Alice behielt recht. Als nach gut zehn "Sprüngen" meiner Kinder und Enkel nun auch Lily verstand, wie sie "fielen", kam sie auch endlich bei uns an. Sie wurde von ihrem Opa umarmt und die beiden verzogen sich in sein Quatier. Ich hatte dafür die Rasselbande am Hals, die alles andere als Müde war.
"Viel Spaß", grinste Juliet und zog mit Red ab. Ich sah ihnen noch in Gedanken nach, als James neben mir fragte, ob die beiden nun auch ein Paar seien, so wie Nibula und Mia. Was wusste ich schon. Die Liebe meiner Kinder traf mich meist schnell und unvorbereitet.
"Ich bin mir nicht sicher."
"Ich liebe Leonie", sagte James dann. "Aber sie ist meine Tante, ich darf sie nicht lieben."
"Warum darfst du sie dann nicht lieben?"
"Weil wir keine Kinder haben dürfte", erklärte James.
Und Bexie macht sich Sorgen, dass James von den andere abgehängt wird. Er mochte der kleinste von ihnen sein. Aber die anderen zogen ihn mit.
"Ich liebe Lumina und Tekau", erklärte ich dann.
"Aber du bist doch Omas Mann."
"Ja und das wird auch so bleiben. Meine Liebe zu den beiden ist aber da, nur eben anders."
James kaute auf seiner Unterlippe. Jetzt im Dunkeln, sah ich etwas, dass ich normal nur von Tekau kannte, seine Haare pulsierten mit einem grünlichen Leuchten. Ob das bei seiner Mutter auch so war? Ich nahm ihn hoch und rief die aufgeregte Rasselbande zusammen. Ins Bett wollte von ihnen keiner. Auch der Beat Schlaflieder singender Miniyana brachte keinen Einklang oder gar Müdigkeit. Da blieb nur noch die Geheimwaffe: vorlesen. In unseren Fall Traumlesen, weil wir keine Bücher dabei hatten.
"Was wollt ihr hören?"
"Wer war deine erste Freundin?", wollte James wissen.
"Das ist aber kein Buch."
"Aber es ist auch eine Geschichte, nur eine wahre", stellte er fest und ich hatte die ganze Aufmerksamkeit aller Kinder.
Ich überlegte, ob das so gut war, dass ich von Ariane erzählte, dem Mädchen, dass nach einer Rakette benannt und trotz ihrer Schönheit von allen gehänselt wurde. Es war eine Geschichte über Ausgrenzung und sie war nicht wirklich schön.
"Ich habe sie in der ersten Klasse in der Öffentlichen kennen gelernt. Sie saß mit mir in einer Sammelklasse, wo wir uns einen Stuhl und das Schulbuch teilen mussten. Man könnte sagen, der Lehrer hat dafür gesorgt, dass wir uns zusammen raufen mussten."
"Wolltest du nicht zu einem Mädchen?", wollte Leonie mit einem gewissen verärgerten Unterton wissen.
"Das war mir eigentlich egal. Wir mussten uns eh Genderkonform kleiden. Wir sahen alle gleich aus, nur das sie ihren kleinen Fingernagel Rosa gefärbt hatte und darauf bestand, Ariane genannt zu werden, statt Peine. Ich habe ihr verraten, dass ich Julius heiße und nicht Parker."
"Also wart ihr Rebellen."
"Mag sein, aber die ganze Klasse war das Ergebnis von Rebellen. Wir waren alle die zweiten oder dritten Kinder. Ich sogar das vierte. Wir mussten kämpfen, um gefördert zu werden, vor allem gegen die anderen. Ihr müsst wissen, dass Ariane das schönste Mädchen der Klasse war. Aber sie hielten sie für dumm und weil sie nach einer Rakete benannt worden war, wurde sie noch mehr von den anderen geärgert."
"Und deshalb hast du dich für sie eingesetzt?"
"Nein, das habe ich nicht, ich habe sogar mitgemacht."
