Selbst auf den Mauern Winterfells hatte der Tod Einzug gehalten. Denn auch die Weissen Wanderer besassen Bogenschützen und diese waren nicht zu unterschätzen. Ausserdem hatten sie, genau wie menschliche Armeen es auch zu tun pflegten, damit begonnen, die Burgmauern emporzuklettern. Während der restliche Kampf langsam zum Erliegen kam, gab es immer noch viele Weisse Wanderer und Wiedergänger, die Letzteres versuchten und so ging es auf der Wehrmauer erst richtig los.
Der Gesichtslose war hauptsächlich hier hinaufgekommen, weil er sich einen Überblick hatte verschaffen wollen. Stattdessen wurde er in weitere Kämpfe verwickelt. Er hatte einem der toten Soldaten eine Armbrust samt sechs verbliebener Bolzen abgenommen, die sechs ihrer Gegner wieder von der Mauer hinabbeförderten. Keiner fragte, woher er gekommen war, alle waren einfach nur froh über jede helfende Hand- und er seinerseits war dankbar über die Ablenkung.
Es dauerte nicht lange, bis sich ihre Gegner auch hier zurückzogen.«Für einen Südländer kämpfst du ganz anständig.» Er nickte dem Mann, der das gesagt hatte nur kurz dankend zu. Sein Gegenüber stammte mit ziemlicher Sicherheit aus dem freien Volk, zumindest wirkten die Kleidung und der ungezähmte Bart ganz danach. Ausserdem machte die Kälte ihm offenbar weniger aus, während er selbst merkte, wie er bereits wieder zu zittern begann.
«Spätestens jetzt wünschst sich wohl jeder von euch Söldnern, auf der anderen Seite des Meeres geblieben zu sein, nicht wahr?»
«Ein Mann kennt weitaus angenehmer Orte», gab er schliesslich zu. Jedoch auch um einiges schlimmere.
«Ich auch», entgegnete der Wildling, «aber auf der anderen Seite der Mauer wurde es etwas ungemütlich. Da haben wir eben unsere Zelte zusammengebrochen.»
Auch wenn das Gespräch so nicht geplant gewesen war, erfuhr er von dem Wildling, der sich kurz darauf als Tormund Riesentod vorgestellt hatte, einige interessante Details über den Krieg, die ihnen vielleicht noch von Nutzen sein konnten.
Sie halfen den anderen Männern dabei, die Leichen in einen der Burghöfe zu schaffen, wo sie später identifiziert und gezählt werden sollten. Da das Lager vernichtet war und die Umgebung nicht mehr als sicher galt, wurden innerhalb der Burgmauern zahlreiche improvisierte Zelte aufgestellt und dutzende Feuer entfacht. Dass es von nun an eng werden- und einer Belagerung gleichen würde, war den Meisten von ihnen im Moment egal, sie waren einfach froh, dass der Schrecken für den Moment vorüber war. Er war da ganz anderer Meinung, denn die Tasche mit seinen Waffen und den Gesichtern befanden sich noch im Winterdorf.
«Die Drachen waren sehr eindrücklich», bemerkte er. Sie sassen zusammen mit einigen jüngeren Soldaten an einem der Lagerfeuer, während ihr Abendessen, bestehend aus einem dünnen Eintopf, darauf köchelte. Schon jetzt wurden die Lebensmittel rationiert, eine Notwendigkeit, um alle durch den Winter zu bringen.
«Oh ja», stimmte Tormund zu. «Ich meine, ich hab’ ja schon viel gesehen, aber die Biester sind schon riesig.» Wie Tormund ihm nach dem Kampf erzählt hatte, befand sich der dritte der Drachen nun unter der Kontrolle des Nachtkönigs. Bis auf Danerys Drachen hatte er aber keine entdeckt.
«War der Nachtkönig heute hier?», fragte einer der Soldaten, eher ein Junge denn ein Mann. Tormund verneinte. «Ich denke, das hier war eine Vorhut. Sie wollen uns zuerst schwächen, bevor sie zum endgültigen Angriff übergehen.»
Der Gedanke gefiel ihm nicht. Denn nun steckten auch Arya und er hier fest, selbst wenn sie den Auftrag ausführen konnten.
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Ganz in Gedanken versunken stand er an die Wand gelehnt da und schärfte seine Klinge, als er einen leichten Windhauch spürte und einen Schneeball um Haaresbreite an seinem Gesicht vorbeiziehen sah.
«Ein Mädchen hat seine Übungen vernachlässigt.»
