Ich sah genauer hin und war nicht sicher, ob er wirklich mich musterte. Ich hob meine Hand und winkte zögernd, aber er reagierte nicht. Ja, er betrachtete vielmehr den Bereich, an dem ich stand. Seine Augen bewegten sich dabei schnell hin und her, als seien sie auf der Jagd nach etwas, das sie nicht zu fassen bekamen. Er schien aufzugeben und schloss sie wieder.
"Ich weiß, dass du da bist", begann er mit der Stimme, die mir aus der fernen Vergangenheit noch vertraut erschien. Er wusste, dass ich da war? Sah er mich denn wirklich nicht? Ich stand doch direkt vor ihm.
"Ich stehe direkt vor dir, Mr. Eiszombie. Bist du blind?"
Zunächst reagierte er auch nicht auf meine Frage. Es kam mir vor, als dauerte es eine Ewigkeit, bis meine Worte seine Ohren erreichten und sich seine Augenbrauen als Zeichen des Verstehens hoben. Ich wusste, dass er im Inneren des Terraformers zu Staub zerfallen war. Irgendwie musste er sich regeneriert haben, scheinbar aber nicht vollständig, denn seine Augen und Ohren waren eindeutig im Eimer.
"Ah, deine Präsenz kommt mir bekannt vor", sagte er und klang dabei freudig überrascht. "Du musst derjenige sein, der die Essenz des Hackers besitzt."
"Die was?"
"Ich denke, ich erkläre es dir gleich ausführlich. Zunächst wollen wir einmal Klarheit darüber schaffen, in welchem Zustand du dich befindest."
Ich runzelte die Stirn. "Wie meinst du das?" Ich war der Ansicht, dass ich träumte. Oder war ich vielleicht doch bereits tot und auf dem Weg ins Jenseits?
"Nun, du bist nicht hier, egal wie es dir vorkommen mag. Die KI weist mich darauf hin, dass große Datenströme zwischen dem Zylinder und einem Satelliten im Orbit ausgetauscht werden. Gerade eben wird auf mehrere Kameras in diesem Raum zugegriffen. Davor wurden jene im Gang, im Aufzug und der Ebene, in der sich momentan der Eingang befindet, abgefragt. Wenn man die Aufzeichnung noch weiter zurückverfolgt, hast du auch viele der Außenkameras benutzt. Die Tatsache, dass du denkst, dass du dich hier befindest, deutet daraufhin, dass du dir nicht im Klaren darüber bist, wo sich dein Körper wirklich befindet. Ich hoffe, dir ist nichts zugestoßen."
Da war ich mir selbst nicht so sicher, aber ich sprach das Naheliegendste aus: "Ich hatte einen Autounfall."
Der Eiszombie schüttelte müde den Kopf. "Nein, es sind schon seit über hundert Jahren keine Autos mehr auf diesem Kontinent gefahren. Falls dir etwas zugestoßen ist, muss etwas anderes sein."
Ich dachte darüber nach. Die Worte derjenigen, die ich am Lagerfeuer getroffen hatte, wiesen darauf hin, dass etwas passiert war. Ruiz hatte einen Kampf erwähnt. Also war es vielleicht das: "Es kann sein, dass ich in einem Kampf verletzt wurde."
"Das ist schon wahrscheinlicher. Dann muss es in der Zitadelle schlechter stehen, als ich all die Jahre angenommen habe." Er machte eine Pause und änderte dann wieder das Thema. "Um auf deine Frage vom Anfang zurückzukommen. Du siehst die Kältekammern, die dort im Raum stehen?"
Ich wollte nicken, erinnerte mich dann aber, dass er das nicht sehen konnte. "Ja."
"Darin sind die Überreste meiner Kameraden gelagert. Stark verletzt und auf einen Bruchteil ihrer Körper reduziert. Es ist so wenig von ihnen übrig, dass nicht einmal unsere Operationsroboter sie noch heilen können. Sie sind beim Versuch gefallen, den Terraformer dieses Zylinders zu zerstören, den Brückenkopf für die nachfolgende Invasion eures Planeten."
