Ihr Herz hämmerte nur so gegen ihre Brust, während sie Jaqen durch den stillen Tempel folgte. Nach all den Monaten des Versteckens war es immer noch sehr unwirklich, sich wieder im Tempel zu befinden. Es würde auch nie wieder dasselbe sein wie zuvor. Die alten Statuen waren zerstört und auch wenn das Geröll längst weg und das Blut vollständig von den Böden entfernt war, erinnerte doch noch vieles an die Entweihung dieses Ortes. Sie folgte Jaqen in die Halle der Gesichter und stellte keine Fragen, auf die sie ohnehin keine Antwort bekommen hätte. Es gab keine Möglichkeit um ihre Nervosität in Worte zu fassen und gerade dass Jaqen ihren Blick auswich und versuchte alle Gefühle aus seinem Gesicht zu halten, machte es nur noch schlimmer. Nein, sie war nicht nur nervös, sie war panisch. Wenn sie die letzte Prüfung überstehen wollte, musste sie sich zusammenreissen. Nur aus was bestand diese letzte Prüfung?
Diese Frage stellte sie sich immer noch, als sie Jaqen in die Halle der Gesichter folgte, in deren Mitte sich alle Ordensmitglieder versammelt hatten. Das waren zugegeben noch weniger als früher, keine dreissig Personen. Die wahrscheinlich dreissig tödlichsten Personen, die es auf der Welt gab. Und sie sollte eine von ihnen werden, wenn sie diese letzte Prüfung bestand.
Jaqen bedeutete ihr, sich in die Mitte des Kreises zu begeben, was sie auch tat. Nur fühlte sie sich dadurch auf seltsame Weise an Mojos Verhandlung erinnert. Sie wusste, dass sie nichts falsches getan hatte, trotzdem fürchtete sie sich. Doch wovor?
Jaqen reihte sich zwischen den anderen Ordensmitgliedern ein, nun war es die Heimatlose, die zu ihr in die Mitte trat und ihr einen Becher hinhielt. Arya umfasste das Gefäss und zuckte beinahe zurück, der Tonbecher war kalt wie der Schnee im hohen Norden. Alles in ihr widersetzte sich, das Zeug zu trinken, aber sie wusste auch ohne Worte, dass es von ihr erwartet wurde. Als der Becher leer war, gab sie ihn der Heimatlosen zurück. Die Kälte des Getränks begann sich in ihrem Inneren auszubreiten, sie zitterte.
«Wir haben dir alles beigebracht, was wir konnten», erklärte sie. «Aber Er ist der einzige, der entscheiden kann, ob du dich als Dienerin würdig erweist. Viel Glück.» Die Kälte, deren Ausbreitung in ihrem Magen begonnen hatte, erreichte nun auch ihr Herz. Ihr blieb nicht einmal mehr die Zeit, Panik zu empfinden bevor die Dunkelheit sie umfing.
An Stelle des erwarteten Steinbodens, landete sie auf einem weichen Untergrund. Tastend griff sie um sich, ihre Hände gruben sich in weiches Moos. Verwirrt richtete sie sich auf, die Steinmauern mit den Gesichtern waren Baumstämmen und Nebel gewichen. Auch das Gefühl von Kälte war von einem Moment auf den nächsten verschwunden. Es war ja bei weitem nicht das erste Mal, dass sie einer Art Illusion zum Opfer fiel, aber sie sah nicht nur, was sich um sie herum befand, sie fühlte die feuchte kühle Luft in ihrem Gesicht und roch das Harz an den Bäumen. Was sie jedoch nicht mehr spürte, war ihr Herzschlag. Alleine der Gedanke daran hätte ihren Puls in die Höhe treiben müssen, aber da war einfach nichts. Sie versuchte nicht daran zu denken und setzte sich langsam in Bewegung, ohne ein bestimmtes Ziel im Blick zu haben.
