Die Schritte der beiden Siks, die mich energisch abführten, hallten rhythmisch durch den Gang. Der Rest ihrer Kollegen war auf dem Platz geblieben, um die Evakuierung der Bürger zu unterstützen. Vielleicht drückten sie sich auch einfach nur davor, erklären zu müssen, warum nicht sie es gewesen waren, die den Attentäter aufgehalten hatten.
Mit meinen Fingerspitzen berührte ich die elektrischen Handfesseln. Es wäre sicher möglich, sie abzuschütteln. Sollte ich? Meinen Chip konnte ich anschließend deaktivieren, damit sie mich nicht aufspüren konnten.
Ich war zwischen ihnen eingeklemmt, so konnte ich nicht einschätzen, wie stark sie waren. Aber fitter als ich zu sein, das war jetzt keine Kunst. Klar, das Training in den Kanälen hatte meine letzten Fettreserven verbrannt und dank unserer Kletteraktionen konnte ich mit den Fingern bestimmt Walnüsse knacken. Aber Nahkampf? Den konnte ich trotzdem knicken. Das war eher Sergejs Bereich. Ich musste ihnen mindestens die Waffen abnehmen, damit eine Flucht auch nur den Hauch einer Chance hatte. Beiden gleichzeitig am besten.
Ich lachte innerlich, und zwar ganz trocken.
Außerdem würde jeder Fluchtversuch die Siks nur in ihrer Annahme bestärken, dass ich etwas mit dem Anschlag zu tun hatte, ganz egal, ob ich den Täter gerade selber zur Strecke gebracht hatte.
"Hey Jungs, ihr habt den Falschen."
"Den Falschen wofür?", fragte der Sik, der mich auf meiner linken Seite flankierte.
"Jeder ist schuldig", ergänzte der andere Sik. "Sorry, Kumpel. Du warst mindestens zur falschen Zeit am falschen Ort."
"Ich habe mit euren Drohnen den Attentäter gestoppt. Nachdem der Rest von euch die Kurve gekratzt hat. Seht euch die Aufnahmen des Controllers an. Durchsucht das Gebäude am andern Ende des Platzes, da liegt er noch. Zusammen mit der Drohne, die ich an seinem Kopf zertrümmert habe."
"Unbefugte Verwendung des Eigentums des Sicherheitskorps. Beschädigung des Eigentums des Sicherheitskorps. Füge ich der Liste der Anklagepunkte hinzu", ratterte Sik rechter Hand emotionslos herunter.
Na klasse. Ich stöhnte. "Hey, wenn ihr euch nicht um ihn kümmert, steht der am Ende wieder auf und läuft weg."
"Falls es einen weiteren Attentäter gibt, wird er uns nicht entkommen", sagte der Sik auf der linken Seite voller Überzeugung.
"Weitere Attentäter? Es gibt noch mehr?"
"Stell dich nicht dümmer, als du bist", fuhr mich der linke Sik an. "Es gibt nur dich und die anderen beiden."
Diese Idioten. Das verkniff ich mir aber. "Wir sind keine Attentäter! Seht euch doch einfach die Kameraaufnahmen an!"
"Jetzt halt die Klappe", befahl der Sik rechts von mir und verpasste mir einen Stoß in die Seite.
Verdammt! Das nahm mir die Luft zum Reden. War wohl sowieso besser, wenn ich nichts mehr sagte. Prallte alles an ihrem Pflichteifer ab.
Also ließ ich mich weiter durch den Gang eskortieren, in der Hoffnung, nicht sofort weggesperrt zu werden. Vielleicht bekam ich wenigstens noch einen ihrer Vorgesetzten zu Gesicht. Oder irgendjemand, der einen Überblick über die ganze Sache hatte.
Ich nutzte die Zeit und bewunderte das monotone Grau der Wände. Das hier war der Gang, durch den zuvor Thulius und ihm folgend Sergej und Moritz gegangen waren, oder? Mir fielen keine Kampfspuren auf. Was alles Mögliche bedeuten konnte. Hatte er Moritz erkannt oder hatte eine der beiden Seiten die andere so schnell überwältigt, dass es zu keinem wirklichen Kampf gekommen war?
Wir passierten viele Abzweigungen und dann eine Gruppe Aufzüge. Sie brachten mich nicht hinab nach E0, in das Hauptquartier des Sicherheitskorps. Gab es auf dieser Etage auch Zellen?
Schließlich erreichten wir eine unscheinbare Tür, die sich nicht sofort automatisch öffnete. Der Sik rechter Hand redete mit seiner Schulter. Nuschelte etwas, das ich nicht verstand.
