Wie sich herausstellte, war der tote Wachmann tatsächlich hinaus aufs Meer getrieben worden. Doch an seine Stelle traten zwei weitere Wachen des Seelords, die sich zwar nicht einmischten, aber alles was auf der Insel vor sich ging genau beobachteten. Laut der Heimatlosen waren sie nur so selbstbewusst, weil sie jeglichen Angriff der Gesichtslosen ihrerseits als Grund für einen Angriff nehmen würden. Es herrschte kein Frieden, es herrschte lediglich Waffenruhe. Und das auch nur, weil beide Seiten dabei waren ihre Kräfte zu sammeln.
Je offensichtlicher die Unterdrückung durch den neuen Herrscher wurde, desto mehr Menschen suchten den Tempel auf um zu ihren Gottheiten zu beten. Es hatte in den letzten Wochen den ein oder anderen Putschversuch gegeben. Alle waren sie mit grosser Überzeugung durchgeführt worden und alle waren sie gescheitert. Die Leichen der geschnappten Rebellen hingen immer noch am Marktplatz und wurden Tag und nach bewacht, damit die Familienangehörigen sie nicht bestatten konnten. Sie sollten dort so lange hängen und verwesen, bis keiner mehr es wagte, gegen Hestin vorzugehen. Nur war der neue Seelord kein Braavosi und unterschätzte den Stolz der Stadtbevölkerung. Selbst wenn sie jedes Mal aufs neue versagten, aufgeben war für die Bewohnerinnen und Bewohner undenkbar. Zumindest für diejenigen, die nicht selbst vom aufkommenden Sklavenhandel profitierten. Gerade unter der reichen Bevölkerung gab es durchaus Leute, die Geschmack an dem Geschäft fanden.
Es verschwanden weiterhin Menschen, es kamen aber auch neue in die Stadt. Vorwiegend Söldner, was die Stimmung nur zusätzlich aufheizte. Aber auch ihre Reihen verdichteten sich laufend. Mittlerweile zählte sie beim Abendessen weit über dreissig Gesichtslose, so viele von ihnen hatte sie noch nie auf einmal gesehen. Im Gegensatz zu den Männern, die dem Seelord zu Verfügung standen, wirkte die Anzahl verschwindend gering. Doch Arya wusste es besser. Noch mischten sie sich nicht in das Geschehen ein, für Arya war aber klar, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Und spätestens dann würde Hestin schon merken, wen er sich da zum Feind gemacht hatte.
Der nahende Krieg blieb aber nicht der einzige Grund für ihre Unruhe. Während ihrer Rückreise aus Westeros hatte Jaqen ihr mitgeteilt, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihre letzte Prüfung ablegte. Damals erklärte er ihr, alle Mitglieder müssten dafür anwesend sein- was bald der Fall sein dürfte. Es sei denn, ihre Lüge rund um Noridos hatte das zunichte gemacht.
Arya war in dieser Zeit viel in der Stadt als Beobachterin unterwegs. Dabei bekam sie sogar regelmässig neue Gesichter und Verkleidungen zur Verfügung gestellt. Selbst wenn sie einmal auffallen sollte, am nächsten Tag sah sie schon wieder völlig anders aus.
Nach mehreren Wochen Belauschen zeigte sich, dass die Wachen während sie auf ihrem Posten waren nicht einfach so über ihre Geheimnisse plauderten. Selbst in den Wirtshäusern wussten sie nicht viel Interessantes zu erzählen, jedenfalls nichts, was sie nicht bereits wusste.
