hier. Aber ich lasse dich nicht alleine hier oben, das ist meine Entscheidung.» Mittlerweile hatte sich der Hustenreiz soweit gelegt, dass er ihr antworten konnte.
«Ein Mädchen könnte auch einfach für einmal einem Befehl folgen.»
«Dieser Befehl kommt aber nicht von dir als Lehrer, sondern von dir als Freund. Und Ratschläge von Freunden darf man auch ablehnen. Also greif endlich das beschissene Seil, damit wir von hier verschwinden können.» Er war zu perplex um ihr sofort eine Antwort geben zu können, ab hier begann sein Überlebensinstinkt und das pragmatische Denken die Oberhand zu gewinnen. Er packte das Seil, wie Arya es ihm befohlen hatte und gemeinsam liessen sie sich Stück für Stück tiefer sinken.
Das Seil ächzte und der Wind liess sie wie ein Pendel hin und her schwingen. Aber nach dem beissenden Rauch der letzten Tage war das eine wahre Wohltat. Mit seiner Sorge sollte er allerdings Recht behalten. Sie waren noch nicht ansatzweise auf Meereshöhe angekommen, als die Spannung des Seils mit einem Ruck nachliess und sie die letzten Meter in die Tiefe stürzten.
Er schaffte es gerade noch so, einmal Luft zu holen, bevor die Wellen über ihnen zusammenschlugen. Der Aufprall presste ihm diese Luft jedoch gleich wieder aus den Lungen und obwohl er bei vollem Bewusstsein blieb, hatte er nicht das Gefühl, sich je wieder bewegen zu können. Aber er gab die Versuche nicht auf und nach einiger Zeit konnte er Arme und Beine wieder benutzen, auch wenn jeder Muskel seines Körpers schmerzte. Im Salzwasser des Meeres war es ihm unmöglich die Augen zu öffnen, darum tastete er nach links um zu spüren, ob Arya noch neben ihm war. Das Seil hatte sie nebeneinandergehalten und er bekam ihre Hand zu fassen. Gemeinsam bewegten sie sich nach oben und er war erleichtert, als sie nach einer gefühlten Ewigkeit die Wasseroberfläche durchbrachen.
Hustend und zitternd schwammen sie Richtung Ufer und mussten sich dort einen Moment hinsetzen, auch wenn sie sich das bei den herrschenden Kämpfen eigentlich nicht erlauben durften. Ihm ging sehr vieles durch den Kopf, aber er bekam keinen der Gedanken wirklich zu fassen. Erst Aryas Worte brachten ihn dazu, sich wieder auf etwas bestimmtes zu konzentrieren.
«Und was jetzt?» Ihre Stimme war heiser, entweder vom Rauch oder weil sie wie er doch einen Teil des Meerwassers verschluckt hatte. Er wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, doch seine Antwort, ging in einem tosenden Krachen unter. Ein Laie hätte das Geräusch von Weitem vielleicht für einen besonders langgezogenen Donner gehalten, doch sie sassen nahe genug um mit eigenen Augen dabei zuzusehen, wie der Titan von Braavos in tausende Einzelteile zerfiel. Die Gesteinsbrocken wurden in alle möglichen Richtungen geschleudert, einige davon schlugen so nahe neben ihnen ein, dass ihnen Wasser ins Gesicht spritzte. Es war erschreckend und faszinierend zugleich.
Um die Gefahr zu mindern, doch noch von einem herumfliegenden Gesteinsbrocken erschlagen zu werden, verliessen sie das Ufer, wenn auch langsam, denn zum rennen wäre im Moment keiner von ihnen in der Lage gewesen. Wie viele von ihnen den Abstieg noch rechtzeitig geschafft hatten, würde sich erst noch zeigen.
Niemals hätte er es für möglich gehalten, Braavos und vor allem dessen Bewohner in einem solchen Zustand zu sehen. Zwischen all den Leichen war kaum noch Boden erkennbar und trotzdem wurde immer weitergekämpft.