Die Kinder sahen mich groß an. Ihr Papa, der sie ständig ermahnte, die Wesen so zu nehmen, wie sie waren, hatte selber was ganz anderes getan?
"Warum?"
"Ich wollte dazugehören, zu den anderen Jungs. Ich war der Nachzügler in der Familie. Alle anderen waren schon in der Schule, da wusste ich noch nicht, wofür das Töpfchen gut war, aber ich konnte noch an meinen eigenen Zehen nuckeln. Aber zurück zu Ariane. Sie mochte mich auch nicht. Ich trug damals so ein Plastikgebiss, weil sich Mama kein anderes für mich leisten konnte. Dazu noch kurze Haare, weil man damit Wasser sparen konnte, und die Sachen von meinen Geschwistern, auf die ich Stolz war, bis sie mich mit dem Hello Kitty Pullover meiner Schwester in der Umkleide erwischten. Auch wenn Menschen versuchten, alles Geschlecht auszulöschen, in der Schule klappte das nicht, vor allem nicht bei den Kindern der Rebellen. Wir waren in den Augen der Behörde die hoffnungslosen Fälle."
Ich sah in die Augen der Kinder und sah, dass sie mich nicht verstanden.
"Sagen wir mal so, meine große Schwester hat mir, als sie erfuhr, dass ich zur kleinen Schwester ihrer Klassenkameradin gemein war, den Kopf gewaschen. Wir seien Parkers, hat sie mir gesagt. Wir lassen keinen zurück, wir behandeln niemand so, wie wir nicht behandelt werden wollen. Wenn ich nicht auf der Stelle nett zu Ariane sei, könne ich mir eine neue Familie suchen. Das hat gesessen."
"Aber wenn sie dich verstoßen hätten, hätten sie dich doch zurückgelassen", überlegte James.
"Ich war damals nicht so helle wie du, junger Mann. Bei mir hat die Drohung funktioniert."
"Und was hast du gemacht?"
"Ich wollte mich am nächsten Morgen bei Ariane entschuldigen, aber sie war nicht da. Ich fragte die Lehrerin, was mit ihr sei, aber die zuckte nur mit der Schulter und kümmerte sich weiter um ihre Lieblinge."
"Hast du sie gesucht?"
"Ja, habe ich und ich habe sie gefunden. Die anderen hatten sie am Marsdenkmal festgebunden. Das war eine Abschussrampe im Miniformat mit einer Ariane 24 Rakete darin. Nur fehlte die. Stattdessen stand Ariane dort, mit Tränen in den Augen und mit lauter Feuerwerksraketen an sich. Meine ehemaligen Freunde hatten ihr gesagt, wenn sie schon so hieße, solle sie auch eine Runde fliegen. Nur auf den Zünder gedrückt hatte keiner. Das sollte ich machen, aber ich war an dem Tag ja wegen der Standpaucke meiner Schwester zu spät gekommen."
"Und dann?"
"Dann habe ich ihr versprochen, dass sie nie wieder jemand ärgert. Wir haben einen Baumstamm mit den Raketen abgefeuert. Danach haben wir das Gerücht verbreiten lassen, dass ich sie abgeschossen hätte und ich deshalb von der Schule geflogen sei. Aber meine Mama hat uns ab da unterrichtet. Und meine Schwestern."
"Und deshalb war sie deine Freundin? Warum ist sie es jetzt nicht mehr?"
"Irgendwann hat sie mir gestanden, dass sie nur Mädchen liebt. Weil wir Männer irgendwann so viele Haare bekämen. Überall, vor allem im Gesicht. Ich habe sie trotzdem geküsst und sie hat es sich gefallen lassen."
"Und wo ist sie jetzt?"
"Sie flog mit ihrer Frau zwei Jahre vor meinem Start in die genau entgegengesetzte Richtung. Ich hoffe, sie ist gut angekommen. Ich habe es ihr so gewünscht."
Ja, das hätte ich. Nur angekommen war ihr Kolonieschiff nie. Soviel hatten die Forscher der Greens schon herausbekommen.