Dass Hestin Leute verschleppen liess und auf dem besten Weg dazu war, Braavos zu einer Sklavenstadt zu machen, blieb selbst dem einfältigsten Bewohner nicht verborgen. Durch die Befragung des Gefangenen einige Wochen zuvor wussten sie auch, das Astapor sicher darin verstrickt war. Bevor sie etwas unternehmen konnten, mussten sie alle beteiligten Städte kennen. Ansonsten war es möglich, dass sie sich auf drei Städte konzentrierten, während ihnen eine vierte in den Rücken fiel. Wenn Arya bedachte, wie viele Menschen in ihrer Kindheit in Westeros zu Tode gekommen waren, nur weil sie nicht mit einem Hinterhalt gerechnet hatten, machte das durchaus Sinn. Bei diesem Gedanken musste sie unweigerlich an Jon denken. Durch die bedrohliche Situation am Hafen und dem Winter, der nach wie vor in Westeros tobte, gab es kaum Neuigkeiten aus ihrer alten Heimat. Und sie war auch nicht erpicht darauf, irgendwelche zu erfahren. Wenn Jon tot war, dann wollte sie es lieber gar nicht wissen.
So kehrte sie einmal mehr unverrichteter Dinge zurück, äusserst unzufrieden mit sich selbst. Aber sie durfte nur diese Art von Beobachtungen anstellen, für alles andere wurden die voll ausgebildeten Gesichtslosen eingesetzt.
Es war, als wäre mit dem Beginn der Unruhen ihre Ausbildung aufgeschoben worden. Der Gütige Mann war nicht mehr in der körperlichen Verfassung dazu, die Heimatlose hatte für den Moment mehr oder weniger die Führung des Ordens übernommen und dementsprechend keine Zeit. Und Jaqen… Sie wusste nicht, was mit ihm los war, nur dass er ihr aus dem Weg ging. Schon wieder. Auf der einen Seite hätte sie ihn gerne zur Rede gestellt, auf der anderen war ihr klar, dass sie so nicht mehr aus ihm herausbrachte. Sie wusste manchmal nicht mehr, was sie von der Beziehung zwischen ihnen halten sollte. Für ein reines Verhältnis zwischen Ausbildner und Akolythin war es schon immer zu eng gewesen, eine wirkliche Freundschaft war es trotzdem nicht. Trotzdem bedeutete er ihr etwas und sie wusste, dass sie ihm auch nicht egal war.
Sie versuchte immer wieder das wenige Wissen über ihn und seine Vergangenheit zusammenzusetzen, damit sie wenigstens ansatzweise verstand, was in ihm vorging. Doch genau das versuchte er ganz offensichtlich zu verhindern. Sie war es leid, immer alles hinzunehmen. Lange konnte sie das nicht mehr.
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Es war Neumond und der Tempel spross nur so vor Leben. Gut, das war vielleicht etwas viel gesagt, aber zumindest war der Raum in dem sie ihre Zusammenkünfte abhielten voll und die zahllosen Stimmen die durcheinanderredeten glichen dem Summen in einem Bienenstock. Ein Summen, welches augenblicklich verstummte, als der gütige Mann mit der Hand ein Zeichen gab. Es wirkte so, als hätte der nahende Krieg die letzten Lebensgeister in ihm geweckt. Noch immer war ihm deutlich anzusehen, dass sein Ende nicht in allzu ferner Zukunft liegen konnte, aber er hatte offensichtlich seine letzten Kraftreserven zusammengekratzt um an der Lösung dieses Konflikts zu arbeiten. «Wie ihr euch denken könnte, gab es Gründe dafür, euch alle zurückzubeordern. Und wie mir scheint, war das auch ganz gut so.» Mit diesen Worten begann er ihre momentane Situation zusammenzufassen.
Wie Arya vermutete hatte, war einer der Gesichtslosen im Palast eingeschleust worden und hatte dabei weitaus mehr erfahren als sie auf ihren Streifzügen. Die angespannte Waffenruhe sollte bereits morgen ihr Ende finden. Hestin beabsichtigte doch tatsächlich, den Tempel zu stürmen. Tagsüber, damit möglichst viele Leute alles mitbekamen. So hoffte Hestin, denn Widerstand zu schwächen. Nicht, dass sie bisher aktiv daran teilgenommen hätten. Doch wenn selbst ihr Orden nicht standhielt, wie sollte es dann die Rebellion? So zumindest Hestins Logik. Doch diesen Gefallen taten sie ihm selbstverständlich nicht.