«Glaubst du die Kämpfe hören auf, wenn Hestin tot ist? Er wird sich in seinem Palast verschanzt haben», mutmasste Arya. Da waren sie gerade knapp einer Todesfalle entkommen und sie schmiedete bereits wieder Pläne, sich in die nächste zu stürzen.
«Ein Mann glaubt eher, dass er die Stadt längst verlassen hat.» Aber sicher sein konnte er sich dessen nicht und wenn Hestin sich noch in der Stadt befand, war sein Tod der einzige Weg diesen Wahnsinn zu beenden. Sollte er geflohen sein, so gab es zwar eine Atempause, aber dann war es nur eine Frage von Monaten bis er mit einer weitaus grösseren Streitmacht zurückkehrte. Sein Verlangen danach, nochmal den Palast zu betreten hielt sich verständlicherweise in Grenzen, aber Arya erging es dabei wohl kaum anders. Etwas Unbehagen bereitete ihm auch, dass sie hier ohne direkten Auftrag handelten und nicht wussten, ob sie mit dem Tod von Hestin eine weitaus grössere Katastrophe lostraten. Doch um sich lange Gedanken zu machen fehlte ihnen schlichtweg die Zeit und Braavos ging langsam die Kraft aus, auch wenn die Hilfe aus Tyrosh dabei half, das Ganze vielleicht noch etwas hinauszuzögern.
Während des ganzen Weges mussten sie darauf achten, nicht versehentlich auf eine der Leichen zu treten. Sie begegneten auch immer wieder Leuten, die durch die Strassen liefen und die Namen ihrer Liebsten riefen. In Momenten wie diesen war er froh, nie wirklich eine Familie gehabt zu haben, um die er sich sorgen musste. Bis vor wenigen Jahren hätte er sich nicht vorstellen können, sich für einen anderen Menschen ausser sich selbst verantwortlich zu fühlen. Umso unangenehmer war es ihm, dass er es bei Arya nicht lassen konnte, obwohl sie längst erwachsen war und ein solches Misstrauen in ihre Fähigkeiten nicht verdiente. Natürlich besass sie ein sehr ausgeprägtes Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen, doch bisher war es ihr immer erstaunlich gut gelungen, sich da auch wieder heraus zu winden. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass Arya einen anderen Weg einschlug.
«Wohin geht ein Mädchen?»
«Bevor wir uns Hestin vorknöpfen, muss ich Maro etwas zurückgeben.» Ein Teil von ihm war nicht begeistert von dem Gedanken, noch mehr Zeit zu verlieren. Aber was waren schon ein oder zwei Stunden? Wenn Hestin die Stadt verlassen hatte, dann sicher bereits vor Tagen und wenn er sich irgendwo hier verschanzt hielt, würden sie ihn finden.
«Zum Palast geht es aber in die andere Richtung!» Arya und er wandten sich beide zu der Stimme um. Es war Vyro. Wahrscheinlich hatte er aus sicherer Entfernung beobachtet, wie alle aus dem Titan flüchteten und war ihnen so gefolgt.
«Ich will schliesslich nicht, dass ihr alleine die Lorbeeren dafür bekommt.» Wie selbstverständlich trat er zu ihnen.
«Falls du es noch nicht gemerkt hast… Hier gibt es nichts zu gewinnen», zischte Arya. «Wenn du unbedingt jetzt zum Palast willst, dann geh. Wir machen noch einen Umweg.» Damit wandte sie sich ab und ging. Jaqen hielt sich aus dem Streit heraus, was immer zwischen den beiden lag, sie mussten es unter sich klären.
