Der eiserne Titan von Braavos war schon seit Stunden hinter dem Bug des grossen Handelsschiffes verschwunden, was Arya nicht davon abhielt, weiter in die nördliche Richtung zu starren. Gedanklich war sie immer noch bei den letzten beiden Tagen- und den vielen ungewissen Monaten, die nun vor ihnen lagen. Jaqen hatte ihr gleich am Tag nach Mojos Angriff eröffnet, dass sie zuerst nach Lys- und dann nach Asshai aufbrachen.
Sie war so verwundert gewesen, dass sie gar nicht gewusst hatte, welche Frage sie als erstes stellen sollte. Offensichtlich gar keine, denn er war nicht gewillt, ihr irgendetwas zu erzählen. Er war selbst für seine Verhältnisse schweigsam und wenn sie sich nicht täuschte, war er auch schlecht gelaunt. Doch es fiel ihr hin und wieder leichter, sich in Neugierde zu üben, als ihr Temperament zu bändigen. Also wartete sie einfach schweigend und versuchte stattdessen, ihre eigenen Schlüsse daraus zu ziehen.
Zweifelsohne hatte es mit irgendeinem Auftrag zu tun. Wie dieser aussah und warum sie danach noch weiter nach Asshai segelten, wusste sie jedoch nicht. Da sie jedoch glaubte, dass Jaqen sie nicht die ganze Schiffsfahrt hindurch anschweigen konnte – auch wenn sie sich dessen alles andere als sicher war – wartete sie auf einen geeigneten Moment, um zumindest einen Teil ihrer Fragen beantworten zu lassen. Zum Beispiel diejenige, warum er sie begleitete. Den Auftrag in Lorath hatte sie ja auch alleine ausgeführt.
Allzu unglücklich war sie darüber trotzdem nicht, alle Geschichten über Asshai lauteten anders, aber die meisten hatten mit Magie, einem dunklen Ort und schwarzem Stein zu tun. Die Stadt hatte einen zweifelhaften Ruf und war der östlichste bewohnte Ort der ihnen bekannten Welt. Arya war klar gewesen, dass sie in ihrem Leben noch weit reisen würde, dennoch hätte sie sich nie erträumen lassen, Asshai eines Tages mit eigenen Augen zu sehen.
Als sie die Stimmen der arbeitenden Matrosen hinter sich vernahm, wandte sie sich um und bereute die schnelle Bewegung sogleich. Auch wenn ihr nichts ernsthaftes zugestossen war, die Platzwunden an ihrem Hinterkopf und die geprellten Rippen konnte sie nicht einfach so ignorieren.
Mit einem letzten Blick zur strudelnden Wasseroberfläche und den sich auftürmenden Wolken wandte sie sich um und ging in ihre Kajüte, die sie sich mit der Tochter des Kochs teilte. Sie hatte ihre Zimmergenossin noch nicht gesehen und war auch nicht erpicht darauf. So hatte sie nochmals die Gelegenheit einen Blick auf die Waffen zu werfen, die sie eingepackt hatte. Neben einem Messer, das sie ohnehin immer nahe am Körper trug, hatte sie auch ein Kurzschwert unter ihrer Kleidung versteckt.
Kein Schwert konnte Nadel ersetzen, aber mit einer längeren Klinge in der Hand fühlte sie sich immer noch am wohlsten und die Waffenauswahl im Tempel liess nichts zu wünschen übrig.
Mehr hatte sie diesmal nicht mitnehmen dürfen. Sie waren mindestens zwei Jahre unterwegs und Arya vermutete, dass Jaqen selbst mehr als genug Waffen bei sich trug, auch wenn sie keine davon zu Gesicht bekommen hatte.
Sie verstaute alles in der Truhe vor ihrem Bett und streckte sich dann auf ihrer Pritsche aus. Jaqen war schon kurz nachdem sie abgelegt hatten verschwunden und so ging sie nicht davon aus, dass es heute für sie noch etwas zu tun gab. Das leichte Schaukeln des Schiffes und das Rauschen der Wellen, lullten sie nach und nach ein, bis sie langsam einnickte.
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Der Morgen machte sich erst durch einen kleinen Lichtschimmer am östlichen Horizont bemerkbar, als sie in Lys anlegten. Trotz einiger Fackeln und dem Licht, welches aus einzelnen Häusern drang, war die Stadt grösstenteils in vollkommene Dunkelheit gehüllt. Daran änderte sich auch nichts, wenn man die Augen leicht zusammenkniff, so wie Arya es gerade neben ihm tat.
Sie schwiegen den ganzen Weg über, auch wenn dies eher seine Schuld war. Am Anfang ihrer Reise hatte sie noch versucht, so viel wie möglich von ihm zu erfahren. Doch nach rund zwei Wochen hatte sie dieses Unterfangen aufgegeben und war dazu übergegangen, die Besatzung auszufragen. Diese hatte nur allzu bereitwillig Auskunft gegeben, es gab kaum einen Seemann, der es nicht mochte, von seinen Reisen und allen Orten, die er gesehen hatte zu erzählen.
Er konnte sie nicht für den ganzen Rest der Reise anschweigen, zumal sie gar nichts für seine Misere konnte. Aber hätte er einen Vergleich machen müssen, so käme seine einstige Abneigung gegen die Stadt Asshai jener, die Arya gegen die Lannisters hegte, ziemlich nahe. Obwohl er diese Abneigungen schon vor Jahren abgelegt hatte, das Zusammentreffen mit Quaithe und der Auftrag der vor ihm lag, machten es ihm nicht leicht seine Gleichgültigkeit aufrecht zu erhalten.
Doch noch waren sie nicht in Asshai und es war seine Aufgabe, Arya etwas beizubringen, also verdrängte er den Gedanken daran. Hier an Land war die Zerstreuung ohnehin grösser als auf einem Schiff, auf dem ihm nichts anderes übrig blieb, als abzuwarten. Die Verzögerung in Aryas Training war nämlich nicht das Ergebnis seiner schlechten Laune, sondern ihrer angebrochenen Rippe, die erst noch richtig verheilen musste.