«Auf lange Sicht werden wir den Tempel nicht halten können.» Arya hätte erwartet, dass diese Feststellung einen Aufruhr in die Reihen der Gesichtslosen brachte, aber es machte den Anschein, als hätte jeder von ihnen damit gerechnet.
«Einige unserer Vorräte, Waffen und Gesichter werden wir retten können doch der Grossteil…»
«Lieber vernichten wir alles, als dass es ihnen in die Hände fällt», rief ein Gesichtsloser am hinteren Ende des Tisches. Zustimmendes Murmeln erhob sich. Arya sah es zwar ebenso, doch der Gedanke daran, den Tempel vielleicht für immer zu verlassen bereitete ihr doch grösseres Unbehagen als sie gedacht hätte. Sie hatte in diesen Mauern viel Schmerz erlebt, doch war es nun schon fast die Hälfte ihres Lebens ihr Zuhause. Das einzige Zuhause, das sie noch hatte.
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«Und was soll ich tun?» Die Versammlung war erst gerade vorüber und Arya wusste sehr wohl, was von ihr erwartet wurde.
«Packen helfen. Alle Akolythen müssen den Tempel verlassen. Keine Ausnahmen.» Ihr Blick war eisig.
«Wir sind sonst schon viel zu wenige! Du weisst, dass ich kämpfen kann.» Er war genervt. Weniger wegen ihrem Protest, damit hatte er gerechnet, sondern weil sie die Zeit, die sie hier mit Diskutieren vergeudeten beide deutlich besser nutzen konnten.
«Ein Mädchen kann kämpfen, aber offensichtlich keinen Befehlen folgen.»
«Nicht wenn die Befehle dumm sind.»
Zu überrumpelt um zu reagieren war sie schon längst in der Waffenkammer verschwunden, bevor er sie zurechtweisen konnte. Ihm sollte es recht sein, solange sie dabei half zu packen. Er wusste, dass sie es persönlich nahm, aber die Weigerung sie mitkämpfen zu lassen hatte nichts mit ihr zu tun. Ihre Ausbildung war nunmal nicht abgeschlossen und Regeln waren Regeln. Ausserdem traf es nicht nur die Akolythen und die Verletzten, auch acht weitere Männer würden nicht mitkämpfen. Für den unwahrscheinlichen aber doch möglichen Fall, dass ihnen sämtliche Fluchtwege abgeschnitten wurden, mussten einige überleben um ihr Vermächtnis fortzuführen.
In den folgenden Stunden half er dabei, zahlreiche Fallen vorzubereiten. An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, für keinen von ihnen. Sie vollendeten gerade die letzten Handgriffe, als draussen der Tag zu dämmern begann. Während die anderen sich mit einer kleinen Mahlzeit stärkten, nahm der gütige Mann ihn beiseite.
«Einmal abgesehen davon, dass alle diesen Ort in kurzer Zeit verlassen werden… Ich denke es ist an der Zeit, deine Strafe aufzuheben.» Er schwieg. Was sollte er auch sonst tun. Sich dafür bedanken, die letzten vier Monate in fast völliger Dunkelheit verbracht zu haben?
«Die Zukunft des Ordens hängt davon ab, was in den nächsten Stunden und Tagen geschieht. Da ich nicht mehr da sein werde um dafür zu sorgen, überlasse ich das euch beiden.» Damit meinte er die Heimatlose und ihn.
«Ist der Husten schlimmer geworden?»
«Damit hat es nichts zu tun. Einer von uns muss am Ende hierbleiben, damit die letzte Falle funktioniert. Es wäre eine Vergeudung, jemand Junges dafür zu opfern. Ich bin schon erstaunt, dass ich es überhaupt bis heute geschafft habe und bin mir sicher, dies war der Grund dafür.» Es gab nicht viel, was er darauf erwidern konnte. Er spürte, dass die Entscheidung schon lange gefallen war. Was darauf folgte, war ein längeres Schweigen.