Es war so still, dass selbst ihre Schritte auf dem Moos zu hören waren. Sie war völlig alleine und fühlte sich trotzdem beobachtet. Sie konnte nicht einmal abschätzen, wie viel Zeit verging. Doch plötzlich hörte sie ein Flattern und ein Vogel setzte sich auf einen Ast vor ihr. Ein solches Tier hatte sie noch nie gesehen, es war klein wie ein Spatz, die Augen wirkten jedoch nicht wie die eines Vogels und das Gefieder war wie schimmerndes Silber. Das Tier sprang vom Ast und noch während es Richtung Boden flog, begann es seine Gestalt zu verändern. Anstelle eines Vogels stand nun eine Frau Frau vor ihr, vom Alter gebeugt. Das einzige was noch an den Vogel erinnerte war das silbergraue Haar und die durchdringenden Augen.
«Bin ich tot?» Arya wusste nicht, warum ihr ausgerechnet diese Frage in den Sinn kam, doch sie wusste, dass es so war.
«Ja und nein.» Die Alte drehte sich um und ging in den Nebel, Arya folgte ihr. Doch mit jedem Schritt den sie tat, wurde der Nebel dichter und es dauerte nicht lange, bis sie die Alte aus den Augen verlor. Sie blieb stehen. Nun war nichts mehr um sie herum ausser einem grau wabernden Dunst. Es war noch stiller als zuvor, auch wenn Arya nicht klar war, wie das möglich sein konnte.
«Was willst du von mir?» Sie drehte sich im Kreis, in der Hoffnung, irgendetwas anderes als Nebel sehen zu können. Vergeblich. Die Stimme, die ihr auf ihre Frage antwortete, kam aus allen Richtungen zugleich.
«Du sollst eine simple Aufgabe erfüllen. Folge dem Pfad, er ist der einzige Weg hier hinaus. Weichst du auch nur einen Schritt davon ab, nur einen einzigen, wirst du nie wieder zurückfinden.» Und wieder war es still. Unbehagen war wohl noch ein netter Ausdruck für das, was sie im Moment in ihr vorging. Sie hatte sich unter ihrer letzten Prüfung sehr viel vorgestellt. Während ihrer Ausbildung war sie blind und taub gewesen, hatte im Namen ihres Gottes getötet, sich zur Hure gemacht und die Geliebte seines Bruders getötet. Und ihre letzte Prüfung sollte es nun sein, einem einfachen Weg zu folgen? Das war sicher nicht alles. Dennoch blieb ihr keine Wahl, ausser einem dünnen steinigen Pfad am Boden gab es nichts, was ihr einen Anhaltspunkt bot aus dem Nebel wieder heraus zu finden.
Sie tat einen Schritt nach dem anderen, ihr Blick einzig und alleine auf ihre Füsse und die wenige Strecke Weg gerichtet, welche nicht durch das wabernde Grau verschluckt wurde. Sie wünschte, sie hätte ihre Ohren ebenfalls so gut vom Geschehen abwenden können wie ihre Augen. Denn jetzt war es nicht mehr still. Immer wieder wurde die Stille durch Schreie und Rufe von Menschen durchbrochen.
«Arya!» Ihre Schritte kamen kurz ins Stocken, das war unverkennbar die Stimme ihrer Schwester. Doch dann erinnerte sie sich selbst daran, dass es sich hier nur um eine Sinnestäuschung handeln konnte. Einen Weg zu testen, wie sie auf ihren alten Namen reagierte. Das durfte sie nicht zulassen. Sie musste zu Niemand werden.
«Arya!» Die Rufe kamen näher, so nahe, dass sie glaubte, nur ihre Hand ausstrecken zu müssen um ihre Schwester berühren zu können. Aber das tat sie nicht. Sie schlang ihre Arme um ihre Schultern um nicht in Versuchung zu geraten und beschleunigte ihre Schritte. Es wurde wieder ruhig und sie hoffte, dass das Schlimmste vorüber war.
«Arya!» Diesmal blieb sie endgültig stehen. «Jon?», flüsterte sie. Solange sie den Pfad nicht verliess, war sie in Sicherheit. «Arya, ich bin hier!» Das war bestimmt wieder eine Illusion. Jon war noch am Leben oder zumindest hätte sie bisher nichts anderes mitbekommen. Das war bestimmt bloss eine andere Täuschung. Widerwillig setzte sie ihren Weg fort. Ihr kam es so vor, als stecke sie schon seit Stunden in diesem elenden Wald fest. War es denn überhaupt noch ein Wald? Es war alles so grau… Wie lange konnte es dauern, bis sie das Ende des Weges erreichte? Sie begann zu rennen, wurde aber kein Stück schneller. Dieser Ort trieb sie über kurz oder lang in den Wahnsinn.