Zielstrebig bewegte er sich durch das Netz der Gassen, ihr Gepäck hatten sie bereits verstaut. Sie hatten zwar nur das Nötigste mitgenommen, doch auch die unauffälligste Verkleidung nütze wenig, wenn man sich mit so etwas einfachem wie Gepäck verriet. Entgegen seines ursprünglichen Plans wollte er nämlich zuerst wissen, ob ihr Auftraggeber sich noch am selben Ort befand, wie in den Briefen beschrieben. Ausserdem musste der Preis im Voraus bezahlt werden.
Daher dauerte es auch nicht lange, bis sie sich in einem Geschäft im Herzen der Stadt wiederfanden.
Die Regale waren überfüllt mit allerlei Gegenständen, manches davon sah recht wertvoll aus. Wirklich befürchten mussten die Händler trotzdem nichts. So lange sich die Händler nicht auffällig anstellten, brauchten sie kaum etwas zu befürchten. Die Hälfte der Wachen gehörte nämlich selbst zu ihren Kunden oder liessen sich bestechen.
Der Laden wirkte schon fast schäbig, war aber nur ein kleiner Teil der Organisation, die wirklich dahinter stand. Für die Verhandlungen hatten sie sich in einen hinteren Teil des Raumes zurückgezogen. Diesmal kümmerte sich Arya nicht um die Kuriositäten, sondern konzentrierte sich ganz und gar auf das Gespräch. Ihrem Auftraggeber entging das keineswegs und die Skepsis stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hütete sich jedoch dies auszusprechen und räusperte sich schliesslich.
„Ich habe in meinem Brief erwähnt, dass ich durchaus in der Lage bin zu zahlen. Ich könnte jeden Monat-“ „Keine Abmachungen. Entweder ein Händler bezahlt sofort, oder er lässt es ganz bleiben.“ Der Versuch war ohnehin nur halbherzig gewesen, wahrscheinlich wusste er, dass man mit ihnen nicht verhandelte.
„Wie viel wollt Ihr genau?“
„Zuerst muss ein Mann wissen, um wen es geht.“ Je höher das Risiko, desto höher der Preis.
„Meinen Sohn.“
Er schwieg. Es lag nicht an ihm, darüber zu richten, er sollte den Mord nur ausführen. Das Einzige was er sich fragte war, warum ausgerechnet sie dafür angeheuert wurden. Es gab überall Auftragsmörder und als Vater des Kindes hätte sein Gegenüber sicherlich selbst mehr als genug Möglichkeiten gehabt, dies zu tun.
Auch wenn er die Frage nie laut ausgesprochen hätte, so erhielt er doch eine Antwort darauf.
„Seine Mutter ist die Tochter eines… Nun, sagen wir, er ist nicht unbedingt mein Freund. Und sie ist zwar recht hübsch anzusehen, aber ziemlich dumm, sonst hätte sie dafür gesorgt, dass es keinen Bastard gibt. Er hat mich gezwungen, ihn offiziell als meinen Sohn anzuerkennen und das habe ich auch getan. Nur war ich zu blauäugig um zu sehen, warum er darauf beharrt hat.“ Während seiner Erzählung erhob er sich und streifte unruhig im Raum umher, ehe er eine Flasche und ein Glas fand. Kurz blickte er fragend zu ihnen herüber, doch sie schüttelten beide den Kopf.
Nachdem er sich ein grosszügiges Glas eingeschenkt hatte, setzte sich der Händler wieder und fuhr fort.
„Ich habe keine anderen Kinder. Wenn ich sterbe, geht mein Erbe an den Bastard über und bis er erwachsen ist an den nächsten männlichen Verwandten. Also seinen Grossvater.“ Er lachte bitter. „Wahrscheinlich hat der alte Teufel für die Leibwachen und Vorkoster ebenso viel bezahlt, wie ich für euch. Jedenfalls ist das Kind jetzt schon neun, obwohl ich ihn schon seit sechs Jahren loswerden will. Es ist nur noch die Frage, ob ich ihn- oder sein Grossvater mich zuerst unter die Erde bringt.“ Er leerte das Glas, was dem Gesichtslosen die Gelegenheit gab, wieder zum eigentlichen Grund seines Auftauchens zurückzukehren.
„Wie hoch ist Euer Vermögen?“
„Fünfzig Goldstücke.“ Er log noch schlechter als Arya früher.
„Das hier ist kein Handel. Wenn ein Händler sparen will, sollte er sich einen Söldner holen.“ Der Gesichtslose erhob sich und auch wenn er es nicht zugegeben hätte, ein kleiner Teil hoffte, dass der Händler seinen Rat tatsächlich beherzigte, denn ein Kind umbringen war selbst für ihn nicht alltäglich.
„Fünftausend Goldstücke.“ Der Händler sah ihm direkt in die Augen, sein Blick verriet zwar Wut, aber es lag nichts als die Wahrheit darin. Er war bereit sein Leben mit dem seines Sohnes zu erkaufen, auch wenn es ihn den Grossteil seines Vermögens kostete.
„Dreitausendfünfhundert Goldstücke.“ Der Händler erblasste und öffnete den Mund als wolle er protestieren, schloss ihn dann aber doch wieder, weil ihm offensichtlich die Worte fehlten. Dennoch dauerte sein Zögern nicht sehr lange.
„Gut. Ich bezahle.“
„Ihr habt drei Tage.“
Damit war alles gesagt und er verliess den Laden, dicht gefolgt von Arya, deren Gesichtsausdruck schwer zu deuten war. Er hatte damit gerechnet, dass sie wütend über die Ungerechtigkeit war, die ein solcher Mord darstellte und sich schon fast die Worte zurechtgelegt, um sie zu beschwichtigen. Aber sie war nicht wütend, nachdenklich traf es eher.
Bis sie das Geld erhielten – dessen konnte er sich noch immer nicht sicher sein – blieb genug Zeit, um ihr das Wichtigste zu zeigen.