Einen Moment später verschwand die Tür rauschend in der Wand und sie schubsten mich in einen kleinen, schlecht beleuchteten Raum. Hinter uns schloss sich die Tür wieder und rastete lautstark ein. Waren wir hier drin eingesperrt?
Im Halbdunkel saß eine bullige Gestalt hinter einem Tisch. Die Wachen drückten mich grob auf einen Hocker, ihr gegenüber. Dann zogen sie sich zurück, verließen den Raum aber nicht.
Auf dem Tisch lag, gerade gut genug beleuchtet, dass ich sie erkannte, eine schwarze, etwa zwanzig Zentimeter lange Stoffrolle, deformiert durch ihren Inhalt. Ich blickte auf, um etwas mehr von meinem Gegenüber zu erkennen, da flammten neben seinen Schultern zwei Scheinwerfer auf und blendeten mich. Ich kniff die Augen zusammen.
"Josh Hardington?", hörte ich seine harte Stimme von irgendwo hinter dem Licht. "Ist das korrekt?"
Ich nickte.
"Ich habe Sie nicht verstanden." Er betonte jede einzelne Silbe. "Josh Hardington?"
"Ja."
"Ja, was? Ist das ihr Name?"
"Ja, das ist mein Name", antwortete ich und versuchte zu verdecken, wie sehr mich das irritierte. War der Typ so eine Art Drill-Sergeant?
"Aufgetaut am 24. Mai im Jahr 163 nach Inbetriebnahme der Zitadelle?"
Keine Ahnung, ob das stimmte. Aber ich hatte eine Ahnung, auf was die Befragung hinauslaufen würde.
"Ich denke schon. Erinnern Sie sich denn noch an den Tag, an dem Sie aufgetaut wurden?"
Darauf ging er nicht ein.
"Beschäftigt bis 168 im Amt für Finanzanalyse der Agraretagen, bis 171 private Finanzberatung der Familie Kanter auf O29?"
"Hey, Sie scheinen doch schon alles über mich zu wissen, warum fragen Sie mich eigentlich noch?"
Er schnaubte.
"Ich habe vor 5 Minuten mit Elisabeth Kanter gesprochen, die sich aus ihren Kindheitstagen noch an den freundlichen alten Herrn erinnern konnte, der manchmal auf dem Anwesen ihrer Familie zu Besuch war. Vor mehr als 30 Jahren. Hatten Sie zwischenzeitlich eine Verjüngungskur oder eine Behandlung der Zellstruktur? Wurden sie erneut eingefroren?"
"Der Medizin von heute ist nichts unmöglich, nicht wahr?", sagte ich nervös und lächelte schief. "Sie können doch meine ID lesen, oder nicht? Ich bin Josh Hardington und ich bin ganz klar kein alter Knacker. Die anderen Informationen sind offensichtlich nicht korrekt."
"Weitere Informationen besagen, dass Josh Hardington vor 37 Jahren gestorben ist. Friedlich in seinem Bett. Selbst mein Scanner zeigt bei der ID den Zusatz 'Verstorben' an. Die Zitadelle scheint es wohl nicht zu interessieren, wenn Tote durch ihre Gänge spazieren. Mich schon." Er ließ eine Pause. "Wer sind Sie wirklich?"
"Ich bin Josh Hardington", sagte ich mit Nachdruck.
Ich hörte Schritte hinter mir, das Rauschen der Tür und wie die Schritte den Raum verließen. Die beiden Siks waren gegangen. Hatte er sie aus dem Raum geschickt?
Eine Hand durchstieß die Lichtwand, griff sich das Stoffbündel zwischen uns und rollte es auf. Eine Ansammlung von Werkzeugen, Messern, Zangen und anderen mir unbekannten Dingen aus Metall. Daneben moderner anmutende Apparate. Mir wurde flau im Magen. Was wurde das? Wollte er mich foltern?
"Nun?", erklang seine fragende Stimme, als er sich eines der moderneren Werkzeuge nahm.
"Was soll ich sagen? Der Scanner zeigt doch eindeutig an, wer ich bin. Wer sollte ich sonst sein? Wie könnte ich jemand anderes sein?"
"Um das herauszufinden, habe ich ein paar Hilfsmittel mitgebracht. Die haben sich in der Vergangenheit als sehr wirkungsvoll erwiesen, um einfache Antworten auf scheinbar schwierige Fragen zu erhalten. Allerdings geht es den Befragten danach nicht mehr allzu gut."
Ich schluckte und mein Gegenüber fuhr fort.
"In der heutigen Zeit wird diese Art der Befragung als barbarisch angesehen. Altertümliche Befragungsmethoden senken die Überlebenswahrscheinlichkeit des Befragten. Das ist nicht unbedingt gewollt, schließlich soll er die komplette Haftstrafe auskosten können, mit allen dazugehörigen Annehmlichkeiten. Die meisten Werkzeuge, die Sie dort sehen, dienen also nur zu Anschauungszwecken."