«Was willst du von mir?», schrie sie in die Stille hinein, war sicher, dass das Wesen, ihr Gott, sie hören konnte. Doch ebenso wie ihre Umgebung wurde auch ihre Stimme von dem Nebel erstickt.
Als Antwort erhielt sie bloss ein Heulen, so nahe an ihrem Ohr, dass sie instinktiv nach einem Messer greifen wollte- doch ihr Gürtel war leer. Es war auch nicht nötig, denn rechts neben ihr, keine zwei Schritte entfernt, stand Nymeria und sah sie aus ihren goldenen Augen an. Arya streckte die Hand nach ihr aus. Es war schwierig, doch die Distanz reichte gerade so, dass sie mit ihren Füssen auf dem Pfad bleiben konnte. In dem kalten Nebel war Nymerias Fell das einzig warme und Arya begann gerade wieder so etwas wie Hoffnung zu schöpfen, diesem tristen Ort doch noch zu entkommen. Doch dann machte die Wölfin einen Schritt zur Seite und Arya, die nicht damit rechnete, stolperte ihr nach. Ohne es zu wollen, hatte sie den Pfad verlassen.
Tausende Möglichkeiten was nun geschehen könnte gingen ihr durch den Kopf. Unbekannte Raubtiere, die sich auf sie stürzten und sie auseinanderrissen wie ein unachtsames Reh. Nebel, der sie umhüllte und für den Rest ihres Daseins herumirren liess. Dass sie auf der Stelle tot umfiel. Doch stattdessen geschah das, was sie von allem am wenigsten erwartet hätte. Der Nebel löste sich langsam auf und die Sonne kam langsam zum Vorschein. Stück für Stück begann sich immer mehr eines blauen Himmels zu zeigen. Von dem Wald, in dem sie sich verirrt hatte, war nichts mehr zu sehen, aber sie dachte auch nicht mehr wirklich daran. Denn je mehr ihrer Umgebung sich aus dem Nebel schälte, desto deutlicher wurde ihr bewusst, wo sie sich befand.
Winterfell. Sie war sich völlig dass sie sich nicht in der Realität befand, aber im Moment war ihr das herzlich egal. Denn vor ihr stand das alte Winterfell, bevor die Eisennmänner gewütet hatten und vieles neu aufgebaut worden war. Es war das Zuhause ihrer Kindheit. Die Hügel rund um die Burg waren bedeckt von Sommerschnee und sie sah, wie Grauwind, Robs Schattenwolf, Lady hinterherjagte. Die beiden waren längst ausgewachsen, tollten sich aber herum als wären es immer noch Welpen.
Sie verfolgte das Schauspiel eine Weile lang amüsiert, bevor sie an den beiden Wölfen vorbei ging und sich langsam den Toren näherte. Was soll der Mist? Protestierte etwas in ihr. Wenn du so weitermachst, bleibst du am Ende wirklich noch hier. Und was war, wenn sie das vielleicht sogar wollte? Wenn das das Ende war, dann hatte sie es sich deutlich schlimmer vorgestellt. Es war wirklich seltsam. Ihr war völlig bewusst, dass sie hier das falsche tat und trotzdem fühlte es sich wie das einzig richtige an. Wahrscheinlich hatte sie ihr Leben ohnehin schon in dem Moment verwirkt, in dem sie vom Pfad abgewichen war.
Als sie sich Winterfell näherte, wurde das äussere Tor bereits geöffnet und ein kleiner Teil von ihr hoffte, Jon dort zu sehen. Doch es war nicht ihr Bruder, der ihr dort entgegentrat, sondern ihr Vater. Ohne weiter nachzudenken warf sie sich in seine Arme. Sein Körper fühlte sich warm an, lebendig. So ganz und gar nicht wie ein Trugbild.