«Nein, der Wind war nur ungünstig», rechtfertigte sie sich und trat neben ihn. Ihm war klar, dass sie absichtlich danebengezielt hatte. Es war das erste Mal seit der Meinungsverschiedenheiten vor einigen Tagen, dass sie einander gegenüberstanden. Sie machte den Anschein, als hätte sie in dieser Zeit nicht allzu viel Schlaf erhalten. Dennoch war ihr Blick herausfordernd, wenn auch eher auf eine spielerische Art. Er kannte diesen Blick. «Ah, ein Mädchen ist auf einen Kampf aus?»
«Entweder du oder die Wildlinge. Ich habe es mit Mühe unterdrückt, ein Schwert in die Hand zu nehmen, weil dieser Jorah Mormont mich die ganze Zeit beobachtet.» Auch ihm war das nicht entgangen, denn auch er spürte regelmässig die Blicke Mormonts in seinem Rücken. Sie mussten vorsichtig sein.
Nur zu gerne wäre er ihrer Bitte nachgekommen, auch er sehnte sich nach einem anspruchsvollen Kampf, bei dem es aber nicht um Leben und Tod ging. Doch es gab im Moment keinen Winkel, an dem sie nicht beobachtet wurden. Jedenfalls keinen, der genug Platz für einen anständigen Kampf geboten hätte.
«Es sind zu viele Leute hier. Aber ein Mann hat eine andere Aufgabe für ein Mädchen.» Sie wirkte zwar kurz enttäuscht, hörte aber aufmerksam zu als er fortfuhr. «Ein Mann hat bemerkt, dass Daenerys eine weitere Vertraute hat.» Und diese war nicht weniger misstrauisch, ging beim Beobachten aber unauffälliger vor als Mormont.
«Missandei», sagte Arya. «Was ist mit ihr?»
«Sie wird der Schlüssel zum Auftrag. In ihrer Gegenwart fühlt Danerys sich sicher.» Ihm war nicht entgangen, dass Daenerys, wenn sie sich nicht bei Jon Snow befand, das Zimmer mit ihr teilte. Eine bessere Gelegenheit würden sie nicht finden.
«Bevor ein Mann seine Arbeit tun kann, muss ein Mädchen Missandeis Gewohnheiten lernen. Wie sie geht, wie sie spricht, wie sie sich verhält.» Es stand zwar ausser Frage, dass Arya alleine in der Lage gewesen wäre, Missandei zu töten, aber die Gabe Gesichter zu nehmen, erlernten erst die vollwertigen Mitglieder des Ordens.
Arya nickte. Er hatte erwartet, dass der Auftrag sie eher langweilen würde, aber offenbar gefiel ihr die Vorstellung, einmal mehr in eine andere Identität schlüpfen- und ihre eigenen Probleme für kurze Zeit ausblenden zu können.
«Lady Arya…» Der Wachmann, der sie unterbrach, wirkte alles andere als glücklich mit seiner Aufgabe. «Euer Bruder schickt mich. Lady Sansa… Es ist dringend.» Er erinnerte sich an ein Gespräch, welches er vor wenigen Tagen aufgeschnappt hatte. Zwei Adlige hatten sich unterhalten und gemeint, dass sie schwer erkrankt sei. Er hatte sich nicht wirklich viel dabei gedacht, doch wenn er die Worte und Aryas Blick richtig deutete, entsprach es wohl doch der Wahrheit. Nach all den Fortschritten, die sie in den letzten Jahren erzielt hatte vertraute er aber darauf, dass sie Distanz wahren konnte.
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In der Kammer war es stickig, anscheinend hatte sich wegen des Fiebers niemand getraut, das Fenster zu öffnen. Unterschied hätte es keinen mehr gemacht, das erkannte sie, als sie ihre Schwester erblickte. Ihre blasse Haut war schweissnass und Arya war sich nicht sicher, ob sie die Augen nur geschlossen hielt, oder ob sie bereits das Bewusstsein verloren hatte.
Sie nahm den Lappen aus der Wasserschüssel, wrang ihn aus und tupfte damit Sansas Hals und Gesicht ab. «Danke», murmelte sie und öffnete ihre Augen.
«Soll ich das Fenster öffnen?» Mehr als es ihr angenehmer zu machen konnte sie nicht mehr tun, aber zumindest das wollte sie. «Ja, mir ist so heiss.»
Jon stand auf der anderen Seite des Bettes und ein Diener brachte Bran herein. Es war das erste Mal, dass sie die Möglichkeit hatten, Abschied zu nehmen. Jon und Bran zumindest, Arya hatte ihren Abschied schon vor mehreren Jahren genommen, damals, als sie sich endgültig dazu entschieden hatte, Nadel den Wellen zu überlassen.