~ ~ ~
Zuerst war ihr selbst nicht ganz klar, was genau an Vyros Auftauchen sie so sehr ärgerte. Aber dann wurde ihr ziemlich schnell klar warum. In diesem Moment kam er ihr vor wie ein Klotz am Bein, jemand mehr, auf den es aufzupassen galt. Und obwohl er in den letzten Tagen nichts getan hatte um ihr Misstrauen zu erregen, musste sie immer daran denken, dass sein Vater für die Gegenseite arbeitete. Auch wenn Vyro zu grossen Teilen verantwortlich für die Rebellion war, das bewies noch lange nicht, wie er zu den Männern ohne Gesicht stand. Ihre Sorgen konnte sie etwas bei Seite schieben, als sie sich dem Haus der Roten Hände näherten. Während Jaqen und Vyro draussen warteten, hielt Arya zielstrebig auf einen der Heiler zu und bat ihn, ihr den Weg zu zeigen.
In dem Raum befanden sich noch ein gutes Dutzend weitere Kinder in Maros Alter. Manche weinten, andere sassen einfach nur da und starrten ins Leere. Sie alle waren in den letzten Tagen entwurzelt worden. Mit etwas Glück fanden einige von ihnen ihre Familien wieder, doch Maro hatte niemanden mehr, zu dem er zurückkehren könnte. Natürlich dachte sie daran, ob er nicht vielleicht bei den Gesichtslosen aufwachsen könnte. Immerhin war sie selbst und die Heimatlose auch noch Kinder gewesen, als sie im Haus von Schwarz und Weiss Zuflucht fanden. Aber Maro war nun wirklich bei weitem zu jung und ausserdem glaubte sie nicht, dass er das Wesen für ein solches Leben hatte. Sie selbst mochte mit ihrer Entscheidung zufrieden sein, aber für Maro wünschte sie sich etwas anderes. Vor allem wünschte sie sich für ihn eine Kindheit, in der er frei sein konnte. Genau deshalb musste sie den Besuch hier so kurz wie möglich halten, damit sie so schnell wie möglich wieder zurück konnte um zu kämpfen.
Sie setzte sich vor Maro auf den Boden und war mehr als überrascht, wie schnell er reagierte. Er stürzte sich in ihre Arme und begann zu weinen. Sie hielt ihn einfach nur fest, bis er sich wieder etwas beruhigt hatte. Dass sie immer noch klatschnass war fiel ihm entweder gar nicht erst auf, oder es war ihm egal.
«Hör zu, Maro. Ich muss gleich wieder weiter.» Er war kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen. Also hielt ihm die kleine Muschel hin, die er ihr damals geschenkt hatte.
«Du musst das für mich aufbewahren. Diese Muschel hat mir in den letzten Tagen sehr viel Glück gebracht, aber ich glaube jetzt brauchst du sie mehr als ich.» In Wahrheit wollte sie sich vergewissern, dass er hier in Sicherheit war und man auf ihn aufpassen würde, falls sie nicht mehr zurückkam.
«Warum bleibst du nicht hier?» Sie strich durch sein zerzaustes Haar. Noch immer machte er keine Anstalten, von ihr weg zu rücken. Im Gegenteil, er klammerte sich nur noch mehr an ihr fest.
«Ich will die bösen Männer bestrafen, die dir und deiner Mutter weh getan haben.» Sie hatte mit weiteren Tränen und Protesten gerechnet, stattdessen löste er sich von ihr und stand auf. Nun waren sie ungefähr auf Augenhöhe.
«Dann komme ich mit», entschied er. Arya gab sich alle Mühe ernst zu bleiben. Jetzt zu lachen hätte Maro sicher nicht besonders erfreut. Stattdessen trug sie ein sehr ernstes Gesicht zur Schau. «Das geht nicht. Wer beschützt dann die Kinder hier?» Das Argument leuchtete ihm offenbar ein. Trotzdem wollte er sie nicht gehen lassen, bis sie ihm das Versprechen abnahm, ihn wieder zu besuchen.
Ihre Begleiter warteten genau dort, wo sie die beiden zurückgelassen hatten. «Gehen wir.»
«Hat überhaupt einer von euch einen Plan, was wir machen, sobald wir den Palast erreicht haben?»
«Darauf hoffen, dass Hestin noch dort ist und seine Wachen einen Fehler begehen», erklärte Arya. Vyro sah sie ungläubig an. «Das ist ein Witz oder?»