«Du bist gross geworden», erkannte er als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit voneinander lösten. Das war etwas übertrieben, sie war noch immer einen guten Kopf kleiner als er. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie aber sogleich energisch fortwischte.
«Wir hätten niemals nach Königsmund gehen dürfen.» Er lächelte traurig. «Diesen Vorwurf mache ich mir heute noch. Aber als wir erst mal da waren wollten du und deine Schwester auch nicht mehr weg.» Das tat weh, auch wenn er die Wahrheit sprach. Sansa war ganz begeistert von dem Gedanken gewesen, eines Tages Joffreys Frau zu werden und sie selbst hatte den Unterricht mit Syrio über ihre eigene Sicherheit gestellt. Was am Ende nicht nur ihren Vater, sondern auch Syrio selbst das Leben gekostet hatte. Ausserdem… Wäre ihr Leben denn wirklich so viel besser geworden, wenn sie in Winterfell geblieben wäre? Zu einem Krieg wäre es so oder so über kurz oder lang gekommen und wahrscheinlich wäre sie wir ihre Schwester einfach verheiratet worden. Und das wäre schlimmer als sämtliche Prügel während ihrer Ausbildung. Aber ihre Familie hätte überlebt.
Während sie so ihren Gedanken nachhing, war ihr Vater wieder zum Tor zurückgegangen. «Komm mit, die anderen warten auf uns.» Er zog das Tor etwas weiter auf, damit Arya einen Blick auf den Rest ihrer Familie werfen konnte. Alle waren da und warteten auf sie. Automatisch ging Arya ein paar Schritte auf das Tor zu. Je näher sie dem Durchgang kam, desto stärker wurde die Anziehungskraft. Wieder schrie eine Stimme in ihr, sie müsse vorsichtig sein. Doch sie hörte nicht darauf und ging weiter- bis zwei kalte Hände sie um die Schultern packten und sie herumrissen.
Es war dieses Ding, das sie vor vielen Jahren durch Nymerias Augen entdeckt hatte. Dieses Ding, das einmal ihre Mutter gewesen war. Es sagte etwas, doch aus der Kehle kam nur ein undeutliches Krächzen. Als es das Halstuch löste, sah Arya auch warum. Ihre ganze Kehle war zerteilt, nicht nur die Halsschlagader, auch die Stimmbänder. Mangels der Fähigkeit zu sprechen, deutete sie nach links. Arya folgte dem Blick und erkannte den Wolfswald. War das der Wald gewesen, in dem sie sich verirrt hatte? Es wirkte jedenfalls so, als würde von dort her ein dunstiger Schleier kommen. Ihre Mutter packte sie an der Schulter und zog sie mit sich. Sie sah sich kurz hilfesuchend nach ihrem Vater um, doch er stand nur da und hielt die Tür weiterhin geöffnet. Doch ihre Mutter zog sie unerbittlich weiter.
Am Rande des Waldes und des Nebels blieben sie schliesslich stehen, das drängende Gefühl zu ihrer Familie hinzustossen zu müssen liess langsam nach. Arya wusste nichts über diesen Ort. Aber sie fühlte, dass ihre Mutter ihre Hilfe brauchte. Und sie schämte sich etwas dafür, dass sie ihre Mutter als Monster gesehen hatte. Sicher, mit ihr war etwas Seltsames passiert, aber sie war noch immer ihre Mutter, die ihr gerade eben das Leben gerettet hatte. Wenn sie Winterfell betreten hätte, so viel spürte sie nun, wäre sie nicht mehr herausgekommen. Ihrer Mutter hingegen war der Zugang offenbar verwehrt.
«Du sitzt hier fest, oder?» Es kam nur ein Nicken ihrer Mutter als Antwort.
«Kann ich etwas tun, damit du loslassen kannst?» Diesmal ein Kopfschütteln. Sie deutete nur immer wieder auf den Nebel, der sich langsam endgültig aufzulösen begann. Die Zeit wurde knapp.
«Aber ich kann dich nicht einfach hierlassen!» Zum ersten Mal sah sie eine Gefühlsregung in den Augen dieses… Ihrer Mutter. Es war Schmerz. Ob ihre verzwickte Situation, ihr Tod oder Arya der Grund dafür war wusste sie nicht. Aber als ihre Mutter noch einmal mit Nachdruck auf den Wald deutete, war ihr endgültig klar, dass sie gehen musste.