Wir hatten gemeinsam versucht, den Terraformer zu zerstören. War ich einer seiner Kameraden gewesen? Aber wenn mein Körper dort in einer der Kältekammern lag, wie war es möglich, dass ich hier stand? Die andere Frage, die langsam an die Oberfläche drang, lautete: Was war ich?
"Ich bin verwirrt", gab ich zu. "Ich habe Erinnerungen daran, wie dieser Einsatz fehlgeschlagen ist. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass du mich mit den Kameraden meinst. Wenn die dort unten im Inneren des Terraformers gestorben sind und in den Kältekammern liegen, wie kann es sein, dass meine Freunde und ich uns daran erinnern? Und von was für einer Invasion sprichst du?" Ich seufzte. "Du siehst, es gibt so viele Sachen, die für mich keinen Sinn ergeben."
Er atmete tief ein und wieder aus. "Ich denke, ich muss weit ausholen, um dir alles zu erklären."
"Hey, ich steh auf lange Geschichten. Bombardier mich mit Informationen, bitte! Ich schleppe schon seit so vielen Jahren so viele Fragen mit mir herum."
"Also gut. Wir sind, auch wenn wir so aussehen, keine Menschen. Bei einer Untersuchung meines Körpers oder der Überreste meiner Kameraden würde man hauptsächlich menschliches Material entdecken, bei genauerer Betrachtung aber Abweichungen in der DNA feststellen."
"Dass du kein Mensch bist, war mir bereits klar. Ich habe eine Erinnerung daran, in der du erzählst, dass du von einem anderen Planeten kommst und sowohl die Lebewesen im Zylinder als auch die außerhalb des Zylinders retten wolltest."
Mr. Eiszombie runzelte die Stirn. "Das ist interessant, da dieses Gespräch nie stattgefunden hat, wenigstens nicht in meiner Erinnerung. Obwohl diese Sichtweise nicht ganz falsch ist. Du musst wissen, dass es auf unserem Planeten verschiedene Fraktionen gibt, nicht unähnlich den Nationen, die es einst auf eurem gab. Nur, dass sich bei uns ein anderer Wandel vollzogen hat. Von nationalen Interessen hin zu sehr unterschiedliche Lebensphilosophien mit noch mehr Ausprägungen. Diejenigen, die den Frieden über alles stellen, und andere, für ihr Leben der Zerstörung gewidmet haben. Unsere Fraktion, die es bevorzugt, Probleme diplomatisch zu lösen, besitzt natürlich trotzdem Soldaten. Genauso, wie andere Fraktionen, die den Konflikt lieben, auch Personen beinhalten, die davor auf diplomatischem Wege die Grenzen dieser Konflikte abstecken."
"Dann seid ihr die Soldaten der diplomatischen Fraktion und diejenigen, die uns den Zylinder geschickt haben, die Krieger?"
"Nein. Die Fraktion, die euren Planeten eingenommen hat, nennen wir die Vetis. Ihr Leitmotiv ist der Besitz. Sie erschaffen wenig selbst, haben aber genug Reichtümer, um sich die Errungenschaften der anderen Fraktionen zu kaufen oder sich die Dienste ihrer Soldaten zu sichern. Da sie selbst nichts von Wert erschaffen, müssen sie wiederum auf Raubzüge gehen und beuten dabei regelmäßig ganze Systeme aus. Das Universum ist riesig und auf ein Sternensystem mehr oder weniger kommt es dabei nicht an. Das ist jedenfalls ihre Meinung. Als nun beim Bekanntwerden des jüngst geplanten Raubzuges die Information durchsickerte, dass es in ihrem Zielsystem einen Planeten mit einer intelligenten Spezies gibt, entstand ein Bündnis der anderen Fraktionen, um ihn zu verhindern."
"Und sie haben nur euch geschickt, um einen ganzen Planeten zu retten?" Ich zog die Augenbrauen hoch.