«Trotz deiner Verfehlungen bin ich nach wie vor der Meinung, dass du ein guter Priester bist. Aber etwas belastet dich. Und alles was uns belastet, lenkt uns vom Wesentlichen ab.»
«Ein Mann arbeitet daran.»
«Aus dem Weg gehen ist nicht daran arbeiten. Ich frage mich schon lange, was es ist, das euch beide miteinander verbindet.»
«Ein Mädchen hat damit nichts zu tun.»
«Sicher nicht nur, aber auch. Lass mich einen Vorschlag unterbreiten. Ich denke, sie sollte die letzte Prüfung ablegen. Wenn sie diese besteht, sind alle Zweifel ausgeräumt.» Ja, dachte er. Aber wenn nicht… Es hatte seine Gründe, warum die Prüfung nicht leichtfertig abgelegt werden konnte.
«Ein Mann denkt darüber nach.»
«Tu das. Aber vielleicht besser erst nach dem Kampf. Der wird all unsere Aufmerksamkeit erfordern.»
Doch zuerst stand ihnen ein mühsames Warten bevor. Da alle Fallen vorbereitet waren, gab es für sie nichts mehr weiter zu tun, ausser zu warten und ein letztes Mal ihre Waffen zu inspizieren. Seiner Schätzung nach war die Mittagsstunde kaum vorüber, als es an das schwere Eingangstor hämmerte.
«Im Namen Inneo Hestins befehle ich euch-» noch ehe der Gesandte seine Aufforderung aussprechen konnte, kamen sie der Bitte auch schon nach. Das Tor öffnete sich. Das verblüffte nicht nur den Hauptmann, sondern auch alle Männer, die sich hinter ihm aufgereiht hatten. Es waren mindestens einhundert, die sich achtundzwanzig Männern- und einer Frau ohne Gesicht gegenübersahen. Den Gardisten war unwohl bei dem Anblick, sie waren mehr als dreimal so viele und trotzdem wagte es keiner den ersten Schritt zu machen. Auch der Hauptmann stand zuerst wie angewurzelt da, schüttelte das Unbehagen aber schnell ab.
«Angriff!» Als die erste Reihe der Männer in den Tempel stürzten, wurden sie von oben mit einer durchsichtigen Flüssigkeit übergossen. Danach rannten sie noch etwa drei Meter weiter, bevor sie zusammenbrachen und noch kurz zuckten wie Fische, die man lebendig an Land gezogen hatte. Dann war es vorbei und das erste Dutzend Gegner eliminiert. Das Gift der Grünqualle war schon auf der Haut sehr wirksam, wenn es aber mit Schleimhäuten wie Mund und Nase in Berührung kam war es sofort tödlich. Gelitten hatten sie sicher nicht.
Der Angriff kam ebenso schnell zum Erliegen wie er begonnen hatte, er glaubte sogar zu sehen, wie sich die Reihen zu lichten begannen. Das sah wohl auch der Hauptmann so, der es selbst nicht gewagt hatte, sich der ersten Angriffswelle anzuschliessen.
«Ihr verdammten Feiglinge! Wer nicht mitkämpft wird noch heute hingerichtet!» Diese Drohung zeigte offenbar Wirkung, die Reihen wurden wieder etwas dichter, auch wenn nun allen die Furcht ins Gesicht geschrieben stand.
Die zweite Angriffswelle war deutlich weniger enthusiastisch als die erste und die Männer offensichtlich erstaunt, dass sie überhaupt bis ins Innere des Tempels vordrangen. Nun wieder etwas selbstsicherer, gingen sie zum Angriff über.