Arya machte zwei grosse Schritte nach vorne und schlang ihre Arme um ihre Mutter.
«Ich liebe dich», flüsterte sie ihr ins Ohr. Zu Lebzeiten hatten sie oft nicht das beste Verhältnis gehabt, doch Catelyns Mutterliebe ging so weit, dass sie ihre Kinder selbst im Jenseits zu beschützen versuchte. Arya presste ihre Mutter noch einmal an sich, drehte sich dann um und rannte in den Nebel. Stolpernd kam sie auf den Pfad zurück, wusste aber nicht mehr sicher, in welche Richtung sie gehen musste. Sie setzte sich hin und stützte ihren Kopf auf ihre Knie. Es war einfach zu viel. Die Prüfung, so viel war ihr klar, hatte sie nicht bestanden. Aber den letzten Schritt gewagt und zu ihrer Familie gegangen war sie auch nicht. Also was brachte es ihr hier zu sein? Sass sie nun auf ewig hier fest, so wie ihre Mutter es offenbar tat? Oder gab es für sie wirklich noch eine Möglichkeit, den Ausweg zu finden? Nach einer Weile des Grübelns erhob sie sich. Mehr tun als dem Pfad zu folgen konnte sie nicht. Sie folgte dem Pfad, ohne zu wissen, ob sie vorwärts oder wieder zurück ging.
~ ~ ~
Zweieinhalb Tage. So lange lag sie bereits reglos da. Die meisten wachten nach einem, spätestens zwei Tagen wieder auf. Oder sie wachten gar nicht mehr auf. Ein Mann hätte das nicht zulassen dürfen. Er wusste nicht, wem er hierfür die grösste Schuld zuschieben konnte. Den anderen Ordensmitgliedern, die es ausgerechnet jetzt für nötig befunden hatten, die Prüfung abzuhalten? Sich selbst, dem es nicht gelungen war, dies zu verhindern? Oder doch Arya, die diesen letzten und wichtigsten Test nicht bestand? Die Priesterin sagte nichts, aber sie wusste genau so gut wie er, dass es für Arya kein Zurück mehr gab. Drei Tage, das war die offizielle Regel. Nach dieser Zeit galt der Akolyth als tot.
«Nach all den Jahren bin ich davon ausgegangen, dass sie bestehen würde.»
«Die drei Tage sind noch nicht vorbei», gab er zurück. Dabei wusste er selbst, wie hohl seine Worte klangen.
«Mir ist klar, dass du wütend bist. Doch du kennst die Bräuche genau so gut wie ich und wenn er mit den vielen Gesichtern sich entschieden hat sie bei sich zu behalten, ist es wohl besser so.» Wenn sich nicht genau in diesem Moment die Tür zur Halle geöffnet hätte… Er hätte nicht gewusst, was dann passiert wäre. Zu was er sich hätte hinreissen lassen. Ja, er kannte die Bräuche ganz genau. Er wusste, dass es um den Test zu bestehen einen starken Willen und unerschütterliches Vertrauen in Ihn forderte. Und er wusste, dass bei Arya beides in den letzten Wochen sehr gelitten hatte.
Es wurde die Anwesenheit eines Priesters gebraucht. Also blieb er alleine bei Arya zurück. Sie lag fast an der selben stelle, an der sie vor mehr als einen Jahrzehnt gekniet und um sein Leben gefleht hatte. Damals war sie einer Illusion zum Opfer gefallen, wie von ihm gewollt. Das heute war keine Illusion, keinen Trick, den er einfach so beenden konnte. Sie lag hier tot vor ihm und es war ihm nicht erlaubt, irgendwelche Gefühle zu zeigen. Er wusste auch so, dass viele es missbilligten, wie viel Zeit er in Arya investiert hatte. Auch wenn seine Strafe aufgehoben war, er stand immer noch unter Beobachtung. Vielleicht war Aryas Prüfung auch absichtlich erschwert worden, nur um ihm seine Grenzen aufzuzeigen? Daran durfte er nicht einmal denken. Wenn dem tatsächlich so wäre, könnte er es keinen Tag länger hier aushalten und es gab keinen Ort, an dem er sicher wäre. Wer die letzte Prüfung bestand, gehörte dem Orden. Für Verrat gab es nur eine Strafe und die war nicht viel anders als auf dem Rest der Welt. Ausserdem besass er nicht den Willen, nochmal alleine an einem anderen Ort völlig neu zu beginnen.