"Wir hatten nicht viel Zeit. Aber wenn ihr eure Zitadelle verlassen würdet, würdet ihr erkennen, dass der Planet gerettet ist. Was man über die Menschen leider nicht unbedingt sagen kann."
"Was willst du damit sagen?"
"Ihr seid die Letzten."
"Auf der ganzen Erde?" Ich wollte ihn entsetzt ansehen, aber wo sollte ich mit meiner Mimik hin, wenn er mich verdammt nochmal nicht sehen konnte?
Er nickte. "Auf der ganzen Erde."
Im Angesicht einer solchen Nachricht hätte eigentlich mein Puls ansteigen müssen und ich hätte mir wegen der Unfassbarkeit dieser Aussage die Haare raufen müssen. Doch mein Körper blieb ruhig. "Wie konnte das geschehen?"
"Wie gesagt, wir hatten nicht viel Zeit. Meine Fraktion, die Thages, stellte einen Einsatztrupp zusammen, der das erste Raumschiff der Vetis aufhalten sollte. Wir konnten die Besatzung überwältigen, den Start aber nicht verhindern. Als wir erkannten, dass es, egal was wir unternahmen, seinen Kurs beibehalten würde, schlossen wir uns in den Kältekammern ein, damit wir unsere Mission auf eurem Planeten fortsetzen konnten. Eine Flotte unserer Raumschiffe sollte den Vetis folgen und mit ihnen über die Erhaltung eures Planeten und seiner Population verhandeln."
"Aber auch das hat nicht funktioniert, oder?"
"Nein, die KI des Schiffes hat sich während der Reise darauf vorbereitet, wie sie uns gegeneinander aufbringen und die restlichen Überlebenden in eine Falle locken und vernichten kann. Wir haben es geschafft, den Terraformer zu vernichten, aber erst nachdem der Brückenkopf für die restliche Flotte bereits errichtet war. Wir ließen bei diesem Einsatz alle unser Leben."
"Ihr alle? Und doch sitzt du vor mir?"
Er lächelte schwach. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es ihm Spaß machte, mich mehr zu verwirren, als mich aufzuklären.
"Eine Sicherheitsmaßnahme. Wir sind alle Klone, angepasst an die menschliche Physis und um die Eigenschaften erweitert, die unser Volk ausmachen. Das ist das, was ich die Essenz genannt habe. Einer unserer Ausweichpläne war es, bei unserer Ankunft freiwillige und im äußersten Notfall auch unfreiwillige Menschen so zu verändern, dass sie Widerstand gegen die einfallenden Vetis leisten können. Es hat sich tatsächlich ein Mensch in den Zylinder verirrt, bevor das ganze Gebiet im Umkreis vereist wurde. Er hat die Atmosphäre nicht überlebt und ich habe ihn in einer der Kühlkammern gelagert und den Prozess gestartet, der ihn mit meiner Essenz und einem Backup meiner Erinnerungen versorgt hat. Wenn ich von ihm spreche, spreche ich also gleichzeitig von mir selbst."
Das hörte sich verdammt so an, wie unsere eigenen Erlebnisse. Schließlich hatten auch wir uns in den Zylinder geflüchtet.
"Ich habe eine gewisse Ahnung, wie wir in die Geschichte passen. Aber fahr bitte fort", sagte ich in die Pause hinein, die entstanden war.
"Ich wachte auf, nachdem der Terraformer ausgeschaltet war. Bei diesem Prozess wurde auch die KI des Schiffes beschädigt, da sich ein Großteil der Hardware dort unten befand. Die Notfallsicherung der KI hat keine Informationen über unser Eindringen und die Lage auf eurem Planeten. Deswegen arbeitet sie seither mit mir zusammen. Ich barg die Überreste meiner Kameraden aus den unteren Etagen und legte sie in den Kühlkammern ab. Aber das war schon alles, das ich tun konnte. Das Schiff lag inzwischen tief unter dem Eis begraben, die Energiequelle des Terraformers war zerstört und die Solarzellen waren ohne Sonnenlicht nutzlos. Es gibt einen Notreaktor, der aber nicht genug Energie aufbringen konnte, um den Zylinder aus dem Eis zu befreien. Also ließ ich ihn die Kühlkammern versorgen und fror auch mich selbst wieder ein."
