Chimea erklärte uns nicht, warum wir ausgerechnet in dieser Woche so kurz nach Freyas Geburt nach Gnunas Mutter fliegen sollten, aber sie bestand sehr eindringlich darauf. Da wir nichts anderes vorhatten, folgten wir ihrem Rat. Gnuna war nicht begeistert. Die Tatsache, dass ihre Mutter sie in Bezug ihres Wesens und ihrer Zeugungsfähigkeit belogen hatte und das nur wegen Macht, hatte sie ihr noch immer irgendwie nicht verziehen. Sie hatte sich von Liän eine Tragetasche basteln lassen und trug nun stolz und wie eine kleine lebende Krone Freya spazieren. Leonie und James hatten diesen Platz freiwillig geräumt. Sie seien jetzt ja schon groß, sagten die beiden fast dreijährigen.
Wir fuhren auf die althergebrachte Art in die Katakomben ihrer Stadt ein, obwohl sich auch bei ihnen deutlich etwas geändert hatte. Das bedeutet für uns, wir wurden am Eingang ihrer Stadt wieder auf einen mehrgleisigen Zug verladen, auf dem wir auf dem Rücken lagen. Der Unterschied zum ersten Mal war nur, dass es dafür jetzt eine Art Empfangsbahnhof gab. Auf einer Brücke wurde der Zug hereingefahren. Man legte sich dann vorsichtig darauf und wurde von dem kleinen Volk festgezurrt. Voller Stolz erklärten sie, dass sie nach unserem Besuch die Züge extra verstärkt hätten, sodass bei einer Fahrt nur noch wenige Schienen brechen würden. Ich war nach dem Satz dann doch ein wenig beunruhigt.
Eigentlich waren diese speziellen Züge ja für die Mutter gebaut worden. Diese hatte noch zu Anfang ihrer Regentschaft regelmäßig auf diesen Zügen ihre Untertanen inspiziert. Das war aber in jüngerer Zeit immer weniger vorgekommen und das sei der Grund für marode Schienen. Die Spinnenzentauren brauchten für sich ja nur zwei von acht Gleisen nebeneinander. Das alles wurde mir berichtet, während wir wie bei Staatsgästen üblich, die große Runde bekamen.
In jeder großen Kammer wuchsen nun die Blumen aus der Arche und dienten als Ernährung für das Volk. Aber es waren weniger Bewohner in der Stadt von Gnunas Mutter als bei meinem letzten Besuch. Darüber täuschte auch nicht hinweg, dass sie den Hauptversammlungsort um das Vierfache vergrößert hatten, so dass wir hier nun normal sitzen konnten. Als sie uns empfing, hockte sie in einer Pfütze, die wie Brackwasser stank und über eine Eimerkette scheinbar dauerhaft getauscht wurde.
"Warum seid ihr hier?", fragte sie ungehalten und ohne jede Form der Begrüßung.
"Wenn ich das so genau wüsste?", stellte ich mir selber die Frage.
"Ihr wollt mir bestimmt zeigen, wie ihr mein Blut verdorben und zu eurem Diener gemacht habt."
Gnuna schnaubte verächtlich und Freya machte es ihr sofort nach. Sie lugte über ihren Tragering hinweg und fixierte die Mutter. Minutenlang herrschte ab da Stille. Alice machte mich darauf aufmerksam, dass des Mutters Spinnenzentauren die Arbeit am Badewasser einstellten und zu lauschen schienen. Ich fragte mich, was Freya da tat, denn ich bekam davon nichts mit. Auch Alice zuckte eher hilflos mit den Schultern. Dann legte sich Freya wieder zurück, steckte einen Finger in den Mund und schloss die Augen. Gnunas Mutter blinzelte unsicher einmal mit allen Augen. Sie hob sich schwerfällig aus dem Wasser und schritt zu ihrem fahrbaren Thron. Ihr Volk eilten ihr nach und säuberten sie, während sie unsicher vorwärts schritt.
