Die vielen Monate ihrer Rückreise waren Aryas Rettung, denn in jener Zeit hatte sie mit Jaqen die Lüge eingeübt, welche sie den anderen Priestern nun auftischten. Gemäss ihm war es zwar keine wirkliche Lüge, sondern lediglich das Verschweigen einer Tatsache, dennoch musste sie ihre Worte jeden Tag ihrer Rückreise mehrmals aufsagen, bis er mit der Art, wie sie es tat, zufrieden war.
«Also ist Noridos tot. Das ist gut, unser Auftraggeber wird erfreut sein.» Es schien tatsächlich, als kaufe der gütige Mann ihnen ihre Geschichte ab.
«Trotzdem seid ihr etwas schneller zurück, als ich erwartet hätte. Konntest du deine Fähigkeit üben?» Quaithe hatte ihr angeboten, sie weiterhin zu unterrichten, aber nichts und niemand hätte sie davon überzeugen können, länger als nötig in dieser Stadt zu bleiben. Sie hatten nach dem Kampf nur den nächsten Morgen abgewartet, ehe sie aufgebrochen waren. Und bei der Erinnerung lief ihr noch immer ein Schauer über den Rücken. Quaithes Worte hatten sich unangenehm deutlich in ihr Gedächtnis gebrannt.
«Deine Zukunft ist für mich sehr verschwommen. Doch es scheint, als würdest du zumindest eines der Leben, die du noch nehmen wirst, zurückgeben.»
Es hatte einige Augenblicke gedauert, bis Arya begriffen hatte, was sie meinte. Danach hatte sie noch versucht es ins Lächerliche zu ziehen und gemeint, so einen schlechten Scherz erlaube sich kein Gott. Doch die Angst war geblieben.
Sie schob die Erinnerung bei Seite und antwortete.
«Ich habe einiges dazugelernt, aber um wirklich geübt zu sein, bräuchte ich Jahrzehnte.» Sie sah, dass dem gütigen Mann diese Antwort weniger gefiel, doch er ging nicht weiter darauf ein und sie konnte gehen. Was auch gut so war, denn obwohl die Rückreise an sich nicht anstrengend gewesen war, war sie froh darüber, sich zurückziehen zu können. Auf einem Schiff war man niemals alleine.
Sobald sie die Waffen weggeräumt hatte, brachte sie die verbliebenen Gifte an ihren Bestimmungsort zurück. Die Heimatlose war gerade dabei, einige Zutaten zu schneiden. Keine Arbeit, bei der sie sich sonderlich zu konzentrieren brauchte. Trotzdem wusste Arya nicht so wirklich, wie sie beginnen sollte.
«In Lyss… Habe ich einiges gelernt.»
«Das ist gut. Was denn zum Beispiel?» Wie man die Beine für eine männliche Hure breitmacht. Kein Teil ihrer Ausbildung, auf den sie besonders stolz war, aber sie war trotzdem froh, dass sie es damals hinter sich gebracht hatte. Er war nett zu ihr gewesen und sie hatte gemerkt, dass er sich Mühe gegeben hatte. Als ihm aufgefallen war, dass sie gerade ihre Jungfräulichkeit an ihn verloren hatte, hatte er sich sogar geweigert, Geld von ihr entgegen zu nehmen.
«Dass ich meine Aufträge lieber im Stehen, als im Liegen ausführe.» Es war das erste Mal, dass sie die Heimatlose lachen hörte. Bis auf das eine Mal ganz zu Beginn ihrer Ausbildung, als sie sich im Lernen der Sprache ganz besonders ungeschickt angestellt hatte.
«Jedenfalls», fuhr Arya fort, «war ich danach bei einer Heilerin. Sie gab mir Mondtee und meinte, ihn zu brauen sei nicht ganz einfach.»
«Tausende Frauen können das. Ich kann es dir gerne beibringen.»
«Danke, aber darauf wollte ich nicht hinaus. Sie sagte, Mondtee verdirbt schnell und muss frisch zubereitet werden. Was ist also, wenn ich nicht rechtzeitig an die Zutaten komme?» Die Heimatlose hielt in ihrer Arbeit inne und sah zu ihr auf.