Jon sah sie an. «Es ist Schwindsucht.»
«Ich weiss.» Die Worte kamen gleichzeitig aus Aryas und Brans Mund. Jon wirkte, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen.
«Warum habt ihr mir nichts davon erzählt?» Sie wollte schon zu einer Antwort ansetzen, doch ihre Schwester kam ihr zuvor
«Weil ich es ihnen verboten habe. Ich wollte dich nicht ablenken.» Ihre Worte beruhigten Jon keineswegs, im Gegenteil. «Du bist meine Schwester! Hätte ich es gewusst…»
«Dann hättest du was? Die Weissen Wanderer gefragt, ob sie mit ihrem Angriff noch etwas warten können?» Sansa war offenbar zu schwach, um die gewünschte Ironie in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen. Ausserdem hatte das Sprechen zu einem Hustenanfall geführt, der gar nicht mehr enden wollte. Erst nach einiger Zeit hatte sie sich wieder soweit beruhigt, dass sie fortfahren konnte.
«Hört zu. Ich will jetzt nicht mit euch streiten. Wir… Ihr müsst zusammenhalten…»
«Das werden wir», sagte Jon, doch in Aryas Ohren hörten sich seine Worte hohl an. Sie waren schon lange kein Rudel mehr und das lag nicht nur an ihr. Auch Jon hatte sich entfernt, von Bran und ihr selbst ganz zu schweigen. Dennoch stimmte sie Jon zu. «Natürlich werden wir. Haben wir doch immer.»
Als Sansa in die Kissen zurücksank war sie zufrieden. Ihr Atem ging rasselnd und unregelmässig, wurde aber von Minute zu Minute ruhiger. Bis er irgendwann ganz aussetzte.
Es war allen klar, dass es vorbei war, dennoch sagte keiner von ihnen ein Wort. Arya liess Sansas Hand los und strich ihr eine Strähne ihres kastanienbraunen Haares aus dem Gesicht. Sie hoffte, dass ihre Schwester, wo auch immer sie nun sein mochte, mehr Frieden fand als zu ihren Lebzeiten.
Durch die Stille im Raum merkten sie sofort, als draussen ein Tumult ausbrach und so zuckte keiner von ihnen zusammen, als eine der Wachen die Tür aufstiess und hineinstürmte.
Wer auch immer der Soldat sein mochte, er hatte offenbar nicht damit gerechnet, was hier vor sich ging und wirkte peinlich berührt. «E-Es tut mir leid Mylord, Königin Daenerys schickt mich. Die Weissen Wanderer sammeln sich einige Meilen nördlich von hier, sie können jeden Moment angreifen.» Ohne ein weiteres Wort erhob Jon sich, küsste Sansa noch ein letztes Mal auf die Stirn und folgte dem Soldaten aus dem Zimmer.
So sassen sie also nur noch zu zweit am Totenbett ihrer Schwester. Erst als sie Bran anblickte, erkannte sie, dass auch er eher ausdruckslos als traurig wirkte. Jon war der Einzige von ihnen gewesen, der Tränen vergossen hatte.
«Es ist gut, dass Sansa es nicht gewusst hat», sprach er schliesslich in die Stille hinein.
«Was gewusst hat?»
«Dass unser Haus vor dem Ende steht.» Sie konnte ihm nicht recht folgen, doch wenn man seine Fähigkeiten bedachte, waren seine Worte durchaus beunruhigend.
«Ich weiss, warum du hier bist.» Nein, wollte sie rufen, sprich nicht weiter. So lange er es nicht aussprach, konnte sie es noch ignorieren. Sobald er es in Worte fasste, war es sein Todesurteil. Denn es gab nur drei Gründe, aus denen es den Männern ohne Gesicht gestattet war zu morden. Wenn sie den Auftrag dazu hatten, aus Selbstverteidigung- oder um unliebsame Zeugen aus dem Weg zu schaffen.
«Wenn es dich beruhigt, ich habe nicht vor Jon oder Daenerys etwas zu erzählen. Es würde nämlich nichts daran ändern.» Sie schluckte leer, wusste nichts, was sie darauf hätte erwidern können.
Er wird ganz schön lästig, nicht wahr? Und weglaufen kann er auch nicht, also warum… Sie umfasste mit beiden Händen ihren Kopf. Verschwinde! Sie versuchte, eine gedankliche Schutzwand zu errichten und tatsächlich belästigte er sie nicht mehr. Fragte sich nur, wie lange. Ohne noch einmal zu Bran oder der Leiche ihrer Schwester zurückzublicken, stürmte sie aus dem Zimmer.