"Hast du gehört, was Freya ihr gesagt hat?", fragte ich Gnuna, die nur mit den Schultern zuckte.
Vorsichtig krochen wir der Herrscherin auf allen Vieren in dem Tunnel hinterher. Es schien so, als wolle sie nach draußen.
"Mutter?", fragte ich vorsichtig.
"Ich muss noch so viel packen", hörte ich ihre Stimme. "Was soll ich ihr nur erzählen?"
"Wem?"
"Meiner Mama."
Ich drehte mich zu Gnuna um, auf dessen Rücken meine Jüngste friedlich mit dem Finger im Mund eingeschlafen war. Ich konzentrierte mich nun stark auf Freya und weckte sie dadurch. Sofort war ich in ihrem Fokus. Und dann sah ich es. Ich sah die letzten Augenblicke in Freyas erstem Leben, spürte die große Angst des Vaters, der nun wusste, wie die Strahlung des leuchtenden Kerns ihn aus dem Leben riss. Ich sah seine Essenz rund um die kleine Seele, die Freya bisher gebildet hatte, zart flackernd, zerbrechlich noch ohne wirkliche Erinnerungen außer dem kurzen Moment des Glückes, wo sie aus der Verbindung zweier Seelen im Einklang entstanden war. Dann folgte eine Zeit der eisigen Stille, in der sie suchend herum geschwebt war, dieser Bereich hatte jetzt Ähnlichkeiten mit der Halle der Mutter, nur ein bisschen. Eine Ahnung. An den Wänden des Gefängnisses zeigten sich Erinnerungen an ein Leben auf Green. Ein junger Mann sprang vergnügt durch die Wipfel von Bäumen, maß sich mit anderen und lachte fröhlich. In einer anderen Szene sah der gleiche junge Mann einen Menschen voller Furcht und Insichgekehrtheit. Diesem streckte der junge Mann seine Hand entgegen.
"Du wirst sein Leben erfüllen, du wirst seine Bestimmung", hörte ich die Stimme des Mannes und schon in den Worten war ein Abschied zu erkennen.
Dann folgte eine andere Stimme, ein anderes Gefängnis der Seele, aber es war nicht mehr hart, es war weich und die kleine Seele spürte sich darin wachsen. Es merkte schnell, dass dort wieder das war, was es zu Anfang gespürt hatte. Die unendliche bedingungslose Liebe eines Vaters, meine Liebe.
Wieder wechselte das Bild und zeigte einen Ozean. Eine kleine nackte Liän schwebte durch das tiefe Blau und winkte zurück zu einer Oktaidin, die viermal so groß wie diese war. Diese kleine Liän lachte und freute sich, mit den anderen in einer Gruppe zu schwimmen. Die Mutter trug wie Gnuna jetzt eine Art Krone. Und in dieser eingerollt schien Tekau in klein zu liegen.
Aber bevor diese kleine Liän irgendwohin kam, senkte sich plötzlich tiefe Schwärze um sie herum. Und es blieb Schwarz und wie auch Freya hörte sie Laute des Schmerzes und der Verzweiflung in der Dunkelheit. Als bei ihr das Licht kam, drohte ihr der Tot. Die Spinnenzentauren fanden sie, nahmen sie auf, gaben ihr Essen und ihr Fell. Sie bedankte sich mit dem wenigen Wissen, dass sie hatte und vergaß im Laufe der Jahrzehnte das kleine Mädchen und den Ozean. Sie vergaß die Mutter mit der kleinen Tekau auf der Krone. Dann zeigte Freya Gnuna und ihren Korb auf dem Kopf, die in dem Moment aussah wie ihre Oma. Dann war die Vision zu Ende. Ich nahm Freya aus dem Korb und drückte sie fest an meine Brust.
"Ich verspreche dir, Freya Parker Luis, wir lassen dich niemals alleine."