«Der Mondtee hilft auch noch während der ersten paar Wochen der Schwangerschaft. Ob man nun ein paar Tage wartet oder nicht spielt eigentlich keine Rolle, aber je schneller es getan wird, desto kleiner ist die Belastung für den Körper.»
«Und sie meinte auch, es besteht immer ein Restrisiko, es gibt einzelne Frauen, bei denen es nicht wirkt. Gibt es denn kein Mittel dafür, dass ich gar nicht mehr schwanger werden kann?»
«Bevor ich dir deine Frage beantworte, will ich wissen, weshalb du das wissen möchtest. Mondtee bekommt man überall und sehr viele solcher Aufträge wirst du nicht erhalten. Also warum der Aufwand?» Anlügen musste sie die Heimtatlose nicht, denn was sie nun sagte, entsprach der Wahrheit. Auch wenn es nicht der eigentliche Grund war, aus dem sie fragte.
«Weil ich ohnehin nie Kinder haben werde. Und weil ich besser mit dem Gedanken leben kann, gar kein Leben zu zeugen, als ein Leben in mir umzubringen.» Sie sah noch immer die glasigen Augen des Mädchens in Asshai vor sich. Sie hatte nie Kinder gewollt, wollte sie auch jetzt nicht. Aber der Gedanke ein aufkeimendes Leben zu ersticken, so lange es noch in ihr heranwuchs, gefiel ihr nicht besonders und sie war im Mischen von Giften nicht allzu begabt, das Risiko, etwas beim Mondtee falsch zu machen, war ihr zu gross. Doch der Hauptgrund bestand natürlich darin, dass sie Quaithes Vorhersage auf jeden Fall verhindern wollte.
Die Heimatlose antwortete ihr erst, nachdem sie die letzten Kräuter gehackt- und ihre Hände gereinigt hatte.
«Ich verstehe deine Sorge. Doch das, wovon du hier sprichst, ist nicht möglich. Es gibt Frauen, die von Natur aus unfruchtbar sind, oder es durch gewisse Umstände werden. Es gibt kein Gift, das nur die Eierstöcke oder die Gebärmutter angreift. Du würdest all deinen Organen schaden, für etwas, das du auch auf andere Art verhindern kannst.»
So ungern sie es auch zugab, die Worte der Heimatlosen ergaben Sinn. Dennoch, sie wäre das Risiko gerne eingegangen. Aber sie befürchtete, nur weitere Fragen aufzuwerfen, wenn sie weiter daran festhielt.
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Ihr wohl grösstes Erfolgserlebnis in den Monaten nach ihrer Rückkehr bestand darin, die erste Übung zu meistern, die Jaqen ihr im Nahkampftraining damals gezeigt hatte. Nach einem gezielten Schlag merkte sie, dass er seinen rechten Arm nicht mehr heben konnte. Sie versuchte dasselbe auf der linken Seite, doch er parierte den Schlag mit dem noch funktionstüchtigen Arm und trat ihr mit voller Wucht gegen ihr Schienbein. Damit war dann auch dieser Kampf vorerst beendet und sie hatte die Lektion gelernt, dass die komplizierteren Schläge nicht immer die wirkungsvollsten waren.
Sie sprachen nicht häufiger miteinander als zuvor und das Training wurde sogar eher noch brutaler, nun hielten sich weder Jaqen noch die Heimatlose zurück, wenn sie kämpften. Dies führte dazu, dass sie nach einem Nierentritt von der Heimatlosen tagelang nur Blut pinkelte und Jaqen ihr einmal eine Rippe brach. Trotzdem schien die Zeit in Asshai etwas verändert zu haben. Manchmal hatte sie das Gefühl, etwas besser zu verstehen, was in ihm vorging. Mehr als eine Vermutung war es aber nicht, denn ausser der Schilderung den Priestern gegenüber, hatten sie nie mehr über die Vorkommnisse in Asshai gesprochen, geschweige denn Melisandre oder welche Verbindung Jaqen zu der Stadt gehabt hatte. Das war wahrscheinlich ein Mysterium, welche sie nie vollständig entschlüsseln konnte.