Er erklärte ihr, wie die Stadt aufgebaut war, wo sich die bekanntesten Gebäude befanden und wie das System der Nebengassen hier funktionierte. Danach liess er sie die Wege alleine Suchen und vereinbarte einen Treffpunkt, an dem sie sich wiederfinden sollten. So konnte er die Zeit nutzen und sich genau zu überlegen, wie er sie auf den nächsten Teil ihrer Ausbildung vorbereiten konnte.
Es war kein Zufall, dass der Priester sie ausgerechnet nach Lys geschickt hatte. Arya war kein Kind mehr und irgendwann musste sie sich die Eigenschaften als Frau zu Nutze machen, um Aufträge auszuführen. Dieses Los hatten nicht nur die weiblichen Mitglieder der Gilde, aber Arya war nun mal die Jüngste von ihnen und in diesem Punkt vollkommen unerfahren.
Während die Gottesdiener vieler Religionen den fleischlichen Gelüsten abschworen um ihrem Gott zu dienen, hielten die Männer ohne Gesicht es für das Beste, sie richtig einzusetzen um das zu tun. Er wollte es Arya ersparen, dass sie ihre ersten Erfahrungen bei einem solchen Auftrag machte, also musste sie diese an einem anderen Ort sammeln. Und wo konnte man das besser als in einer Stadt, die für ihre Freudenhäuser berühmt war?
Egal wie er es anstellte, er wusste jetzt schon, dass ihm eine schwierige Diskussion bevorstand. Bei all dem was sie schon gesehen hatte, konnte sie sich wohl kaum vorstellen, welche Vorteile es für eine Frau haben konnte, sich mit einem Mann einzulassen. Dort wo sie herkam, war es für viele Frauen lediglich ein Weg, einen Erben zu empfangen. Ein weiterer Grund weshalb er wollte, dass sie irgendwo hier ihre ersten Erfahrungen sammelte, in Freudenhäusern waren sie nämlich nur darum bemüht, die Bedürfnisse ihrer Kundschaft zu befriedigen. Bei ihren Aufträgen spielten ihre Bedürfnisse zwar auch keine Rolle, aber wenn sie ihr ganzes Leben lang nur schlechte Erlebnisse damit in Verbindung brachte, konnte sie auch die Aufträge nicht richtig ausführen.
Während er nach Arya Ausschau hielt, blieb sein Blick immer wieder an den anderen Menschen haften. Dieser Stadtteil wurde eher von Familien und ärmeren Leuten bevölkert, dennoch wirkten viele von ihnen glücklicher, als in den wohlhabenden Gegenden. Die Leute hier gaben sich mit weniger zufrieden, die Kinder spielten mit einem Stoffball, der aussah, als wäre er schon unzählige Male wieder zusammengeflickt worden.
Es waren fünf Jungen und zwei Mädchen. Sie alle waren etwa im selben Alter wie sein nächstes Opfer. Denn er war sich ziemlich sicher, dass ihr Auftraggeber das Geld auftrieb. Was nützte ihm all sein Geld, wenn er tot war? Lieber gab er drei Viertel davon ab und sah seinen verbliebenen Reichtum vorerst gesichert. Den faden Beigeschmack des Gedankens, einmal mehr das Blut eines Kindes an den eigenen Händen zu wissen, ignorierte er. Es wäre nicht das erste und sicher nicht das letzte Mal, dass ein Kind durch seine Hand starb. Es wäre das dreiundzwanzigste Mal.
Er konnte nicht sagen wie viele Frauen und Männer er schon getötet hatte, aber die Kinder brannten sich jedes Mal ganz besonders in sein Gedächtnis. Was nicht hiess, dass er deshalb schlechter geschlafen hätte. Vielleicht war das Erschreckendste an all dem, wie gleichgültig es ihm war. Er schätzte das Leben und er diente dem Tod. So einfach war das.
Der Auftrag war nicht eindeutig ihm übergeben worden, Arya hätte es auch tun können. Er zweifelte nicht daran, dass sie dazu in der Lage war. Aber die nächsten Wochen und Monate würden auch so noch genug für sie bereithalten. Für sie beide.
„Die Gassen sind ja noch verzwickter als in Braavos.“ Er liess sich sein Erstaunen über ihr plötzliches Auftauchen nicht anmerken. Von allem was sie bis jetzt gelernt hatte, gelang ihr das Anschleichen mit Abstand am besten.
„Jede Stadt offenbart ihre Rätsel, wenn man erst lange genug in ihr lebt.“ Er setzte sich in Bewegung und sie folgte ihm, bevor sie sich umwandten blieb auch ihr Blick kurz an den spielenden Kindern haften.
„Glaubst du er wird zahlen?“
„Wenn er sein Vermögen so schnell in Gold umtauschen kann, dann ja.“
Sie gingen am Rande des Marktes entlang, er war sich noch nicht gänzlich sicher, mit welcher Aufgabe er sie als nächstes beschäftigen wollte. Als sie einen Bogen um ein Pärchen machen mussten, welches sich hemmungslos und ohne auf die Menschen zu achten ineinander verkrallt hatte, entschloss er sich, seine Gedanken von vorhin wieder aufzunehmen.
„Ein Mädchen weiss, wofür Lys bekannt ist.“
„Huren.“ Die Antwort kam schnell und ziemlich gleichgültig. Er nickte.
„Vorzugsweise die weiblichen. Aber es gibt durchaus auch Männer, die diesem Gewerbe nachgehen.“ Ihr blick verriet, dass sie nicht recht wusste, worauf er nun hinauswollte.
„Ein Mädchen muss früher oder später lernen, was es heisst, mit Männern zusammen zu liegen.“
„Da gibt es nicht viel zu wissen.“ Ihre Antwort war knapp und endgültig. Er seufzte. Auch wenn die Ablehnung für diese Angelegenheit nicht unerwartet kam, so hätte es ihm das ganze doch erleichtert, wenn sie sich nicht von vorne herein stur gestellt hätte. Sie war nur dann wirklich erpicht darauf etwas zu lernen, wenn es zu ihrem eigenen Vorteil war.