"Bis das Eis über dem Zylinder verschwand und Numbaka und sein Team das Ding gefunden haben?"
"Ja, ich weiß, von wem du sprichst. Sie waren leider etwas unvorsichtig und haben bei der Reparatur der Energiezufuhr einige, für sie unerwartete Reaktionen ausgelöst. Abwehrmaßnahmen außerhalb und innerhalb des Schiffes. Ich wurde mit dem Hinweis auf Angreifer aus dem Kälteschlaf geweckt und habe das Schiff nach bestem Gewissen verteidigt. Nachdem ich erkannt hatte, dass es keine Feinde waren, habe ich versucht, die Überlebenden zu bergen, und sie in die freien Plätze der Kühlkammern gelegt. Dann stellte ich fest, dass schon Jahrzehnte seit der Landung des Zylinders vergangen waren, und sah ich mir an, was aus eurer Welt geworden war."
Sein Blick schweifte in die Ferne, die Ereignisse lagen inzwischen auch schon 40 Jahre zurück. Dann sammelte er scheinbar seine Gedanken und fuhr fort.
"Als die Thages hier ankamen, hatten die Vetis die Landmassen des Planeten fast komplett mit Eis bedeckt, um das Leben hier auszulöschen und ohne Widerstand die Ressourcen ausbeuten zu können. Nach Verhandlungen zwischen den Fraktionen einigten sie sich auf die Einrichtung eines Habitats für die wenigen überlebenden Lebewesen. Menschen und Tiere, die im Eis gefangen waren, wurden geborgen und in Kältekammern gelagert, bis die Wissenschaftler der Menschen in der Lage waren, die Technologie zu ihrer Wiederbelebung einzusetzen. Zu diesem Zweck wurden Klone mit unserem Wissen in den Reihen der Menschen platziert."
"Dann ist die Zitadelle die einzige ihrer Art?"
"Ja."
"Und die Geschichte, die in der Zitadelle gelehrt wird, über die drohende Eiszeit, den Zusammenschluss der Nationen und den Bau der Zitadellen, sowie unserem technologischen und medizinischen Fortschritt, sind alles nur Quatsch?"
Mir war klar, dass vieles Unsinn war, was man in der Zitadelle glaubte, aber, dass alles gelogen war, konnte ich fast nicht glauben.
"Ich kenne nicht alle Details, aber ich schätze, dass die Geschehnisse in einer Form erzählt werden, die den Menschen Hoffnung und Selbstvertrauen gibt. Als ich aufwachte, hatten fast alle Vetis den Planeten wieder verlassen. Es war zu einem Konflikt mit den Thages gekommen, aber die Ausschöpfung der wenigen verbliebenen Erd-Ressourcen war nach genauerer Betrachtung der Mühe eines Krieges nicht wert. Die Thages hinterließen einen Satelliten als Mahnmal, mit der Geschichte des Konflikts, der hier vorgefallen war, und dem Hinweis, dass der Planet unter ihrem Schutz steht."
Der Schutz hatte uns leider nicht viel gebracht, dachte ich bei mir, sprach es aber nicht aus und ließ ihn weiterreden.
"Die Vetis vergaßen einige ihrer Mitglieder auf dem Planeten. Vielleicht setzten sie sie auch zur Bestrafung aus. Denn außer ihren Waffen und einem Gleiter, der nicht weltraumtauglich war, hatten sie keine Ausrüstung dabei. Auch in die Zitadelle kamen sie nicht hinein, die Überprüfung der IDs verhinderte das. Als die Menschen der Zitadelle ausrückten, um in Folge von Numbakas Expedition hier nach dem Rechten zu sehen, sahen diese Vetis ihre Chance gekommen und griffen an. Die Bewohner der Zitadelle verloren die Schlacht und mussten verhandeln."