Ich wusste nicht, ob mich das beruhigen sollte. Mein Puls war inzwischen auf Hochtouren. Eben gerade hatte ich noch gehofft, mich irgendwie herausreden zu können, doch jetzt? Jetzt beschäftigte ich mich neben den Horrorszenarien, die ich mir ausmalte, damit, wie ich nun doch das Sicherheitssystem der Handfesseln umgehen konnte. Der Gedanke an ausgerissene Fingernägel oder amputierte Zehen half mir allerdings nicht wirklich dabei. Ich hätte wohl besser darauf verzichtet, mir in meiner Jugend so viele Agentenfilme reinzuziehen.
"Ich hatte vor einiger Zeit ein Gespräch mit einem Quacksalber in der Unterwelt." Er betonte das Wort Gespräch dabei in einer Art, die mich nicht zweifeln ließ, um was für eine Art des Gespräches es sich gehandelt hatte. "Er war zunächst nicht kooperativ, zeigte mir am Ende aber sogar neue Methoden, wie man mit der modernen Technologie dafür sorgt, dass sich die Überlebenschancen eines Befragten nicht verringern." Er drehte das Werkzeug vor meiner Nase und fuhr fort. "Das ist ein modifiziertes Laserskalpell. Schneidet durch fast alles wie durch Butter. Organisches Gewebe wird danach direkt verödet, um einen starken Blutverlust zu verhindern. Es ist dennoch sehr schmerzhaft. Die Schmerzen hören auch später nicht auf. Sie werden immer wiederkehren und den Befragten zum Zeitpunkt seiner Befragung zurückholen. Ich denke, das werde ich als Erstes einsetzen, falls mir die nächste Antwort nicht gefällt."
Ich hatte es beinahe geschafft, den Verschlussmechanismus zu lösen, aber inzwischen bildete sich auf meinem ganzen Körper eine Schweißschicht. Der rechte Handschuh verrutschte und die Kontaktstelle des Handschuhs verlor ihren Berührungspunkt mit meinem Implantat. Ich arbeitete mit dem Linken weiter. Ich musste es schaffen, bevor er mir die Handschuhe zur Folter abnahm.
"Der erwähnte Quacksalber tischte mir die Geschichte von vier Patienten auf, die in seinem Labor in seiner Kaffeepause auf grausame Weise von einem Operationsroboter getötet wurden. Nun, am Ende stellte sich heraus, dass sie einfach verschwunden sind. Nach dem Ausschlussverfahren, da du weder ein kleines Mädchen, noch ein einarmiger Russe bist, musst du entweder Daniel Adler oder der unbekannte Patient sein. Nun, wer von beiden bist du?"
Das Werkzeug begann in seiner Hand zu surren und betonte die Dringlichkeit, mit der diese Frage zu beantworten war. Jetzt hatte ich es geschafft, mich wieder in das System der Handfesseln einzuklinken, und arbeitete an einem Ausweg.
Die Scheinwerfer wurden quietschend auseinandergeschoben und warfen Lichtkegel an die Wände des Raumes. Der Folterknecht schob seinen Stuhl zurück und erhob sich.
Kannte ich ihn? Sein Kopf war kahlrasiert, bis auf eine Stelle, an der statt Haut weißes Metall mit einem Schriftzug zu sehen war. Irgendein Dienstgrad der Siks? Mit der Hand, die nicht das Werkzeug hielt, schob er den Tisch schwungvoll beiseite. Ich rutschte instinktiv ein Stück mit dem Hocker von ihm weg.
Die Handfesseln gaben ein befreiendes Klicken von sich, als ich den Verschlussmechanismus außer Kraft setzte.
Zu spät! Er packte meinen linken Arm, zog mich ruckartig vom Hocker, und presste ihn auf den Tisch.
Dann war er hinter mir, schneller als es mit seinem Körper möglich sein sollte, und trat mir in die Kniekehlen. Ich stöhnte und ging in die Knie. Er schnallte meinen Arm am Tisch fest, trat wieder vor mich und zog mir den Handschuh von der linken Hand.
"Wenn du nicht redest, bleibt mir nichts anderes übrig."
Ich konnte nicht reden. Das konnte ich den anderen nicht antun. So ein Kerl würde auch nicht davor zurückschrecken, Klara zu foltern.
Ich biss die Zähne zusammen und sog zischend die Luft ein, als das Skalpell knisternd und mit einem unbeschreiblichen Schmerz durch die Spitze meines kleinen Fingers fuhr. Dann schrie ich und bäumte mich auf, doch die Fessel hielt meinen Körper erbarmungslos am Tisch fest.