„Es gibt überall irgendetwas zu wissen. Ein Mädchen sollte sich nicht über alles ein Urteil bilden, was es nicht versteht. Nicht alle Männer sind grob und nicht alles eine Vergewaltigung.“ Als wolle er seine Worte unterstreichen wandte er sich nochmal zu dem Pärchen um und Arya folgte ihrem Blick, mittlerweile hatte der Jüngling seine Hände unter den Rock der Frau geschoben, die das sichtlich genoss und sich an ihn presste. Kurz danach waren sie in einer Nebengasse verschwunden.
„Ist so etwas nicht verboten? So lange es nicht zu einem Auftrag gehört.“ Er hätte beinahe aufgelacht. Als ob sie sich um Regeln scheren würde.
„In diesem Fall würde es zur Ausbildung gehören.“
„Das heisst also ich soll mir irgendwo eine männliche Hure suchen. Ziemliche Geldverschwendung.“ Nun konnte er nicht mehr anders als leise in sich hineinzulachen.
„Was ist so witzig?“ Sie war genervt und verbarg es nicht im Geringsten.
„Nichts“, entgegnete er.
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Das Schweigen, welches auf dieses Gespräch folgte, kam ihr sehr gelegen. Sie musste ihre Gedanken erstmal ordnen. Warum sollte es ihr helfen, sich schon vor einem Auftrag damit zu befassen? So schwer konnte es ja nicht sein.
Sie war nicht blind, nun ja, jedenfalls nicht mehr. Somit war sie durchaus in der Lage hässliche von schönen Männern zu unterscheiden, aber sie hatte nie das Gefühl gehabt, sich einem von ihnen körperlich nähern zu wollen, auch nicht bei den jungen Wachen von Braavos, von denen einige durchaus nett gewesen waren. Zum einen lag es sicher daran, dass sie mit dem Bewusstsein lebte, nie mehr tiefere Gefühle für etwas oder jemanden hegen zu dürfen. Zugleich kam ihr dies auch gelegen, denn sie wollte auch nie wieder jemanden so sehr mögen, dass es ihr wehtat, wenn er starb.
Das was in den Bordellen geschah hatte nichts mit Liebe zu tun, dessen war sie sich bewusst, aber dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie jemals so etwas wie Gefallen daran finden würde, egal wie angetan die junge Frau zuvor gewirkt hatte.
Jaqen verbrachte auch den Rest des Nachmittages damit, ihr die Stadt zu erklären und Orte zu zeigen, daher konnte sie eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema noch etwas hinausschieben. Als sie dann aber nach dem Abendessen in ihrem Zimmer rastlos auf und ab ging, versuchte sie ein anders Gefühl zu verdrängen. Neugierde. Sie fragte sich, welches der zahlreichen Gefühle in ihr nun überwog. An den Gedanken ihrer Jungfräulichkeit an sich verschwendete sie keinen Gedanken. Hätte ihre Mutter sehen können, was sie im Moment dachte… Sie blieb stehen und ihre Kehle war auf einmal staubtrocken. Denn als sie an ihre Mutter gedacht hatte, war nicht etwa die Frau mit braunem Haar und blauen Augen in ihren Gedanken aufgetaucht, sondern dieses Etwas, von dem sie immer noch nicht wusste, was genau es war. Wenn sie sich schon erinnern musste, warum an dieses Ding?
Noch ehe sie recht wusste was sie tat, steckte sie ihr Messer und ein paar Münzen ein, bevor sie das Wirtshaus verliess. Sie machte sich nicht die Mühe Jaqen zu informieren, sie wusste ja selbst nicht, wo genau sie hinwollte. Lüge. Eigentlich wusste sie es sogar ganz genau. Aber sie dachte lieber nicht darüber nach, sonst hätte sie sich am Ende doch noch umentschieden.
In Lys nach einem Bordell zu suchen war wie die Suche nach einem Fischmarkt in Braavos. Es gab mehr Auswahl, als einem lieb war und es gab sowohl gute als auch schlechte Ware. Nur war Arya auf diesem Gebiet viel zu unerfahren, als das sie wirklich gezielt nach etwas suchte. Sie beobachtete die Leute, nur waren es fast ausnahmslos Frauen, die zu sehen waren. Ein paar Männer gab es zwar auch und die meisten waren etwa in ihrem Alter, dennoch sprach sie keinen von ihnen an. Tatsächlich war es letzten Endes eher umgekehrt.
„Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“ Das Grinsen des jungen Mannes liess keinen Zweifel daran, dass er sich seines Auftretens durchaus bewusst war. Dennoch wirkte er weder überheblich, noch aufdringlich.
„Ich weiss es nicht“, erwiderte sie nur wahrheitsgemäss.
„Ich kann es ja mal versuchen.“
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Sie hatten sich am nächsten Tag wortlos auf den Weg gemacht. Ein Bote hatte ihm die Nachricht überbracht, dass sein Auftraggeber das Geld beisammen hatte. Nun würde er es zählen und dann einem Mittelsmann übergeben, der es nach Braavos brachte. Selbst wenn alles schnell ging dauerte es noch über ein Jahr, bis sie wieder zurückkehrten und es war töricht, so viel Geld mit sich herumzuschleppen. Natürlich machte sich der Bote erst auf den Weg, sobald der Auftrag erfolgreich ausgeführt war.
Arya hatte an diesem Morgen noch kein Wort gesprochen und wenn er dies in Verbindung mit ihrem nächtlichen Verschwinden richtig deutete, tat sie das in näherer Zukunft auch nicht. Es überraschte ihn, dass sie seinem Rat nachgekommen war, aber da sie eher in Gedanken versunken als verschlossen wirkte, nahm er nicht an, dass es allzu schlimm gewesen war. Lediglich etwas musste er wissen, um grösseren Unannehmlichkeiten vorzubeugen.