«Seche ich so aus, als würde ich Witze machen? Und wenn du es ganz genau wissen willst, frag deinen Vater, der scheint ja über alle Pläne unseres Seelords Bescheid zu wissen.» Sie tat ihm Unrecht, doch im Moment war ihr das völlig egal. So lange er keine bessere Idee hatte, brauchte er ihre nicht zu kritisieren. Vyro reagierte nicht so eingeschnappt wie erwartet. Stattdessen breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. «Das ist es! Ich weiss zwar nicht, was genau mein Vater mit Hestin zu schaffen hat, aber vielleicht können wir durch ihn etwas nützliches erfahren.» Das war ein Angebot, welches sie schlecht ablehnen konnten. Vyros Zuhause lag ohnehin auf dem Weg Richtung Palast. Es blieb nur zu hoffen, dass sein Vater auch wirklich da war. Sie blieben in sicherem Abstand zum Haus stehen. Auch hier lagen vereinzelt Leichen, aber verglichen mit dem Rest der Stadt war alles ausgesprochen sauber.
«Ich denke es ist besser, wenn ihr hier wartet», erklärte Vyro. Arya gefiel der Gedanken zwar nicht sonderlich, aber wahrscheinlich hatte er Recht. Seinem Sohn gegenüber würde er sicher offener sein als seinem Sohn und zwei Fremden gegenüber. Also zogen sie sich in einen möglichst versteckten Winkel der Strasse zurück und warteten auf Vyros Rückkehr. Keiner von ihnen wagte es zu sprechen, die Ruhe in diesem Teil der Stadt fühlte sich noch seltsamer an als der Kampflärm. Sie brauchten nicht lange zu warten.
«Sieh doch!» Sie deutete eine Gestalt, die aus Vyros Haus wegrannte, Vyro selbst war es nicht, das erkannte sie gleich. Ohne sich abzusprechen nahm Jaqen die Verfolgung auf und Arya stürmte ins Haus. Sie musste nicht lange suchen. Im Gegenteil, sie stolperte fast über Vyro der dicht vor der Tür am Boden lag- die Hand auf eine klaffende Wunde in seiner Brust gepresst. Mit jedem Herzschlag wurde die Blutlache grösser. Arya verstärkte mit ihren Händen zwar den Druck, wusste aber, dass es nichts brachte. Vyro wusste es auch.
«Wer war das?», fragte sie.
«Mein Vater.» Sie starrte ihn entgeistert an. «Dein eigener Vater hat dich…»
«Er mochte mich nie besonders. Dass ich auf einer anderen Seite stehe als er hat ihm wohl den Rest gegeben.» Er versuchte zu grinsen, was aber eher in einer schmerzverzerrten Grimasse endete. Ob das nun der körperliche oder der seelische Schmerz war konnte sie nur erahnen. Am liebsten wäre sie sofort wieder verschwunden, um Jaqen bei der Verfolgung zu helfen, doch sie wollte Vyro nicht einfach seinem Schicksal überlassen.
«Kannst du mir einen Gefallen tun?», fragte Vyro irgendwann kleinlaut. Sie nickte und wartete auf seine Bitte, auch wenn sie eine Vermutung hatte, um was es sich handelte.
«Mach, das es schnell geht. Ich will nicht an meinem eigenen Blut ersticken.» Behutsam legte sie eine Hand in seinen Nacken und die andere an seinen Kopf. Es brauchte nur einen kleinen Ruck, die richtige Bewegung und sein Genick brach. Alleine die Tatsache, dass er nicht einmal mehr dazu kam einen überraschten Gesichtsausdruck aufzusetzen zeigte, wie schnell es gegangen war. «Valar Morghulis», flüsterte sie und liess seinen Kopf langsam auf den Boden sinken. Ihre Hände zitterten, nicht aus Schock, sondern aus Wut darüber, dass Vyros Leben nach so vielen Kämpfen ausgerechnet von seinem eigenen Vater ausgelöscht worden war. Währenddessen hofften da draussen tausende darauf, ihre Kinder lebend wieder zu sehen.