Er hatte behauptet, nur über diese eine Gabe zu verfügen, somit war er wohl nie ein Hexenmeister gewesen. Ihre wahrscheinlichste Vermutung bestand darin, dass er früher ein roter Priester gewesen war- sich aber vielleicht aus Hass vor den Ritualen von dem Glauben abgewandt hatte. Denn sie erinnerte sich noch dunkel daran, dass er in Harrenhall einmal den roten Gott erwähnt hatte. Dennoch zweifelte sie daran. Sein Hass der Stadt gegenüber war viel zu gross, als dass er selbst ein Teil dieses ganzen hätte sein können. Aber eine wirkliche Alternative fiel ihr nicht ein.
Die Ruhe war allerdings nicht von langer Dauer, denn an einem Treffen zu Neumond erschien einer ihrer Ordensbrüder, der recht mitgenommen wirkte und seiner Miene Nach offenkundig keine guten Neuigkeiten brachte.
«Der Auftrag ist noch immer unerledigt.» Sie wusste noch nicht mal, von welchem Auftrag die Rede war, alle anderen aber offensichtlich schon. Es war Jaqen, der antwortete.
«Warum?»
«Ich bin in all den Monaten kein einziges Mal nahe genug herangekommen um den Auftrag auszuführen. Sie ist ständig von ihren Bediensteten umgeben oder verschwindet mit ihren Drachen.» Drachen. Nun dämmerte ihr, wer das Opfer war. In dem Fall musste es aber ein äusserst wohlhabender Auftraggeber sein. «Im einen Moment ist sie noch hinter der Mauer und schon kurz danach brachen sie nach Königsmund auf. Nur ihr treu ergebene Leute kommen überhaupt in ihre Nähe und ich hatte keine Gelegenheit, mich dort einzuschleichen.»
«Das ist wirklich bedauerlich. Doch was sucht sie hinter der Mauer?» Diesmal war es die Heimatlose, welche das Wort ergriff.
«Wenn ich alles richtig mitbekommen habe, scheint eine Art Handel stattgefunden zu haben. Sie hilft Jon Schnee dabei diese Gefahr aus dem Norden zu bannen. Angeblich gibt es dort eine Armee Untoter, sie nennen sie weisse Wanderer. Ich kann nicht beurteilen, ob das stimmt, aber es scheint den ganzen Norden in Aufruhr zu versetzen. Kurz vor meiner Abreise hiess es sogar, die Mauer sei gefallen. Ich vermute, er akzeptiert sie im Gegenzug als die neue Königin, doch mit Sicherheit weiss ich es nicht.»
«Das sind interessante Neuigkeiten. Aber die hättest du auch in einem Brief mitteilen können, besonders, da es sich bei vielem davon lediglich um Mutmassungen handelt.»
Ihm war anzusehen, dass ihm die Ausfragerei nicht sonderlich behagte, wahrscheinlich fürchtete er, wegen seinem verfrühten Rückzug Schwierigkeiten zu bekommen. Auch Arya fühlte sich alles andere als wohl in ihrer Haut, wenn auch aus einem anderen Grund. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Bruder sich tatsächlich mit einer Targaryen verbündet hatte. Allerdings war auch ihr klar, dass er nicht gleichzeitig gegen Cersei, Daenerys und eine Armee Untoter kämpfen konnte.
«Und wie verfahren wir nun weiter?» Die Frage kam von einer Frau, die einzige Frau, die sie neben der Heimatlosen jemals hier gesehen hatte. Es war schwer ihr echtes Alter zu schätzen, sie trug immer ein anderes Gesicht. Heute wirkte sie wie Anfang zwanzig, also nur wenig älter als Arya selbst.
«Dank der Schilderung wissen wir nun, was uns derzeit erwartet. Es scheint als bestünde die einzige Möglichkeit darin, in Daenerys Vertrauenskreis zu gelangen.» Als die Heimatlose das sagte, sah Arya, wie Jaqens Blick kurz zu ihr herüberhuschte- und da war er nicht der Einzige. Nicht ganz alle, aber doch einige der Gesichtslosen Männer wussten, wer sie einst gewesen war und sie alle schienen dasselbe zu denken.
«Es sind keine einfachen Zeiten.» Zum ersten Mal seit das Treffen begonnen hatte, erhob der gütige Mann seine Stimme. «Wir sind auf alle Vorteile angewiesen, die wir uns beschaffen können. Und in diesem Fall brauchen wir jemanden, der sich in Daenerys Umgebung einnisten kann.» Sie ahnte, worauf das hinauslief, doch niemand hielt es für nötig, es auszusprechen.