„Hat ein Mädchen eine Heilerin aufgesucht?“ Ihr Blick war Antwort genug. Ausserdem war sie spätestens seit dieser Nacht kein Mädchen mehr. Eigentlich schon länger. Dennoch fiel es ihm noch immer schwer etwas anderes als die kurzhaarige kleine Arry in ihr zu sehen, die damals einen ihrer Weggefährten, der über einen Kopf grösser gewesen war, mit einem Stock windelweich geprügelt hatte, anderes Gesicht hin oder her. In diesem Moment fragte er sich, ob es wirklich nur sie war, der es schwer viel ihre Identität loszulassen oder er, der in ihr noch immer das Mädchen von damals sah.
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Wie erwartet hielt der Auftrag keine wirklichen Überraschungen für ihn bereit. Tatsächlich waren die Leibwachen, die der Grossvater des Jungen angeheuert hatte besser als so manch andere, die er bei seinen Aufträgen erlebt hatte. Aber nicht gut genug.
Und gerade mal eine Woche nachdem sie in Lys angelegt hatten, befanden sie sich wieder auf einem Handelsschiff, welches sie weiter nach Osten brachte. Bis nach Asshai.
Aryas Wunden waren in der Zwischenzeit vollkommen verheilt, sodass er die folgenden Wochen nutzte, um sie weiter im Nahkampf zu trainieren. Die Bedingungen dafür waren nicht gerade ideal, dieses Schiff beherbergte mehr Passagiere und so war es nicht immer einfach, einen ruhigen und genügend grossen Platz zu finden. War es ihnen einmal nicht möglich, versuchte er ihr die Handelssprache beizubringen. Es war ein Dialekt, der von den verschiedensten Händlern gesprochen wurde. Er war zwar nicht sehr weit verbreitet, konnte einem in Notsituationen aber gute Dienste leisten.
„Wann gehen wir das nächste Mal an Land?“, fragte sie eines Abends und blickte auf das Meer hinaus.
„In ein oder zwei Tagen.“ Ihr Gesichtsausdruck liess erahnen, dass sie sich gerade an eine Landkarte zu erinnern versuchte.
„Das heisst also wir gehen in Qarth an Land?“
„Nein. Der Kapitän muss noch einige Händler in Gross Moraq abholen, daher nehmen wir die Zimtstrasse.“ Ob es ihm nun behagte oder nicht, so gut wie das Wetter im Moment war, erreichten sie Asshai in weniger als drei Wochen.
Arya lehnte sich über die Reling während ihr braunes Haar vom Wind zerzaust wurde. Sie beide hatten ihre Gesichter nach dem Auftrag wieder gewechselt. Er selbst trug wieder das des Lorathi, während Arya ihr eigenes trug. Für Akolythen war das üblich so, erst wer alle Prüfungen gemeistert und aus dem kalten Becher getrunken hatte, durfte sich der Gesichter bedienen. Alle Akolythen waren auf Erlaubnis angewiesen, ehe sie eines tragen durften.
„Was soll ich dort lernen?“ Sie hatte sich zu ihm umgewandt. „Ich meine, wenn ich in Nymerias Körper wechsle… Wie soll jemand anderes mir dabei helfen können? Und woher weisst du überhaupt, dass es dort jemanden gibt, der mir helfen kann?“
Nachdem sie ihn wochenlang mit der Frage belagert hatte, war ihm nichts mehr anderes übriggeblieben, als ihr die Wahrheit zu erzählen. Dass sie lernen sollte, ihre Gabe zu zügeln und gezielt einzusetzen. Diese Art von Magie hatte er nie beherrscht und er wusste nicht, mit welchen Methoden Quaithe versuchen würde, ihr zu helfen.
„Ich weiss nicht, was du gegen Asshai hast, oder warum du so schlecht gelaunt bist. Aber wenn es irgendetwas ist, das ich wissen sollte, wäre ich froh, wenn du mir Bescheid gibst.“ Wieder schwieg er, allerdings eher, weil er über ihre direkte, schon fast anmassende Aussage verblüfft war. Ein anderes Mal hätte er sie vielleicht auch zu Recht gewiesen, nur hatte sie mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen.
Langsam erhob er sich von der Kiste, auf der er gesessen hatte und trat zu ihr an die Reling.
„Asshai ist keine der normalen freien Städte“, erwiderte er. „Asshai ist ein Ort der Magie, gewöhnliche, aber auch dunkle.“ Sie wirte wenig überrascht. Sie war aber sicherlich nur so gelassen, weil sie noch nie mit wirklich schwarzer Magie in Berührung gekommen war. Die kleine Illusion, die er bei ihrer Erblindung angewandt hatte, zählte noch lange nicht dazu. Sie erwiderte seinen Blick ungerührt. „Was macht dir nur solche Angst?“
„Nichts.“ Es war keine Angst die ihn plagte, eher ein Unbehagen. Eine Vorahnung.
„Und das soll ich dir glauben?“
Ein bitteres Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Ein Mädchen würde sowieso nur jede Warnung in den Wind schlagen.“ Sie öffnete den Mund, als wolle sie protestieren, schloss ihn dann aber wieder. Zumindest versuchte sie nicht, ihn anzulügen. Trotzdem hatte sie Recht. Es gab zwei Dinge, die sie wissen musste. Wenn sie starrsinnig genug war um seine Ratschläge zu ignorieren, musste sie eben mit den Konsequenzen leben.
„Viele, die schon seit Jahren in Asshai leben, wollten nur kurz dort bleiben. Die Magie kann eine gewisse Anziehungskraft ausüben.“ Sie erwiderte nichts und er fuhr fort.
„Und es ist kein Ort, den man in der Nacht erkunden sollte.“ Magie war niemals harmlos, aber allen voran am gefährlichsten war noch immer die Blut-Magie. Diese Art von Magie war der Grund, warum er Asshai mied- und zu fürchten gelernt hatte. Natürlich wurde diese Art von Magie nicht nur dort praktiziert, aber nirgendwo sonst in einem solchen Ausmass.