So langsam fügten sich die Puzzleteile zusammen. "Wussten die Menschen, wem sie dort gegenüberstanden?"
"Nein. Gegen den Verhandlungspartner der Zitadellenbewohner hatten die Vetis obendrein noch ein Druckmittel. Die überlebenden Menschen zogen sich schließlich zurück, ohne die Körper ihrer gefallenen Krieger zu bergen. Das übernahmen die Vetis an ihrer Stelle und noch am selben Tag verließen einige der getöteten Menschen recht lebendig ihren Gleiter und machten sich mit auf den Weg zur Zitadelle. Der Gleiter steht noch heute dort, wo sie ihn zurückgelassen haben."
"Du meinst, sie haben mit den toten Siks genau das getan, was du mit deinem momentanen Körper getan hast, und haben die Zitadelle infiltriert? Zu welchem Zweck?"
"Macht? Die Kontrolle über die Zitadelle? Vielleicht die Möglichkeit, einen Weg von diesem Planeten zu finden? Weiter als bis zum Tor der Zitadelle reichen meine Überwachungsmöglichkeiten nicht."
"Warum hast du nicht eingegriffen, als sie die Siks attackiert haben und warum sind die Vetis nicht stattdessen in deinen Zylinder eingedrungen?"
"Ich habe nicht eingegriffen, weil das mein Ende und das Ende jeglicher Hoffnung für meine Mission, das verbliebene Leben hier zu retten, bedeutet hätte. Die Vetis haben tatsächlich versucht, hier einzudringen. Sie haben zuerst die eingefrorenen Körper vor der Zitadelle geborgen. Als sie zurückkamen, um den Ort genauer zu untersuchen, hatte ich die Verteidigungssysteme reaktiviert. Wahrscheinlich war es das Wissen oder die Angst, dass es noch Thages auf dem Planeten gab, die sie dazu veranlasst hat, die Tore der Zitadelle zu schließen."
Er hatte nicht gelogen und tatsächlich weit ausgeholt. So langsam fragte ich mich, wann meine Rolle zur Sprache kam und die meiner Freunde. "Das ist ja alles schön und gut, aber wie passe ich nun in diese Geschichte?"
"Da meine Mission immer noch Gültigkeit hatte und auch heute noch hat, entwarf ich einen Plan, ebenfalls jemanden in die Zitadelle einzuschleusen."
"Uns?"
"Nein, ein Mitglied der Expedition, die den Zylinder reaktiviert hat."
Oh, ich ahnte, von wem er sprach. "Annadora?"
"Ja, Annadora. Sie war im Schacht des Aufzuges abgestürzt, hatte aber überlebt. Ich ließ sie in der Kühlkammer wiederherstellen und injizierte die Essenz unseres Robotik-Spezialisten und seine Erinnerung in sie."
Eine gruselige Vorstellung. Sie hatte überlebt und wurde dann zum Versuchskaninchen eines Außerirdischen. Und auch eine andere Sache bereitete mir üble Bauchschmerzen. "Essenz und Erinnerungen? War sie dann überhaupt noch sie selbst?"
"Ja, größtenteils schon. Denke ich jedenfalls. Wir haben dieses Verfahren zuvor nur bei frischen Klonen durchgeführt, die keine eigene Erinnerung oder eigenen Charakter besaßen. Nachdem es aber bei meinem aktuellen Körper funktioniert hat, probierte ich es auch bei ihr. Bei meinem Körper löschte ich die alten Erinnerungen, bei ihr ließ ich sie bestehen. Das Ergebnis war eine Person, die sich bewusst war, ihr bisheriges Leben in der Zitadelle verbracht zu haben, gepaart mit dem Wissen und auch einigen Bruchteilen der Erinnerung des Robotikers. Ohne seinen Charakter oder den Aspekten, die ihn einzigartig machten."