«Nimmst du den Auftrag an?» Sie konnte den Blick sämtlicher Anwesenden auf sich spüren. Und sie dachte wirklich kurz darüber nach, ob es nicht klüger war, abzulehnen. Nur fehlte ihr ein richtiges Argument, das zu tun. Sie sollte Daenerys töten. Und der Weg zu Daenerys führte über deren Vertraute, zu welchen ihr… Aryas Bruder offensichtlich seit neustem zählte. Sie nickte.
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Zu Beginn ihrer Ausbildung hatte sie geradezu darum gebettelt, anspruchsvollere Aufträge zu bekommen. Diesen hier hätte sie aber ohne zu zögern wieder abgegeben. Das Aufeinandertreffen mit Noridos El-Ostaan steckte ihr noch immer in den Knochen und sie hatte gehofft, für längere Zeit hier zu bleiben. Nun gut, sie waren seit etwas mehr als acht Monaten zurück, was für manche durchaus «länger» bedeutete.
Sie dachte an das Mädchen zurück, dass sie noch vor sieben Jahren gewesen war, als sie den ersten Fuss in den Tempel gesetzt hatte. Rachedurstig, kalt, aufbrausend. Ihre Rache hatte sie keineswegs vergessen, noch immer dachte sie oft daran. Oft, aber nicht täglich. Die täglichen Gedanken an Rache waren der täglichen Angst davor gewichen, ihren Verstand zu verlieren. Bisher war nichts vorgefallen, das auf Noridos´ Einfluss hinwies, doch der ständige Gedanke daran war zermürbend.
Sie wandte sich um, als sie die leisen Schritte hinter sich vernahm. Sie hatte eher mit Jaqen, als mit dem gütigen Mann gerechnet.
«Ich kenne dich gut genug um zu wissen, dass du Fragen hast. Und ich denke es ist angebracht, dass ich dir einige davon beantworte.»
«Warum ich?» Die Bitterkeit in ihrer Stimme passte nicht zu den erst zwanzig Jahren, die sie mittlerweile zählte. Ein Alter, in dem sie, wäre es nach ihrer Familie gegangen, sicher schon längst verheiratet und mit einem oder zwei Bälger auf irgendeiner Burg festgesessen hätte.
«Seit Jahren versuche ich meine Identität abzulegen und nun soll ich sie nutzen um einen Auftrag auszuführen?» Sie hatte kein Interesse daran, die Gefühle, die sie im Verlaufe der Jahre in sich vergraben hatte, wieder hervor zu kramen.
«Ein verständlicher Einwand. Und für gewöhnlich greifen wir auch nicht zu einem solchen Mittel. Doch es gibt von hier niemanden, der für diesen Auftrag besser geeignet wäre. Deine Nähe zu deinem Halbbruder wird dich auch in die Nähe von Daenerys bringen. Selbst mit der grössten Erfahrung kann man einen solchen Vorteil nicht wettmachen. Und es geht auch nicht darum, dass du deine alte Identität wieder annehmen sollst. Versuche dein Gesicht zu tragen, wie jedes andere auch. Spiele deine Rolle, führe den Auftrag aus und komm zurück.» Wenn er das sagte, klang es einfach, aber so einfach konnte es gar nicht werden, dies war sie sich bewusst.
«Noch ist es nicht zu spät. Wenn du dich nicht bereit dazu fühlst, den Auftrag anzunehmen, werden wir es anders versuchen. Wir müssen uns sicher sein, dass, wer immer den Auftrag ausführt, voll hinter uns steht.» Sie hörte die unterschwellige Botschaft sehr wohl.
«Habe ich denn, seit meiner Verfehlung vor sechs Jahren, irgendeinen Anlass zum Zweifel gegeben?» Ihre Stimme war ruhig, aber schneidend. Sie hatte viel hierfür geopfert, ihr letzter Auftrag hatte ihr Leben wahrscheinlich sogar um einige Jahrzehnte verkürzt. Sie behielt jedoch die Fassung, die Priester versuchten immer wieder sie zu reizen und sie hatte gelernt, damit umzugehen. Meistens jedenfalls.