Er wusste, dass es Leute gab, die vom Tod zurückgekehrt waren- auch ohne Prüfung. Melisandre hatte ihm sogar versucht beizubringen, wie genau man das tat. Doch er wollte es nie lernen, hatte sich davor gefürchtet, eine solche Magie anzuwenden. Denk nicht mal daran, schalt er sich selbst. Doch warum nicht? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt, dass der Zeitpunkt der Prüfung nicht zufällig gewählt war. So gab es vielleicht wenigstens eine Möglichkeit, den Funken einer Chance, sie zurück zu holen.
Während er in die Stille lauschte, beugte er sich über Aryas blasses Gesicht. Im Gegensatz zu Aryas Herz schlug seines ziemlich schnell. So viele widersprüchliche Gefühle jagten durch seinen Körper. Ja, er wollte ihr helfen und ja, er war auch bereit, einmal mehr alle Regeln dafür zu brechen. Doch diesmal war es nicht nur ein Verschweigen von Tatsachen, es war ein Betrug an ihm mit den vielen Gesichtern und wenn die Priesterin davon etwas mitbekam, war nicht nur Aryas Leben verwirkt, sondern auch sein eigenes. Obwohl er sich dessen völlig bewusst war, zögerte er nicht lange.
Melisandre versuchte ihm damals zu erklären, wie man Menschen dem Tod entreissen konnte. Aber in seiner Angst, sich Mund und Rachen zu verbrennen, hatte er nicht einmal daran gedacht, es zu versuchen. Ihr Wunsch war es immer gewesen, ihn zu einen von R'hllors Priestern zu machen. Letzten Endes sogar mit Erfolg, denn er war Priester geworden und es gab nur einen Gott. Langsam trat er an eine der Fackeln heran. Die Flammen züngelten durch den leichten Luftzug und schienen ihn zu verhöhnen. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Ja, er spürte Hitze, doch der erwartete brennende Schmerz blieb aus. Mit raschen Schritten ging er zu Aryas reglosem Körper zurück und beugte sich über sie.
Ein Mann hat noch nie um viel gebeten. Bring sie ihm zurück. Das war sein einziger Gedanke, während er seine Lippen auf Aryas legte. Ihre Lippen, die längst so kalt waren wie der Rest ihres Körpers. Er entliess die Hitze der Flammen in ihre Lungen, verharrte kurz und löste sich danach wieder von ihr. Er wartete auf ein Wunder, das nicht kam. Arya war tot. Und sie würde es auch bleiben. In diesem Moment war er wütender auf Melisandre als jemals zuvor, weil sie selbst nach ihrem Tod eine Hoffnung in ihm geweckt hatte, die nicht erfüllt werden konnte.
Einige Zeit später legte sich eine Hand auf seine Schulter. «Es ist Zeit. Die drei Tage sind so gut wie vorbei.» Entschlossen wandte er sich zu ihr um.
«So gut wie heisst noch nicht ganz.» Ein paar Stunden mehr halfen ihr sicher nicht, doch ihr standen diese drei Tage zu. «Wir wissen beide, dass sie nicht bestan-» Sie brach mitten im Satz ab und er sah, wie sich ihr Blick ungläubig auf etwas hinter ihm richtete. Auch er wandte sich sofort wieder um und erkannte, was sie so aus der Fassung gebracht hatte. Aryas Brust hob und senkte sich wieder. Sie lebte.
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Ich hoffe, ihr nehmt mir die Umsetzung des Stichworts "Eden" nicht übel, ich persönlich verbinde mit Eden ein Paradies und für Arya war das Winterfell ihrer Kindheit eben ihr Paradies. Das Stichwort Eden im klassischen Sinn umzusetzen wäre in dem Setting eher schwieriger gewesen.