Wieder herrschte diese alles durchdringende Stille. Sich selbst konnte sie ebenso wenig hören wie die Geräusche des Waldes. Ganz so wie damals, als sie mehrere Monate taub gewesen war. Während sie am Anfang noch alles um sich herum genau betrachtete und auf jedes Wabern im Nebel acht gab, liess ihre Konzentration nach einiger Zeit nach. So bemerkte sie es auch fast zu spät, als wie aus dem Nichts eine Gestalt vor ihr auftauchte. Die Augen waren dieselben wie die des Vogels und der alten Frau, doch nun war es ein Junge der vor ihr stand, nur wenig älter als Maro. Doch die Hülle vermochte es nicht sie zu täuschen, der Tod trug viele Gesichter. Schweigend machte sie sich auf ihr Urteil gefasst, die Möglichkeit zur Flucht blieb ihr hier nicht. Zumal sich fliehen für sie ohnehin feige anfühlte.
«Was mache ich nur mit dir?» Auch seine Stimme war die eines Kindes. Die Worte klangen neugierig, als wäre es eine richtige Frage. Arya war völlig bewusst, dass keine Antwort von ihr erwartet wurde, doch sie konnte nicht anders.
«Mich gehen lassen?» Der Junge lächelte. Es war keinesfalls ein freundliches Lächeln, eher ein raubtierhaftes.
«Darauf wird es wohl hinauslaufen. Weisst du warum?» Arya schüttelte den Kopf, sie hatte nicht die geringste Ahnung.
«Als meine Diener dich zu mir geschickt haben, sind sie von Anfang an sichergegangen, dass du nicht zurückkehren wirst.» In diesem Moment wusste sie selbst nicht, was sie empfand oder empfinden sollte. Wut? Enttäuschung? Hass? War Jaqen deshalb so unruhig gewesen, hatte auch er es geahnt? «Hat er. Aber er wurde überstimmt. Trotzdem bin ich auch von ihm enttäuscht, kannst du dir denken warum?» Wieder Kopfschütteln. «Er hat versucht, dich ins Leben zurück zu holen.» Und damit die Grundsätze des Ordens missachtet. «Dann ist mir ehrlich gesagt immer noch nicht klar, warum du mit dem Gedanken spielst, mich gehen zu lassen.» Natürlich wollte sie wieder zurück, doch sie wollte auch verstehen warum. Denn im Haus von Schwarz und Weiss konnte sie auf lange Sicht nicht bleiben und der Tod wusste es ebenso wie sie.
«Es gibt drei Gründe. Erstens, ich lasse mich nicht für die kleinen Machtspiele meiner Diener benutzen. Wenn du die Gelegenheit dazu bekommst, kannst du ihnen das gerne ausrichten.» Der Junge machte eine Pause, Arya glaubte, um ihre Geduld auf die Probe zu stellen. «Zweitens», fuhr er fort, «du hast den Kuss des Lebens erhalten. Ich könnte zwar meine eigenen Mächte einsetzen um dagegenzuwirken, dann würdest du ebenso tot bleiben wie du es jetzt bist. Aber das will ich nicht. Was uns schon zu Grund drei führt.» Arya erwischte sich dabei, wie sie auf ihrer Unterlippe kaute, eine Angewohnheit, die sie eigentlich schon längst abgelegt hatte. Sie hielt inne. «Ich bin ehrlich neugierig zu erfahren, was du jetzt aus deinem Leben machst.» Arya glaubte sich verhört zu haben.
«Sieh es als Lohn für deine Dienste in den letzten Jahren. Aber erwarte keinen weiteren Gefallen. Wenn sie dich nochmal erwischen, bleibst du hier.» Sie nickte nur, immer noch überwältigt von der Flut an Informationen. Dann hatte also Jaqen mit ihr dasselbe gemacht, was Thoros so oft mit Beric getan hatte. So wie auch Jon von Meilsandre zurückgeholt worden war. Gerne hätte sie noch weitere Fragen gestellt, beispielsweise, ob Jon wirklich tot war oder ob er ihrer Mutter nicht helfen konnte ihren Frieden zu finden. Aber für beides reichte die Zeit nicht mehr, die Welt um sie herum verschwand nun völlig im Nebel und auch sie selbst hatte das Gefühl, sich aufzulösen.