Für einmal wirkte sie tatsächlich so, als nehme sie seine Warnung ernst und er hoffte, dass es auch so blieb. Sein Auftrag brauchte schon genug Aufmerksamkeit, da wollte er sich nicht auch noch um sie zu sorgen brauchen.
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Bisher war sie von jeder neuen Stadt die sie gesehen hatte fasziniert gewesen. Auch die freien Städte, die sich in ihrer Mentalität oft ähnelten, waren jede auf ihre Weise speziell. Doch alle Orte, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte, wurden von Asshai in den Schatten gestellt. Und das im wörtlichen Sinne.
Bereits als sie sich mit dem Schiff der Küste näherten, veränderten sich die Stimmung und der Himmel, der auf dem offenen Meer oftmals wolkenlos war, verdunkelte sich.
Die Mauern der Gebäude waren tatsächlich so pechschwarz wie man sich erzählte und wirkten in dem dämmrigen Licht sogar noch dunkler. Alles war irgendwie dumpf. Zwar waren auch hier Leute zu sehen, allerdings deutlich weniger als in den freien Städten.
Während sie sich durch die Strassen schlängelte, achtete sie darauf, sich nicht zu weit von Jaqen zu entfernen. Sie hatte nicht direkt Angst, es war eher ein Frösteln, das trotz der schwülen Wärme Besitz von ihr ergriffen hatte.
Vor einem grossen Anwesen mit einem eiserenen Zaun darum herum blieben sie stehen. Wenn man ihn denn so nennen konnte. Viel eher waren es eiserne Pfosten, die jedoch so weit auseinander standen, dass sie sich vielleicht sogar hätte hindurchdrängen können. Dennoch wurde das Gelände das dahinter lag durch ein Tor abgetrennt und dieses war es auch, welches Jaqen nun ansteuerte.
Es schwang auf, noch ehe sie es ganz erreicht hatten, trotzdem blieb er kurz stehen, bevor er hindurchtrat.
Im Inneren des Geländes wurden sie bereits von einer Frau erwartet. In ihren Augen wirkte die Gestalt zumindest wie diejenige einer Frau, denn ihr Gesicht wurde durch eine blutrote Maske bedeckt.
„Willkommen.“ Von allen seltsamen Dingen die sie hier bis jetzt gesehen hatte, erschien ihr das am aussergewöhnlichsten. Die Frau sprach die gemeine Zunge. Ihre Stimme klang ruhig und nicht unfreundlich, dennoch vermochte sie es nicht, Aryas Unbehagen ganz aufzulösen. Vielleicht hatte sie sich auch nur von Jaqens schlechter Laune anstecken lassen.
„Nicht einmal zwei Jahre. Sogar etwas schneller, als ich vermutet habe.“ Jaqen erwiderte nichts und so fuhr sie fort. „Ich weiss, du möchtest so schnell wie möglich wieder von hier aufbrechen. Aber wenn ich das richtig gesehen habe, seid ihr hier, weil sie etwas lernen muss. Und zum Lernen braucht es Zeit.“ Er nickte, machte aber den Anschein, als würde er nichts weiter dazu sagen.
„Welcher Preis wird verlangt?“ Seine Stimme klang sachlich und sein Blick verriet nichts darüber, was in ihm vorging.
„Kein Geld. Nennen wir es einen Freundschaftsdienst.“ Freundschaftsdienst. Also stand es ausser Frage, dass die beiden sich kannten. Doch woher? Sie vermutete, dass es etwas mit Jaqens Vergangenheit zu tun hatte. Sie wusste nichts von ihm, was ihr nur wieder einmal zu deutlich bewusst wurde. Eigentlich war die Heimatlose die Einzige im Tempel, von der sie überhaupt etwas wusste.
„Ich gebe dir sogar einen Rat.“ Sie unterbrach all ihre Gedanken, um dem weiteren Verlauf des recht einseitigen Gespräches zu lauschen. „Lasse diesen einen Auftrag unerledigt. Er wird dir mehr Probleme bereiten, als du dir vorstellen kannst.“ Arya sah diese Frau zum ersten Mal, dennoch glaubte sie ihren Worten. Quaithe schien nicht wirklich auf eine Antwort aus zu sein, denn sie fuhr sogleich fort.
„Eure Zimmer sind im dritten Stock. Wenn ihr euch eingerichtet habt, will ich, dass du zu mir kommst, Arya. Ich befinde mich im Ostflügel des zweiten Stockwerks.“ Sie zuckte zusammen, als sie ihren richtigen Namen hörte. Nicht, dass sie besonders gut darin wäre ihn abzulegen, aber sie hatte nicht erwartet, dass Jaqen ihn irgendjemandem verriet.
„Er hat nichts verraten.“ Quaithe war bereits losgegangen und hatte ihr den Rücken zugewandt, also konnte sie ihre Reaktion nicht gesehen haben.
„Nein, ich habe deine Reaktion nicht gesehen. Man kann alles hören, wenn man nur richtig danach lauscht.“
Ihr stand nicht der Sinn danach, sich genauer mit ihrem Zimmer auseinanderzusetzen. Sie warf lediglich ihre Tasche aufs Bett, machte kehrt und ging in den zweiten Stock. Sie konnte nicht behaupten, dass der Ort trist und grau war, denn es gab kaum einen Fetzen Wand, der nicht von irgendeinem Wandteppich oder einer Malerei geziert wurde. Lediglich die Türen waren immer dieselben.
Sie versuchte eine davon zu öffnen, fand sie aber verschlossen vor. „Neugierde ist tückisch.“ Sie war in den letzten Jahren so oft erschreckt worden, dass sie es schaffte, nicht zusammenzuzucken. „Ich war nicht neugierig“, erwiderte sie schroff. „Ich wollte nur wissen, wo Ihr seid.“ „Geduld ist offensichtlich keine deiner Stärken. Das dachte ich mir bereits.“ Sie öffnete die Tür, welche Arya zuvor noch verschlossen vorgefunden hatte. Ganz ohne Schlüssel. Vollends verwirrt folgte sie ihr, liess die Tür hinter sich aber nicht zufallen, da sie sich nicht sicher war, ob sie sie danach auch wieder aus eigener Kraft öffnen konnte.