Er erzählte das so nüchtern. Als sei es vollkommen normal, mit den Körpern und den Erinnerungen anderer herumzuspielen. "Ist das moralisch nicht etwas fragwürdig?"
"Aus ethischer Sicht, oder religiöser? Die Menschen haben seit jeher versucht, andere Menschen wiederzubeleben oder am Leben zu halten. Immer im Bewusstsein der Gefahr, dass sie danach vielleicht nicht mehr dieselben sind, weil sie beispielsweise ihre Erinnerung verlieren könnten oder ihr Gehirn anderweitig Schaden nimmt. Es gab Operationen und es wurden Organe transplantiert, damit sie weiterleben konnten. Der menschliche Körper ist so fragil und nach einigen der medizinischen Eingriffe, die eure Rasse vor unserer Ankunft gemeistert hat, könnte man sich fragen, ob ein Mensch, der vom Operationstisch aufsteht, immer noch derselbe ist, der sich davor hingelegt hat. Unterscheidet sich das sehr von unserer Situation?"
Ich überlegte, welche Antwort ich ihm geben sollte, doch er war scheinbar noch nicht fertig mit seiner Ausführung.
"Um auf den religiösen Aspekt zu kommen. Nehmen wir an, es gibt eine Seele und der Körper ist nur eine Hülle für sie. Sie verlässt den Körper bei seinem Tod. Kehrt sie zurück, wenn er wiederbelebt wird? Falls ja, wie lang kann der Körper maximal tot sein, bis sie zurückkehrt. Wenn wir einen Menschen nach hundert Jahren wiederbeleben, kehrt sie dann immer noch zurück, entsteht eine neue Seele oder gibt er einer anderen Seele eine Hülle? Das sind alles Fragen, die ich nicht beantworten kann, da auch wir Thages nicht wissen, was nach dem Tod kommt. Ich habe auch keine Erinnerung daran, was zwischen dem Zeitpunkt, an dem ich dort unten gestorben und hier oben wieder aufgewacht bin, passiert ist."
Ein erneutes tiefes Durchatmen ließ mich drauf schließen, dass er sich nun zu seinem Fazit sammelte.
"Wenn ich aber durch mein Handeln Millionen von Leben retten kann oder die Existenz einer ganzen Spezies, nehme ich es in Kauf, in diesem Punkt, aus der Sicht eines anderen, moralisch falsch gehandelt zu haben."
Ich erinnerte mich, dass der Eiszombie damals einen ähnlichen Standpunkt vertrat. Dass ich mit ihm übereinstimmte, konnte ich nicht gerade sagen, besonders, weil es in diesem Fall mich selbst betraf. Ihn betraf es auch, zumindest den Menschen, dessen Körper er übernommen hatte. Aber der konnte sich ja kaum noch zu Wort melden.
Jetzt konnte ich natürlich eine Grundsatzdiskussion lostreten, aber wenn ich das tat, kam wieder irgendeine unerwartete Wendung und verhinderte, dass ich die ganze Wahrheit erfuhr. Und darauf hatte ich jetzt so gar keine Lust.
"Okay, tut mir leid, das ist ein komplexes Thema, das verschieben wir vielleicht auf ein anderes Gespräch. Du warst grad dabei, mir etwas über Annadora zu erzählen."
Hatte ich mich gut gerettet? Ich hoffte es zumindest.
"Annadora, ja. Sie hat mir über den Aufbau und die Gesellschaft der Zitadelle berichtet und wir haben mehrere Wege diskutiert, wie wir die Menschen der Zitadelle wieder zu ihrer Freiheit verhelfen könnten. Infiltration der Herrschaftsstruktur, Bestechung, Gewalt oder Rebellion. Solange die Vetis an der Macht waren oder in wichtigen Positionen, konnte es kaum einen absolut diplomatischen Weg geben."
Er ließ wieder seinen Blick durch den Raum wandern, dass er mich nicht sehen konnte, schien ihn wirklich zu irritieren.