Sie spürte den Moment, als ihr Herz wieder zu Schlagen begann, fühlte wie sich ihre Lunge mit Luft füllte. Atmen, so grundlegend. Jeder lebende Mensch tat es. Doch von nun an würde sie es nicht mehr als selbstverständlich ansehen. Sie war sich einmal mehr im Klaren darüber, wie wenig es brauchte um den menschlichen Körper zu zerstören.
Erst nach ein paar Atemzügen wagte sie es die Augen zu öffnen. Ein kleiner Teil von ihr erwartete schon fast, die Heimatlose mit einem Messer über ihr kniend vorzufinden, bereit, ihren kleinen Fehler gleich wieder zu korrigieren. Doch sie stand einfach nur da und starrte Arya fassungslos an, was ihr eine noch grössere Genugtuung bereitete als erwartet.
Vorsichtig versuchte sie sich aufzurichten. Ihre Organe mochten wieder funktionieren, aber ihre Muskeln waren immer noch ganz klamm und sie fror erbärmlich. Aber sie war am Leben. «Wirklich erstaunlich», bemerkte die Heimatlose. «Du bist die erste, die es nach fast drei Tagen wieder zurückgeschafft hat.»
«Ich bin sicher, er hatte seine Gründe dafür», entgegnete sie bloss. Die Heimatlose ging nicht darauf ein sondern verliess Wortlos die Halle der Gesichter. Erst jetzt, wo sie keine Angst haben musste, sich oder ihn zu verraten, sah sie Jaqen an. «Danke», flüsterte sie, da sich auch ihre Stimmbänder noch taub anfühlten. Vorsichtig half er ihr beim Aufstehen, sie konnte seine Körperwärme spüren und hätte nichts dagegen gehabt, das noch etwas länger zu tun. Doch die Heimatlose kam bereits zurück und so liess Jaqen ihren Arm gleich wieder los. Wortlos reichte sie ihr die neue Robe. Immerhin war sie nun keine Akolythin mehr, sondern ein vollwertiges Mitglied des Ordnes. Auch wenn sie sich niemals weniger zugehörig fühlte als in jenem Moment.
In der kommenden Nacht lag sie wach, jedes noch so leise Geräusch liess sie hochschrecken bis sie sich schliesslich an die Wand gelehnt hinsetzte und wartete. Auf den Morgen, auf einen Angriff aus dem Hinterhalt… Je nachdem, was zuerst eintraf. Das Schlimmste was sie nun tun konnte, war die Nerven zu verlieren. Sicher, einigen der Gesichtslosen mochte sie ein Dorn im Auge sein, doch das traf sicher nicht auf alle zu. Also konnte man sie nicht zu offensichtlich beseitigen. Es sei denn, jemand hatte Jaqen dabei beobachtete, als er ihr den Kuss des Lebens gab. Doch wenn das der Fall gewesen wäre, hätte man sie und Jaqen sicher gleich beseitigt. Die Unwissenheit darüber was als nächstes geschah, war weitaus schlimmer als ein direkter Angriff.
Am nächsten Morgen erschien sie unausgeschlafen beim Frühstück und musste sich zwingen, etwas zu essen um den Schein zu wahren. Sie durfte nicht misstrauisch wirken, denn wer misstrauisch wirkte, verbarg meistens etwas.