„Setz dich, bot Quaithe ihr an und deutete auf einen Teppich in der Mitte des Raumes. Ohne zu zögern kniete sie sich hin, Quaithe ihr gegenüber. Es erinnerte sie an die zahllosen Stunden, die sie mit der Heimatlosen beim Lügenspiel zugebracht hatte. Doch die Frau ihr gegenüber wirkte nicht so, als wolle sie sie schlagen, eher, als wolle sie sie mit ihren Blicken durchbohren. „Was soll ich tun?“ Sie fühlte sich noch unbehaglicher als sie es sonst schon tat, wenn sie so durchdringlich beobachtet wurde. „Als Erstes schlage ich vor, dass du dich entspannst. Dann möchte ich gerne etwas mehr über dich erfahren.“
„Ich dachte, Ihr wisst schon alles?“
„Oh nein, natürlich nicht. Manchmal höre ich Dinge, manchmal sehe ich Dinge, doch nicht immer kann ich mir einen Reim darauf machen. Stell dir vor, du siehst in einem Buch ein Bild über eine Pflanze. Du siehst wie sie aussieht, wie sie funktioniert. Aber ist sie in der Natur genauso wie du dir sie vorgestellt hast?“
„Nein. Aber ich bin keine Pflanze. Ich bin Niemand.“ Ihr Gegenüber antwortete ihr mit einem kehligen Lachen.
„Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?“
Sie versuchte eine Antwort zu finden, bei der sie sich nicht nach einem trotzigen Kind anhörte. Sie kam nicht dazu sich eine auszudenken, Quaithe schien auch gar nicht erst darauf zu warten.
„Egal was sie dir in Braavos beizubringen versuchen, keiner von ihnen ist ein wirklicher Niemand. Auch nicht die Priester. Gäben sie ihre Identität auf, würden sie auch ihre Menschlichkeit aufgeben und alle Gefühle, die damit zusammenhängen.“ Aber genau das hatten sie doch getan.
„Oh nein, das Einzige was ihr tut, ist eure Gefühle zu vergraben, manche können es so tief, dass sie kaum noch hervordringen. Doch um ein wirklicher Niemand zu sein, müssten diese Gefühle aufhören zu existieren und das ist bei keinem von euch der Fall.“ Ihre Worte klangen einleuchtend, doch sie war noch immer nicht überzeugt. Ausserdem war sie nicht hergekommen um die Gedankengänge der Männer ohne Gesicht zu analysieren, sondern um etwas über ihre Gabe zu lernen.
„Dein Problem hängt genau damit zusammen. Gerade weil du versuchst, alles was mit deiner Person zusammenhängt wegzusperren, kannst du deine Gabe nicht kontrollieren. Solche Fähigkeiten gehören immer zu einer Persönlichkeit. Und da du sie durch den Tag wegsperrst – oder es zumindest versuchst – versucht dein Geist, das in der Nacht auszugleichen. Er sehnt sich nach etwas, das zu Arya Stark gehört. Und deine Wölfin tut das.“ Sie hatte Kopfschmerzen. Quaithe liess ihr etwas Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten und erhob sich. Arya achtete gar nicht darauf, was sie tat, doch als sie zurückkam, trug sie zwei Becher und reichte Arya einen.
„Wenn das gegen die Kopfschmerzen ist, verzichte ich.“ Das Zeug sah mit seiner dickflüssigen Konsistenz und der dunkelblauen Farbe nicht nur seltsam aus, es roch auch noch grässlich. In Quaithes Becher befand sich dasselbe Gebräu wie in ihrem, doch schien sie sich nicht im Geringsten daran zu stören, sie nahm einen Schluck.
„Es wird helfen, für das was gleich kommt. Es wird dir helfen, deine Fähigkeit einmal richtig auszuleben und dir zeigen, dass es mehr gibt, als das menschliche Auge alleine zu sehen vermag.“
„Und ist irgendetwas, dass man damit sieht auch ernst zu nehmen?“ Sie vermutete, dass es sich dabei um Abendschatten handelte. Die Heimatlose hatte ihr einmal davon erzählt und erklärt, dass einige Leute, besonders in Qarth darauf schworen und behaupteten, Visionen zu haben. Allerdings war derselbe Effekt auch mit gewissen Nervengiften zu erreichen und was man dann sah, war eindeutig nicht ernst zu nehmen. Dennoch trank sie, ihre Angst davor, vergiftet zu werden, war nicht grösser als im Haus von Schwarz und Weiss und ihr war klar, dass sie dieser Frau etwas entgegenkommen musste, wenn sie sich nicht noch stundenlang irgendwelche Rätsel anhören wollte.
Am Anfang schmeckte es ebenso abscheulich wie es roch, mit der Zeit schmeckte es jedoch eher süsslich. Sie stellte den Becher bei Seite, spürte, bis auf die ölige Schicht auf ihrer Zunge, nichts Seltsames.
„Gut. Bevor wir beginnen, erkläre mir nochmal, in welchen Situationen du deine Kräfte bisher bewusst eingesetzt hast.“
„Das erste Mal war, als ich erblindete.“ Sie ging nicht näher darauf ein wie es dazu kam. „Da waren es immer Katzen. Es hat aber nicht immer funktioniert.“ Sie hielt inne und konnte nicht verhindern, dass sie sich etwas unbehaglich fühlte, wenn sie an den Angriff zurückdachte. Sie hatte sich schon öfters in Lebensgefahr befunden als es gut für sie war und schon das ein oder andere eingesteckt, doch nie war es so knapp gewesen, wie in jenem Moment, als Mojo seine Hände um ihre Kehle gelegt hatte.