«Nein. Aber ich möchte nochmals von dir hören, ob du den Auftrag wirklich aus freien Stücken annimmst.» Sie fixierte seinen Blick mit ihrem. «Ja, ich nehme den Auftrag an und ich werde ihn auch ausführen.»
«Gut. Ich muss dich aber warnen. Denn auch wenn du viel gelernt hast, besteht immer noch die Möglichkeit, dass du gefasst wirst. Wenn du Glück hast, töten sie dich nur, aber vielleicht wollen sie dann etwas von dir wissen.»
«Egal was sie mit mir machen, ich werde schweigen.» Der gütige Mann lächelte traurig. «Schmerz kann schlimme Dinge mit dem Körper anrichten. Selbst wir können nicht im Voraus wissen, was das mit unserer Seele macht. Ausserdem gibt es noch andere Wege, jemandem die Wahrheit zu entlocken. Darum trägt jeder von uns dies hier.» Er zog etwas aus der Tasche seiner Robe und reichte es ihr. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein schlichtes Halsband, die Schnur war aus Leder, daran befestigt eine Perle, die trüb wirkte.
«Die Perle ist aus Glas. Wenn du darauf beisst wird ein Gift freigesetzt, dass dich sofort tötet. Es wird nicht wehtun und es wird schnell gehen. Normalerweise bekommen das nur diejenigen, die aus dem kalten Becher trinken, aber für diesen Auftrag ist es besser, wenn du es dabei hast.» Sie nahm die Kette entgegen und befestigte sie um ihren Hals.
«Wer bist du?»
«Niemand.» Der Priester lächelte. «Noch nicht.»
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Ihr Aufbruch stand bevor. Für die Vorbereitung hatte sie sich eine Woche Zeit genommen, die man ihr auch ohne weiteres gewährt hatte. Ihnen war allen klar, dass die Idee unter Umständen mehr Schaden als Nutzen brachte. Doch auch er musste zugeben, dass es tatsächlich die eleganteste Lösung war. Arya gegenüber war es nicht fair, doch auch wenn er ihre Ausbildung übernommen hatte, in erster Linie war er ein Diener ihres Gottes und als solcher sah er ein, dass dies der beste Weg war, den Auftrag auszuführen.
Er glaubte sogar, dass Arya fähig genug war, um den Auftrag erfolgreich zu beenden. Seine Sorge bestand eher darin, dass die erneute Nähe zu ihrer Familie die Fortschritte zerstörte, die sie in den letzten Jahren gemacht hatten und die alte Arya zurückbrachten. Sie hatten viel in ihre Ausbildung investiert und in den letzten Jahren gab es nur wenige Akolythen. Der Tempel war darauf angewiesen, neue Leute zu rekrutieren. Doch sie waren schon seit jeher wählerisch mit ihren neuen Novizen gewesen und meist schafften es viele der Novizen nicht über den Rang eines Akolythen hinaus.
Wenn ihr dieser Auftrag gelang, war es nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis sie ihre letzte Prüfung ablegte. Auch diese Barg immer ein Risiko und es gab durchaus Akolythen, die sie nicht überlebten. Aber dasselbe konnte man auch von ihren Aufträgen behaupten.
Trotz alledem wäre es ihm lieber gewesen, wenn sie den Auftrag abgelehnt hätte. Es konnten Monate, viel eher sogar ein Jahr oder mehr vergehen, bis sie überhaupt in Daenerys Reichweite gelangte. Und keiner von ihnen wusste, wie lange es dauerte, bis Noridos versuchte, Macht über ihren Körper zu erlangen. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass der Teil von Noridos´ Geist, der überlebt hatte, zu klein und schwach war, um sich wieder zu erholen. Nur leider hatte ihn die Vergangenheit gelehrt, dass die Hoffnung sich in den allermeisten Fällen als Trugbild erwies.
Mittlerweile war Arya neben ihn getreten. Neben einer schweren Reisetaschen trug sie auch einen Rucksack, der nicht minder beladen wirkte. Einen Teil des Gepäcks musste sie wohl früher oder später zurücklassen, anderes dazu kaufen, um alleine im Winter überleben zu können.