~ ~ ~
Mit ruhiger Hand zog er das Messer über die Haut. Der Trick bestand darin, den ganzen Schnitt mit einer einzigen fliessenden Bewegung durchzuführen. So liess sich die Haut ohne Probleme vom toten Körper lösen. Als er damit fertig war, wusch er sich gründlich die Hände. Erst jetzt drehte er sich zu der Priesterin um, die schon seit geraumer Zeit hinter ihm im Raum stand und ihn beobachtete. Wenn sie etwas von ihm wollte, musste sie ihm das schon direkt sagen. Ihr Gesicht verriet nichts darüber, was sie dachte, war geradezu steinern- emotionslos. Eine Maske wie das Gesicht, welches er soeben von seinem vorherigen Besitzer gelöst hatte.
«Wie hast du es gemacht?»
«Wie immer, mit einem scharfen Messer.» Ihr ging etwas um etwas ganz anderes, das war ihm bewusst. Aber ihm war danach, etwas mit ihren Nerven zu spielen. Das kurze verärgerte Aufblitzen in ihren Augen zeigte seinen Erfolg diesbezüglich.
«Lass das. Ich will wissen wie du Ihn betrogen hast.»
«Ihn kann man nicht betrügen», stellte er klar und scheute sich dabei auch nicht ihr direkt in die Augen zu sehen.
«Willst du etwa wirklich behaupten, dass sie die Prüfung bestanden hat?» Ihre Stimme triefte nur so vor Ironie.
«Wie sonst sollte ein Mädchen zurückgekehrt sein?» Er machte sich nun auch daran, das Stilett zu säubern, mit dem er das Gesicht vom Toten gelöst hatte. So konnte er die Zeit dieses unnützen Gesprächs wenigstens für etwas gebrauchen.
«Ich dachte, das könntest du mir vielleicht sagen. Oder soll ich allen ernstes daran glauben, dass es ein Zufall war?» Er hielt in seiner Arbeit inne.
«Warum reagiert eine Priesterin von ihm so gereizt, wenn er sich dazu entscheidet ein Mädchen in seine Dienste aufzunehmen? Sie lebt, sie hat bestanden. Damit ist alles gesagt.» Mit einem Mal wirkte das Gesicht der Priesterin nicht mehr ausdruckslos, sondern resigniert, fast schon traurig.
«Trotz allem habe ich gehofft, dass du noch genug Rückgrat besitzen würdest um deine Verfehlungen wenigstens zuzugeben. Bevor du hierhergekommen bist, warst du in Asshai. Ich bin sicher, dort hast du auch noch andres gelernt als Mondgras zu pflücken.» Seine Mine verhärtete sich. Er ging nicht darauf ein, sie hätte ohnehin versucht, jedes Wort gegen ihn zu verwenden. Und ganz im Unrecht war sie damit sicher nicht, er hatte versucht Arya zurück zu holen. Doch sie war erst über eine Stunde danach zurückgekehrt, das konnte also kaum der Grund dafür gewesen. Seitdem gab es für sie keine Möglichkeit ungestört miteinander zu sprechen. Wenn die Priesterin aber schon Beschuldigungen aussprach, wollte er dasselbe tun. «Vielleicht ist eine Priesterin auch nur so erstaunt über die Rückkehr eines Mädchens, weil nie vorgesehen war, dass sie besteht?» Sie blieb ihm die Antwort schuldig und ging. Sie versuchte nicht mal, ihn anzulügen.
Für den Moment war er sicher. Wenn sie irgendwelche Beweise für ihre Vermutungen hätte, wäre ihm sicher schon längst der Prozess gemacht worden. Sie tat es nur deshalb nicht, weil sie befürchtete zu verlieren und das hätte für sie wiederum nachhaltige Konsequenzen gehabt. Aber das hier war noch nicht ausgestanden. Dennoch hielt sich seine Furcht in Grenzen. Als er versucht hatte Arya ins Leben zurück zu holen, war eine Blockade in ihm durchbrochen worden. Dieses etwas, das er in den letzten Jahrzehnten mühsam errichtet hatte und das es ihm erlaubte, alle- oder zumindest die allermeisten- Gefühlsregungen dahinter zu verbergen. Er war durchaus noch dazu in der Lage, das musste er sein um seine Rolle hier weiter spielen zu können. Aber er würde Arya nicht mehr von sich wegstossen und ja, er würde diesen Ort verlassen. Er glaubte nach wie vor an ihn und bereute nur die wenigsten seiner Morde. Doch es war nicht mehr derselbe Ort, den er früher gekannt hatte und die aufkeimende Missgunst innerhalb des Ordens erinnerte ihn viel zu sehr an den Krieg in Westeros. Er löste sich nicht von seinem Glauben, aber von seinem Pflichtgefühl von einem Orden, der langsam auseinanderbrach.