„Es gibt Menschen, die in solchen Situationen über sich hinauswachsen, doch auch jene, die sich selbst blockieren. Diese Blockade beweglich zu machen ist unser Ziel.“
„Warum nur beweglich machen? Wäre es nicht besser, sie ganz aufzulösen?“ Ein leichtes Klimpern ihrer Ketten war zu hören, als Quaithe den Kopf schüttelte. „Man macht Tore in Stadtmauern, damit Leute hinaus und hinein können. Doch würde ein guter Stratege eine Mauer ganz abreissen?“ Sie nahm noch einen weiteren Schluck aus ihrem Becher. „Leider passiert das viel zu oft, deswegen gibt es auch nicht mehr allzu viele Leibwechsler. Sie verlieren den Zugang zu ihrem eigenen Körper.“
„Und was soll ich tun?“ Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee gewesen, hierher zu kommen. Sie konnte etwas lernen und zum ersten Mal schien es etwas zu sein, dass man ihr nicht einprügeln konnte, etwas, das nur sie- und nur wenige andere beherrschten. Dutzende Fragen schwirrten ihr durch den Kopf und sie war erpicht darauf, sie zu stellen.
„Dafür haben wir später noch mehr als genug Zeit“, erklärte ihr Quaithe, als hätte Arya es laut ausgesprochen. „Suche dir ein Tier, in dessen Haut du schlüpfen kannst.“ Arya blickte sich um, doch nicht einmal eine Ratte war zu sehen.
„Ich sehe, du weisst noch weniger über deine Gabe, als ich bisher angenommen habe. Man braucht keinen Blickkontakt um in den Geist des Tieres zu dringen, man braucht eine Verbindung. Konzentriere dich.“ Arya protestierte nicht. Sie fühlte sich seltsam. Nicht benebelt, eher das Gegenteil, es war, als würde alles etwas schärfere Konturen annehmen. Sie schloss die Augen und lauschte. Sie hörte ihren Herzschlag... Nein, nicht nur ihren. Auch Quaithes. Sie hörte viele Herzschläge in ihrer Nähe, im Stock unter ihnen, im Stock über ihnen. Es war zugleich beruhigend und dennoch beängstigend. Sie versuchte den Gedanken daran abzuschütteln und ihre Sinne nach aussen zu wenden. Obschon Asshai auf den ersten Blick leerer gewirkt hatte als die freien Städte, sah sie, dass es ebenso viele Ratten gab wie an jedem anderen Ort. Nein, sie sah es nicht, sie fühlte es.
Sie konnte nicht sagen, wie lange es dauerte, bis ein Lebewesen ganz besonders ihre Aufmerksamkeit fesselte. Es befand sich weit über allen anderen und Arya versuchte ihren Geist danach auszustrecken. Von einem Moment zum nächsten befand sie sich hunderte Meter über der Erde, die Schwingen weit ausgebreitet.
Sie wusste nicht, was für ein Vogel es war, in dem sie sich befand, doch es war ein majestätisches, auch wenn nicht so majestätisch wie der Ausblick, welcher sich ihr bot. Die Stadt unter ihr war wie ein schwarzer Fleck in lauter weiss. Mondgras, so weit das Auge reichte. Dies waren also die Schattenlande und sie trugen ihren Namen zu Recht. Der Himmel war von dunklen Wolken verhangen, die es nur schwer machten zu ergründen, welche Tageszeit sie gerade hatten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass das Mondgras aus sich selbst heraus zu leuchten schien. Sie war überwältigt von diesem Anblick. Irgendwann rückte aber auch dieses Gefühl in Vergessenheit und das einzige was sie bewusst wahrnahm, war der kühle Wind unter ihren Schwingen. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so frei gefühlt.
Aus Begeisterung wurde ein Instinkt, der Instinkt, sich den Bergen jenseits der Schattenlande zu nähern. Es war eine Art Drang, dort befand sich offensichtlich die Heimat des Vogels. Ihre Heimat. Die Grenze zwischen ihrem Geist und dem des Vogels war schon längst verschwommen und so setzte sie ihren Flug unbeirrt fort, unwissend darüber, wie lange sie schon hier oben war. Unwissend darüber, dass sie noch einen anderen, ihren eigenen, Körper hatte.
Die regelmässigen Flügelschläge des Vogels gerieten ins Stocken, als etwas an ihm zerrte. Der Vogel pickte um sich, konnte aber keinen Angreifer entdecken. Auf einmal schien er rückwärts zu fliegen und zu sinken, immer und immer schneller.
Als sie die Augen aufschlug war da kein Himmel und kein Vogel mehr, nur eine Achtzehnjährige, die auf einem Teppich lag und an die Decke starrte. Zuerst wusste sie nicht recht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte, doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr wurde ihr klar, welches Glück sie einmal mehr gehabt hatte.
„Ich hätte dich warnen sollen.“ Quaithes Stimme war unverändert, lediglich ihr Blick war etwas nachdenklicher. „Jedes Tier hat seine Eigenart.“
Arya erhob sich und versuchte ihre steifen Glieder zu bewegen. Ein Blick nach draussen zeigte, dass es immer noch hell war, also konnte es nicht allzu lange gedauert haben.
„Einen Tag“, entgegnete Quaithe. „Ich wollte sehen, ob du es alleine zurück schaffst.“ Auch Quaithe erhob sich, ging zu einem Tisch am Rande des Raumes hinüber und goss ihr einen Becher Wasser ein. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie durstig sie war, bis sie den Becher in drei Zügen geleert hatte.
„Und was kann ich tun, damit das nicht nochmal passiert?“, fragte sie.
„Üben. Aber für den Moment ist das genug, nicht nur der Körper, sondern auch der Geist kann ermüden. Ich lasse dich holen, sobald ich es für klug erachte.“
„Und was, wenn ich mich in der Stadt umsehen möchte?» Quaithe machte eine ausladende Geste. „Oh, auf jeden Fall. Asshai hat sehr viel zu bieten.“