"Als Erstes mussten wir einen Weg hineinfinden. Nachdem das Tor verriegelt war und wir nichts herstellen konnten, das in der Lage war, von außen einzudringen, suchten wir nach einer anderen Möglichkeit. Wir kamen darauf, dass der einzige Ort, der nicht von gewaltigen Metallwänden geschützt war, der Minenbereich war. Also beschlossen wir, einen Tunnel zu graben. Um Werkzeuge und Roboter für die Arbeit herzustellen, sammelten wir die Ressourcen der Umgebung ein. Am Ende dauerte es 34 Jahre, bis wir einen Tunnel von hier bis zur Zitadelle gegraben hatten."
"Warum habt ihr nicht näher an der Zitadelle zu graben angefangen?"
"Aus Angst, entdeckt zu werden. Wenn schon der Zylinder von den Sensoren der Zitadelle entdeckt werden konnte, wäre das mit Sicherheit passiert, wenn wir uns näher herangewagt hätten. Ich weiß, dass es genauso riskant war, eine so lange Zeit in Kauf zu nehmen, aber das war der Weg, bei dem wenigstens etwas Hoffnung auf einen Erfolg bestand. Ich schickte sie mit den Robotern, den Essenzen und den Erinnerungen meiner restlichen drei Kameraden auf den Weg."
Er fixierte einen Punkt neben mir und sah ihn fragend an.
"Das war das letzte Mal, dass ich Annadora gesehen oder von ihr gehört habe. Für welchen Weg hat sie sich schließlich entschieden?"
Ich überlegte eine Weile und antwortete ihm dann. "Ich bin nicht sicher. Wahrscheinlich für mehrere. Oder alle. Sie hat versucht, das Tor mit ihren Robotern gewaltsam zu öffnen, und ist daran gescheitert."
"Das ist bedauerlich. Was hat sie noch getan?"
"Das kommt darauf an. Ich muss bei einigen Sachen wahrscheinlich raten und Puzzelstücke zusammensetzen. Was waren das für Essenzen, die du ihr mitgegeben hast?"
"Die des Hackers, des Kriegers und des Empathen."
"Dann hat sie mit uns dasselbe getan, was du mit ihr getan hast. Sie hat uns, während wir aufgetaut wurden, die Essenzen und Erinnerungen deiner Kameraden implantiert. Wir hatten alle denselben Traum, in dem wir bei der Entdeckung des Zylinders dabei waren und im Kampf gegen den Terraformer gestorben sind. Das alles scheint sich mit unseren eigentlichen Erinnerungen vermischt zu haben, denn es gibt vieles, das nicht zusammenpasst. Wir haben inzwischen einige Abenteuer hinter uns, um die Wahrheit herauszufinden."
"Das tut mir leid."
"Ja, es tut dir leid, du hättest aber an ihrer Stelle genauso gehandelt, das ist also nicht viel Wert für mich", sagte ich mit einer Spur Verbitterung. Unsere Leben waren für eine größere Sache vermurkst worden. Aber wenn Annadora und der Eiszombie das nicht getan hätten, wären wir vielleicht als hirnlose Arbeiter in einer der unteren Ebenen gelandet. Unser Schicksal hatte also nur die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Jetzt fehlte nicht mehr viel, um das Puzzle zu vervollständigen. Wir waren also Menschen, die vor der Katastrophe eingefroren und deren Erinnerungen mit denen der Thages vermischt worden waren. Zumindest Sergej, Klara und ich. Blieb nur noch Moritz, der in der der Zitadelle aufgewachsen war und ganz ohne außerirdische Einmischung ein Genie war. Es fehlte nur noch die Verbindung, wie er in unsere Gruppe gekommen war. Mir blieb nichts, als zu raten. "Ich denke, dass Annadora außerdem Moritz gefunden und aufgetaut hat. Er ist der kleine Bruder von Ratsmitglied Thulius, der damals die Verhandlungen mit den Vetis geführt haben muss. Er nannte sie den Feind im Inneren. Moritz ist einer von denen, die durch deine Schutzmaßnahmen eingefroren und später von den Vetis geborgen wurden. Ich kann nur vermuten, dass sie ihn befreit und aufgetaut hat, um den Druck von Thulius zu nehmen, den die Vetis im Inneren auf ihn ausgeübt haben."