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Er sah nicht, wie jemand vor seiner Tür stand. Er spürte es, fühlte den leichten Windhauch unter der Tür hindurch. Geräuschlos schob er die Decke zurück und griff unter die dünne Strohmatte, wo immer ein Messer lag. Nicht, dass er es hier vorher je gebraucht hätte, aber er schlief auch während seiner Aufträge immer mit einem Messer in Griffnähe. Diesmal offensichtlich nicht, denn die Klinge war weg. Eine wirkliche Überraschung war das nicht.
Langsam erhob er sich und begab sich hinter die Tür. Kein besonders originelles Versteck, doch es konnte ihm vielleicht einige Sekunden verschaffen. Lautlos begann sich die Tür zu öffnen, nur einen Spalt breit. Wer auch immer da stand erkannte nun sicher, dass sein Schlafplatz leer war. Sicher, er hätte die Tür einfach zuknallen und von innen zusperren können, doch dann sässe er in der Falle. Nein, ihm blieb nichts anderes als abzuwarten, bis sich die Person genug weit im Raum befand, damit er sie von hinten angreifen konnte. Nur war die Priesterin nicht alleine, wie er insgeheim gehofft hatte, sie waren zu dritt. Und dem gab es nicht viel entgegenzusetzen.
Er versuchte zwar sich zu sträuben und landete sicher auch den ein oder anderen schmerzhaften Treffer, doch nur kurze Zeit später lag er keuchend, gefesselt und mit schmerzenden Rippen auf dem Boden.
«Du wolltest uns die Wahrheit vielleicht nicht sagen, aber wir werden sie auch so herausfinden.» Es kam ihm nicht mal in den Sinn nach Hilfe zu rufen. Die meisten der Gesichtslosen waren längst wieder in anderen Städten unterwegs, sie waren so gut wie alleine.
«Warum ist sich eine Priesterin so sicher, dass ein Mädchen nicht von selbst zurückgekehrt ist?» Er erwartete nicht mal wirklich eine Antwort, versuchte nur Zeit zu schinden um seine Fesseln zu lösen. Leider waren die Knoten wirklich gut gemacht und boten nicht viel Spielraum.
«Die Menge an blauem Eisenhut in dem Becher hätte jedes Lebewesen getötet und zwar endgültig.» Kalte Wut stieg in ihm hoch. Also war die überstürzte Prüfung nur eine Tarnung gewesen um zu verschleiern, dass sie ohnehin nie eine Chance gehabt hatte. Das Gift war dazu ausgerichtet, die Akolythen an den Rande des Todes zu führen, nicht darüber hinaus. Er zerrte mit aller Kraft an seinen Fesseln, ohne das geringste zu erreichen. Instinktiv versuchte er zurückzuweichen, als sich die Priesterin über ihn beugte, doch natürlich gab es dafür keine Möglichkeit. Mit einem Ruck riss sie ihm das Gesicht herunter.
«Das wird es um einiges einfacher machen. Letzten Endes wird es ihr Vertrauen zu dir sein, das sie umbringt.» Er versuchte sich trotz seiner Fesseln und der dadurch verursachten Schmerzen aufzubäumen, erhielt aber als Antwort nur einen Schlag gegen die Schläfe, der ihn sofort in die Dunkelheit warf.