Das Portal war zwar weit offen und relativ gross, trotzdem schafften es nur wenige auf einmal hinein, sodass den Männern ohne Gesicht genügend Zeit blieb, einen Gegner nach dem anderen niederzumachen, ehe sie ihnen gefährlich werden konnten. Natürlich gab es unter Hestins Soldaten wieder einige Armbrustschützen, doch diesmal trugen die Gesichtslosen eine dünne Rüstung unter ihren Kutten, welche die Pfeile erfolgreich abhielten. Bei einem längeren Kampf wären diese nicht geeignet, da es darunter sehr schnell sehr warm wurde und ihre Bewegungsfreiheit leicht einschränkte. Aber sie hatten ohnehin nicht vor, lange hier zu bleiben. Das hier war erst der Anfang, ein willkommener Weg, um noch mehr Wachen auf den Tempel aufmerksam zu machen. Hestin beabsichtigte, den Tempel mit all seinen Bewohnern auszulöschen, egal ob es ihn ein- zwei- oder dreihundert Tote kosten würde.
Die Gesichtslosen auf der anderen Seite waren fest entschlossen, den Tempel zu halten so lange es möglich war und dies ohne Verluste. Ein Tempel liess sich schneller wieder aufbauen als der Orden und dass sie den Tempel auf lange Sicht nicht halten konnten, war ihnen allen klar.
Je mehr sich der Boden mit Leichen bedeckte, desto weiter wichen sie zurück. Er gab es auf die Toten zu zählen, nicht mal diejenigen, die durch seine Klingen gestorben waren. Sein ganzes Denken konzentrierte sich nur noch darauf, sein Gegenüber zu töten und dabei nicht selbst getötet zu werden.
Zwei seiner Mitbrüder hatten dabei weniger Glück. Einer wurde von einem Pfeil ins Auge getroffen, ein anderer von einer Leiche ins Straucheln gebracht und von einem Schwert durchbohrt. Wenn man bedachte, wie viele Verluste ihre Gegner erlitten hatten, war das kaum der Rede wert. Es konnte jedoch gut sein, dass mehr von ihnen gefallen waren, ihm blieb keine Zeit, den Boden genau abzusuchen. Mindestens ein Toter würde noch folgen.
Bei dem Gedanken flog sein Blick zu seinem ehemaligen Mentor. Ihre letzte Falle, die ihnen die Flucht ermöglichen und alle verbliebenen Menschen hier das Leben kosten sollte, hatte eine grosse Schwäche: Einer von ihnen musste bleiben, um diese auszulösen und demjenigen blieb keine Chance mehr zu entkommen. Hinzu kam, dass es ein alles andere als angenehmer Tod sein würde.
Der Kampf ging weiter. Er kämpfte vorwiegend mit dem Schwert, durchtrennte Halsschlagadern und durchbohrte Herzen. Hin und wieder durchtrennte er auch Gliedmassen, wenn es sich nicht vermeiden liess. Aber wo immer es möglich war, versuchte er seinem Gegner ein schnelles Ende zu bereiten.
Irgendwann merkten ihre Angreifer, das sie im Kampf Mann gegen Mann keinen Erfolg haben würden. So rotteten sie sich in Gruppen zusammen und griffen immer gleichzeitig je einen Gesichtslosen an. So sah er sich also mit einem Mal von fünf Gegnern umkreist. Vier trugen Schwerter, einer eine Armbrust. Die Armbrust musste er sich zuerst vom Hals schaffen. Wenn ein Pfeil es schaffte, die dünne Rüstung zu durchdringen, war es das für ihn. Im Vollbesitz seiner Kräfte hätte der Schütze eine grössere Gefahr für ihn dargestellt, aber entweder er fürchtete sich oder er war zu nervös, auf alle Fälle zitterten seine Hände als er versuchte den Bolzen einzulegen. Jaqen duckte sich unter einem Schwert weg und schoss nach vorne.
Vor lauter Schreck lies der Schütze die Armbrust fallen, noch ehe sein Brustkorb von dem Schwert durchbohrt wurde. Er packte den Toten am Schopf und drehte sich mit ihm um, dabei wurde der Armbrustschütze noch ein zweites Mal durchbohrt, diesmal von einem seiner eigenen Kameraden. Der Gesichtslose zog in der Zwischenzeit sein Schwert aus dem Toten und die Leiche kippte zur Seite. Nun hatte er alle Angreifer vor sich, in seinem rücken befand sich eine Wand.