«Viel Glück.» In diesem Fall brauchte sie das wirklich, alle Schiffe die aus Wesetos zurückkehrten erzählten dieselbe Geschichte von Zerstörung und Chaos. Arya erwiderte nichts, dachte jedoch zweifellos dasselbe. Er sah es in ihrem Blick. Auch wenn sie in den vergangenen Jahren immer besser darin geworden war, ihre Gedanken aus ihren Gesichtszügen fernzuhalten, er kannte sie zu gut, um ihr das abzukaufen.
«Hat ein Mädchen je bemerkt, dass Quaithes Worte sich bewahrheiten?» Beide anderen Priester hatten einen Auftrag und waren unterwegs, dennoch wollte er nicht allzu deutlich werden, Arya war sicherlich auch so klar, was er meinte.
«Bis jetzt noch nicht.»
«Es mag vielleicht so scheinen, doch Quaithes Vorahnungen treffen nicht immer ein.»
«Ich hoffe mal, du hast recht.» Sie schulterte ihre Taschen und wandte sich Richtung Tor.
«Valar Morghulis.» Trotz der widern Umstände schien sie sich ihrer Sache sicher zu sein und genau das war es, was einen von ihnen ausmachte. Sich nicht von persönlichen Belangen abbringen zu lassen.
«Valar Dohaeris», erwiderte er und trotz all den Dingen die vorgefallen waren war er sich sicherer denn je, dass er damals richtig entschieden hatte, ihr die Münze zu geben. Dennoch war er sich bewusst, dass er sich schon lange zu viele Sorgen um sie machte. Er schob es immer wieder auf die Tatsache, dass sie die erste Akolythin war, die er selbst ausgewählt hatte.
«Ich habe nicht erwartet, dass sie so lange durchhält.» Einer der Ordensbrüder trat neben ihn. Auch ihm stand in Kürze ein neuer Auftrag bevor.
«Das haben die Wenigsten. Ein Mädchen war damals noch zu unerfahren.» Sein Gegenüber lachte.
«Zu unerfahren? Sie hatte sämtliche Wachleute von Lorath auf den Fersen und ihre Armbrust wäre ihr fast runtergefallen.» Der Gesichtslose schien eher amüsiert als verärgert.
Er hatte mehrere Jahre in Lorath verbracht, um ihnen sämtliche Neuigkeiten zu berichten, die für sie von Belang sein konnten. Da war dieser kleine Aufruhr für ihn sicherlich äusserst unterhaltsam gewesen. Ausserdem hatte er ihm kurz vor Aryas Aufbruch einen Brief zukommen lassen, damit er das Schlimmste verhindern konnte. Letzten Endes war es dann aber ein Laufbursche gewesen, der dafür hatte den Kopf hinhalten müssen.
«Was ist eigentlich aus dem Jungen geworden, der von den Wachen erwischt wurde?»
«Dem geht’s wieder prächtig, hatte bei all dem Pech doch etwas Glück. Nur seine Stelle ist er los. Hat aber schon wieder eine neue, soviel ich weiss.»
Nach ihrer Zeit in Lorath war Arya anzumerken gewesen, dass sie etwas beschäftigte und nachdem er den Bericht über die Ereignisse gelesen hatte, war ihm auch klar gewesen was das war. Die Schuld, die sie danach empfunden haben musste war jedoch wenig im Vergleich zu der Last, die nun auf ihr lag. Und zumindest bei dieser konnte er versuchen ihr zu helfen. Denn auch wenn sie ihr Handwerk nicht so offensichtlich ausführten wie in Asshai, in fast jeder grösseren Stadt gab es einen Schattenbinder- oder jemanden der behauptete, einer zu sein.
Keiner hatte gesehen wie er den Tempel verlassen hatte und selbst wenn, Fragen aufgeworfen hätte dies nicht. Dennoch war es ihm wichtig, in der Masse der Menschen unterzutauchen, bis er in eine weniger belebte Gasse abbog- und dort in einem schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern verschwand.
Auf den ersten Blick war dort nichts Seltsames zu sehen, nur wer genau hinblickte, erkannte die Falltür, welche am Boden eingelassen war. Er zögerte. Nicht, weil er Angst vor dem Schattenbinder hatte, dessen Rat er sich nun erhoffte, sondern weil er dessen Antwort fürchtete.
Ein letztes Mal sah er sich um, vergewisserte sich, dass niemand sah, wie er die Falltür öffnete und der schmalen Sandsteintreppe in ein Kellergewölbe hinab folgte.