Die erste Empfindung die er bewusst wahrnahm, war der Schmerz in seinem Kopf. Ein stechendes Pochen im selben Takt wie sein Herzschlag, also ziemlich schnell. Seine Augen konnte er öffnen, nur half ihm das nicht viel. Um ihn herum herrschte völlige Dunkelheit. Er versuchte sich zu bewegen, doch die Fesseln liessen das nicht zu. Nicht einmal den Kopf konnte er heben, als er es versuchte stiess er gegen einen Widerstand, dem Geräusch nach zu urteilen Holz. Er befand sich also zusammengeschnürt und geknebelt in einer Holzkiste. Langsam begannen auch die Erinnerungen wie er überhaupt in diese Lage gekommen war zurückzukehren. Arya. Er riss und zerrte an seinen Fesseln, doch es half alles nichts. Selbst der Knebel sass so fest, dass er keine Chance hatte ihn auszuspucken. Seine Hände und Füsse waren aneinandergebunden, sodass er nicht mal gegen das Holz treten konnte um sich auf diesem Weg bemerkbar zu machen.
Die Enge setzte ihm immer mehr zu. Eine seiner frühstens Kindheitserinnerungen bestand darin, dass er von einem seiner Meister in einen Schrank gesperrt worden war, wenn er zu langsam auf einen der Befehle reagiert hatte. Damals überkam ihn immer das Gefühl, die Wände kämen langsam auf ihn zu und auch wenn er mittlerweile erwachsen war und wusste, dass das nicht sein konnte, ging es ihm heute ganz ähnlich. Neben seinen Gliedmassen fühlte es sich nun so an, als würde sich auch ein Seil um seine Brust schlingen und ihm langsam die Luft abschnüren. Im Käfig auf dem Weg zur Nachtwache waren die Verhältnisse zwar ähnlich beengt gewesen, doch damals hatte er einen guten Blick auf die Aussenwelt gehabt.
Mit viel Selbstbeherrschung gelang es ihm seinen Atem wieder etwas zu beruhigen und seine Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Warum er sich ausgerechnet in einer Holzkiste befand war ihm ein Rätsel, aber um ihn herum war es vollkommen still, daher befand er sich vermutlich noch innerhalb des Tempels. Oder die Priesterin hatte ihn an einen abgelegenen Ort geschleppt, um ihn dort seinem Schicksal zu überlassen.
Wieder kämpfte er erfolglos gegen seine Fesseln an und verfluchte sich dafür, nicht vorher gehandelt zu haben. Ihm war ja klar gewesen, dass die Sache noch nicht vorbei war. Offenbar hing er doch mehr an seinem Pflichtgefühl gegenüber dem Orden, als er erwartet hätte. Bitte, dachte er. Wenn ein Mann hier herauskommt, schnappt er sich Arya und verschwindet so weit wie nur möglich. Vorausgesetzt natürlich, sie war noch am Leben… Ihm bleib keine Zeit mehr, weiter über diese Möglichkeit nachzudenken, wofür er schon fast dankbar war.
Der Deckel der Kiste wurde bei Seite geschoben und seine Augen braucht einen Moment um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen, auch wenn es nicht viel heller war. Über ihm stand Barrael mit einem Messer in der Hand. Als er sich über ihn beugte war Jaqen sicher, seine letzten Momente seien gekommen- doch stattdessen liess der schmerzhafte Druck um seine Hand und Fussgelenke nach. Seine Fesseln waren gelöst.
Sofort streifte er die Seile ab und setzte sich aufrecht hin. Seine Beine waren eingeschlafen und er wollte erst sichergehen, dass sie sein Gewicht auch tragen konnten.
«Wie...», begann er, nur um gleich unterbrochen zu werden.
«Später. Erstmal müsst ihr von hier verschwinden», machte Barrael deutlich. Beim Wort «ihr» sah er sich etwas genauer um. Wie vermutet befanden sie sich tatsächlich noch im Tempel, allerdings in einem alten und wenig betretenen Teil davon, der meist nur noch als Lagerraum genutzt wurde. Das Gerümpel interessierte ihn wenig, sein Blick blieb an Arya hängen, die in ihrem Rucksack herumwühlte. Sie trug bereits Reisekleidung. Eine Welle der Erleichterung erfasste ihn. Sie hatte es also tatsächlich geschafft zu entkommen, doch wie? Barrael drückte ihm ein Gesicht in die Hand, welches ihm schon längst so vertraut war wie sein eigenes.