Er atmete tief durch und bereitete sich auf den nächsten Angriff vor, welcher nicht lange auf sich warten lies. Zwei der verbliebenen vier Gegner stürzten sich gleichzeitig auf ihn, der eine von oben, der andere auf höhe des Knies, damit er sich nicht nochmal unter dem Schlag hinwegducken konnte.
Den oberen Schlag parierte er mit seinem Schwert, über den unteren Sprang er hinweg und nutze diesen Sprung auch gleich, um sich ein Stück von der Wand abzustossen. Währenddessen zog er mit seiner linken Hand ein Messer aus dem Gürtel, das er nach einem der Angreifer warf, während er mit dem Schwert den Gegner direkt vor sich niedermachte. Danach wich er sofort zur linken Seite aus, die nun frei war. Das Schwert eines der verbliebenen Angreifer streifte seine Seite, wurde aber von der dünnen Rüstung abgelenkt.
Dankbar für sein Glück wandte er sich seinen verbleibenden beiden Gegnern zu. Einer der beiden entschied allerdings, dass es ihm zu eng wurde und suchte das Weite. Also hatte er nur noch einen Angreifer vor sich und mit dem machte er kurzen Prozess.
Keuchend blieb er stehen und erlaubte es sich kurz Luft zu holen. Noch hielten sie ihre Gegner in Schach, aber langsam erreichten sie den Punkt, an dem sie sich zurückziehen mussten. Zwei von ihnen, diejenigen, welche auch das Kontaktgift über die erste Angriffswelle geschüttet hatten, entzündeten Rauchbomben. Sofort banden sich die Gesichtslosen ein Tuch vor den Mund, was wenigstens etwas gegen das Kratzen im Hals half. Der dichte, schwarze Rauch nahm allen die Sicht. Doch sie kannten den Tempel gut genug, um sich weiter zurückzuziehen und den Geheimausgang zu finden, welcher sich hinter der Statue einer Göttin von den Sommerinseln befand.
Noch während sie sich den Weg aus dem Tunnel ertasteten, drangen die ersten Schreie an ihre Ohren, qualvoll und verängstigt. Die letzte Falle hatte funktioniert. Auch wenn er es nicht gerne zugab, die Schreie bereiteten ihm Genugtuung. Die Söldner hatten den Ort entweiht und das war der Preis, den sie dafür zahlten. Er mit den vielen Gesichtern bekam an diesem Tag viele Opfer.
Der vorderste Mann schob eine Steinplatte beiseite, welche ans Tageslicht führte. Die ungewohnte Helligkeit brannte in seinen Augen, trotzdem beeilte er sich, den anderen zu folgen. Sie befanden sich ein gutes Stück vom Tempel entfernt, wagten sich aber nochmals etwas näher heran um zu sehen, was sich dort abspielte. Von draussen hackten die verbliebenen Söldner auf das nun fest verschlossene Tor ein. Es war nicht unzerstörbar, doch bis sie es aufgebrochen hatten, waren ihre Freunde längst tot. Trotzdem konnte er diesen kleinen Sieg nicht wirklich geniessen, hatten sie damit doch auch vier ihrer eigenen Leute verloren.
Als die Schreie im Inneren des Tempels langsam verstummten, zogen sie sich zurück. Noch waren die Angreifer viel zu aufgewühlt um die Umgebung richtig abzusuchen, doch diese Zerstreutheit hielt sicherlich nicht lange an.
Darauf bedacht von keiner Menschenseele beobachtet zu werden schlichen die Gesichtslosen auf vielen verschiedenen Wegen zu ihrem Versteck. Dabei liess er sich etwas mehr Zeit als die anderen, immerhin war es das erste Mal seit weit über drei Monaten, dass er sich am Tageslicht befand und er hatte es nicht eilig, diesen Luxus wieder aufzugeben.