Vor der Tür kam ihr bereits Jaqen entgegen, alleine. «Ist er entkommen?», fragte sie enttäuscht. Zu gerne hätte sie Vyros Vater ins Gesicht gespuckt und ihm vielleicht auch noch verraten, welch eine wichtige Rolle sein Sohn in der Rebellion gehabt hatte. Bevor sie ihm eine ähnliche Wunde beigebracht hätte, wie er seinem Sohn, nur deutlich langsamer, damit er auch ja alles mitbekam.
«So ähnlich. Ein Mann konnte noch die Information aus ihm herausbringen, dass Hestin geflohen ist. Danach hat er sich selbst gerichtet.» Das kam unerwartet. Dann war also alles umsonst gewesen. Ausser Vyros Tod hatten sie nichts erreicht.
Um sie herum war es noch ruhiger geworden, um nicht zu sagen wirklich still. Sie gingen zurück zum Hafen. Die dortigen Kämpfe waren nun völlig zum Erliegen gekommen. Dass es ihre Seite war die gesiegt hatte, hob ihre Stimmung nicht im Geringsten. Es gab hier keine wirklichen Gewinner, nur Verlierer. Fröstelnd schlang sie die Arme um sich und schloss die Augen, nur um all das Leid nicht mehr länger sehen zu müssen.
~
Es dauerte noch vier ganze weitere Tage, bis auch die letzten Kämpfe ausgefochten waren und Ruhe einkehrte. Keine angenehme Ruhe, sondern eine bedrückende. Während anfangs noch Rufe und Schluchzen zu hören war, erstarb selbst das nach zwei weiteren Tagen. Was blieb waren die Stille, verlassene Strassen und tausende Grabhügel.
Wie viele Tote es genau waren, konnte keiner sagen. Aber geschätzt wurde, dass mindestens ein Drittel der Bevölkerung ihr Leben verloren hatte. So viele zerstörte Menschenleben. Und dabei dachte sie nicht an die Toten selbst, sondern an diejenigen, die sie zurückliessen, Familien, die trauerten und mit ihren Kräften am Ende waren.
Arya konnte sich nicht mal darüber freuen, dass sie nun den Tempel wieder in ihren Besitz gebracht hatten und das Aufräumen bot auch keine wirkliche Ablenkung. Egal wohin sie ging, innerhalb oder ausserhalb des Tempels, überall haftete Leid. Sie fühlte sich irgendwie leer. Vor ihr lag eine Zukunft als Auftragsmörderin und trotzdem hatte sie im Moment das Gefühl, keine weiteren Toten sehen zu können.
Das erste was Jaqen und die Heimatlose taten, nachdem es so etwas wie einen offiziellen Waffenstillstand gab, war alle verbliebenen Gesichtslosen zusammen zu rufen. Waren es vor dem Krieg noch etwa vierzig gewesen, war es nun noch die Hälfte. Und Sera war nicht dabei, was Arya betroffener machte als erwartet. Wirklich freundschaftliche Gefühle gab es zwischen ihnen nie, doch Sera hatte zu denjenigen gehört, die Aryas Art zu denken und zu handeln kritisiert- aber nie wirklich in Frage gestellt hatten. Und sie war das beste Beispiel dafür gewesen, dass jeder mit genug Wille kämpfen konnte, egal ob ihm nun eine Gliedmasse fehlte oder nicht.
Da sie ohnehin wach lag, merkte sie sofort, als die Tür zu ihrer Kammer geöffnet wurde. Sie setzte sich auf und war gespannt, was die nächtliche Störung bedeutete. Ihr Köper hatte sich immer noch nicht ganz von den Strapazen der letzten Wochen erholt, aber natürlich war das keine Ausrede. Zu ihrer Überraschung blieb Jaqen am Eingang stehen und sah sie für eine Weile nur durchdringend an. «Es wird Zeit, dass ein Mädchen die letzte Prüfung ablegt.»