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Nur wenig später schlichen sie durch die unterirdischen Gänge des Tempels. Mittlerweile trug auch er Reisekleidung und Gepäck, auch wenn es nicht viel war. Sie konzentrierten sich auf alle Geräusche, die auf sich nähernde Personen hindeuten konnten, aber es war vollkommen still. Und es gab noch einigen Bedarf an Antworten. Das wusste auch Barrael und begann von sich aus zu erklären.
«Ich musste aus der Kleinen hier herauskriegen, ob sie bei der Prüfung geschummelt hat oder nicht.» Bei dem Wort Kleine verdüsterten sich Aryas Gesichtszüge sichtlich, aber sie schwieg.
«Meine Rolle habe ich übrigens überzeugend gespielt, allerdings hat sie nicht die Antwort gegeben, mit der die meisten gerechnet hätten.»
«Und die wäre?», fragte Jaqen direkt an Arya gewandt.
«Dass ich in erster Linie zurückgeschickt wurde, weil einige wollten, dass ich es nicht tue. Der Tod will sich nicht zum Werkzeug seiner eigenen Diener machen lassen.»
«Ich fand diese Antwort durchaus einleuchtend und hätte es darauf beruhen lassen. Aber unsere selbsternannte Anführerin gibt sich da nicht so leicht zufrieden, sie scheint geradezu besessen von der Sache zu sein. Also hielt ich es für besser euch hier wegzuschaffen, bevor sie sich etwas Neues einfallen lässt.» Er konnte seine Dankbarkeit nicht einmal ansatzweise in Worte fassen. Vielleicht war der Orden doch noch nicht verloren, solange es Leute wie Barrael gab. Über den Grund, weshalb die Priesterin Arya nicht länger akzeptierte, konnte er nur Vermutungen anstellen. Sein Arrest war in erster Linie durch den Angriff von Hestins Männern aufgehoben worden, als sie alle geflohen waren. Offenbar hatte er daraus die falschen Schlüsse gezogen, sie war offensichtlich nachtragender als gedacht.
«Was hatte sie mit einem Mann vor?» Der Gang zweigte in zwei Richtungen ab, sie nahmen die linke.
«Vermutlich wusste sie das selbst noch nicht so genau und hat dich darum erstmal aus dem Verkehr gezogen.» Das Ende des Tunnels kam in Sicht.
«Ab hier seid ihr auf euch gestellt. Ich kann mich sicher irgendwie aus der Sache herauswinden, immerhin hat die Kleine nichts zugegeben, was euch in Schwierigkeiten bringen könnte. Aber wenn ihr jetzt verschwindet, werden sie sicher nach euch suchen, da wird mein gutes Wort alleine nicht reichen.» Das war immer noch das kleinere Risiko und ein Blick nach links verriet, dass Arya dasselbe dachte. Sie verabschiedeten sich in dem Wissen, einander wohl nicht mehr wieder zu sehen.
Kalte Nachtluft schlug ihnen entgegen als sie sich durch die schmale Tür in die Freiheit traten. Sie befanden sich noch immer auf der Insel der Götter, unweit des Hauses der Roten Hände. Er sah, wie Aryas Blick zu dem Gebäude huschte. Er brauchte keine hellseherischen Fähigkeiten um zu wissen, woran sie dachte. Mit welchem Gedanken sie spielte. Letzten Endes machte sie aber keine Anstalten auf das Gebäude zuzugehen, im Wissen darum, Maro niemals eine sichere Zukunft bieten zu können. Stattdessen kehrten sie beidem den Rücken, dem Haus der Roten Hände und dem Haus von Schwarz und Weiss. Keiner von ihnen sah zurück, viel wichtiger war es nun, was vor ihnen lag. Die Freiheit.