Ihr Versteck befand sich im Keller eines leerstehenden Hauses und war im Vergleich zum Tempel winzig, aber es war der sicherste Ort, den sie innerhalb der Stadt in dieser kurzen Zeit hatten finden können. Die entscheidenden beiden Vorteile waren die Nähe zum Hafen und zwei Zugänge- einen oberirdischen durch das Haus und einen unterirdischen. Letzterer war allerdings nicht besonders praktisch, da das Meerwasser hineindrückte. Man konnte den Gang zwar durchqueren, watete aber bauchtief im Wasser.
Von hier aus galt es ihr weiteres Vorgehen zu planen. Sie hatten sich entschieden zu bleiben und das hiess im Umkehrschluss, es blieb ihnen nichts anderes übrig als zu kämpfen. Nun mussten sie sich nur noch einig darüber werden, wie sie das am besten anstellten. Es herrschte Chaos und jeder Bürger kämpfte im Prinzip für sich selbst.
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Eines musste man Hestin lassen, an Ehrgeiz mangelte es ihm nicht. Das Haus von Schwarz und Weiss hatte mehrere Jahrhunderte überdauert. Es war gar nicht so einfach, einen Ort wie diesen zu zerstören. Doch die Männer des Seelords waren sehr gewissenhaft dabei, Statue um Statue in Einzelteile zu zerlegen. Zuerst mussten sie dafür aber die Leichen aus dem Weg räumen. Und es waren viele. Wie viele genau, darum rankten sich bereits nach wenigen Stunden in der ganzen Stadt die Gerüchte. Manche sprachen von hunderten, andere gar von tausenden. Er selbst schätzte die Anzahl auf hundert, vielleicht auch hundert zwanzig. Nicht viel, wenn er an die Schlachtfelder in Westeros dachte, doch waren die Verhältnisse alles andere als ausgeglichen gewesen. Am Ende hatten vier Männer aus ihren Reihen ihr Leben gelassen. Sie alle hingen neben den Leichen der Rebellen aufgeknüpft, ihre Körper auf so schändliche Weise misshandelt, das zwei von ihnen kaum mehr als Mensch erkennbar waren.
«Wir können sie nicht den Vögeln und Hunden überlassen», entschied die Heimatlose. Sie beide sahen zu der selben unkenntlich zerschundenen Gestalt, die nur daran als Priester zu erkennen war, weil die Kutten anders aussahen. Sein Blick galt allen Toten. Im Gegensatz zu den vier aus ihren Reihen hatten die meisten Rebellen sicherlich eine Familie gehabt. Menschen, die vielleicht tagtäglich hier vorübergehen mussten und nicht einmal die Chance erhielten, ihre Geschwister, Eltern oder Kinder würdig zu begraben.
Er verlagerte sein Gewicht, sie kauerten sicher schon eine geschlagene Stunde auf dem Dach. «Ein Mann weiss, dass der Orden sich bisher eher verdeckt gehalten hat, aber…» Die Heimatlose schüttelte nur den Kopf.
«Dafür stecken wir doch alle schon zu tief drin. Seit der Flucht aus den Mienen ist dieser Ort unsere Heimat. Ich will mir keine neue suchen.» Es war vielleicht das erste Mal, dass sie über so etwas wie Heimat sprachen. Aber das beschrieb ihre Lage am ehesten. Und es ging hier auch nicht nur um sie, wenn Braavos wirklich zur Sklavenstadt wurde, wäre dies ein gesellschaftlicher Rückschritt von mehreren Jahrhunderten, den sie nicht zulassen konnten. «Ein guter Anfang wäre es, die Toten von dort weg zu holen», schlug er vor.
«In ein paar Stunden wird es dunkel, dann könnten wir…»
«Nein. Nicht im Dunkeln, am Tag. Damit Hestin auch ja alles mitbekommt.» So könnten sie ihn mit seinen eigenen Mitteln schlagen, nur, dass ihr Vorhaben im Gegensatz zu seinem nicht von Beginn weg zum Scheitern verurteilt war. Er rechnete mit Widerspruch, doch sie zuckte nur mit den Schultern. «Wie gesagt, wir stecken eh schon zu tief drin. Was ist dein Plan?»