Ich schüttelte den Kopf, einfach nur für mich selbst, denn der Eiszombie sah mich ja immer noch nicht.
"Allerdings war er nach all den Jahren so fixiert darauf, die Öffnung des Tores zu verhindern, dass er Annadora beim Versuch, es zu öffnen, gegenüberstand und gestorben ist. Wir haben übrigens auch versucht, Annadora aufzuhalten, weil sie uns nicht in ihre Pläne eingeweiht hat. Sie ließ uns bis vor kurzem komplett im Dunkeln darüber, dass sie überhaupt existiert, von den Vetis und Thages und unserer Rolle wussten wir gar nichts. Wir sind Jahre lang im Dunkeln getappt. Das mit der Rettung der Menschheit habt ihr wirklich verbockt."
Er nickte und ich konnte nicht erkennen, welche Gefühle oder Gedanken sich in seinem Inneren abspielten. Hatte er für den Mist, den er uns indirekt angetan hatte, ein schlechtes Gewissen. Kannte seine Spezies diesen Gemütszustand überhaupt?
"Dank dir und Annadora waren wir erst heimatlos, mussten uns als Kriminelle durchschlagen, wurden in ein Attentat und einen Kleinkrieg verwickelt. Ich bin in den letzten Wochen gefoltert worden, mehrfach verletzt und …", das Bild eines Flammenmeers tauchte in meinem Geist auf, "… ich glaube, dass ich als Letztes sogar bei lebendigem Leib verbrannt bin. Mal abgesehen davon, dass wir dank Annadora aus der Zitadelle in den Ring verbannt wurden, vollgepackt mit mordlustigen Verbrechern und umgeben von tödlicher Kälte. Mag ja sein, dass du die Menschheit retten wolltest, die einzelnen Menschen dürfen dir trotzdem nicht egal sein. Sie könnten dir schließlich eines Tages gegenüberstehen!"
Um das zu unterstreichen, versuchte ich mir eine Kaffeetasse vom Tisch in der Mitte des Raumes zu nehmen und ihm an den Kopf zu werfen. Aber ich schien an der Wand zu lehnen und mich nicht von ihr lösen zu können.
"Ich sehe anhand der Datenströme, dass du versuchst, mit dem Raum zu interagieren. Noch einmal, du befindest dich nicht wirklich hier. Auch in einem weiteren Punkt liegst du falsch. Die Zitadelle ist weder von einem tödlichen Klima umgeben, noch droht eine andere Gefahr, wenn du die Außenwelt betrittst. Es sei denn, sie geht von jemandem im Inneren aus. Im Moment herrscht noch nicht einmal Winter in der Außenwelt."
"Aber ich habe den Schnee gesehen, als ich im Ring war. Wir haben eine Sicht von ein paar Kilometern."
"Und dann wird die Sicht in allen Richtungen von Hügeln oder Bergwäldern verdeckt. Das ist der einzige Bereich, in dem Schnee liegt. In einem Kreis um eure Zitadelle herum. Die Temperaturen sind gerade ausreichend niedrig und die künstliche Wolkendecke stark genug, um diese Illusion …"
Seine Worte wurden plötzlich abgehackt und das Bild verblasste zu einer schwarzen Wand. Ich hörte Geräusche um mich herum, die sich wie Bewegungen anhörten. Wie gedämpfte Bewegungen unter Wasser. Dann wurden sie klarer und ich konnte Stimmen erkennen.
"Sind Sie wach?"
Ich schlug die Augen auf. Meine Haut spannte und fühlte sich so an, als würde sie im nächsten Augenblick zerreißen. Ich hielt meine Hände vor das Gesicht und entdeckte auf meinem nackten rechten Arm eine Kraterlandschaft frischer, rosafarbener Haut durch die sich Stränge alter Haut in verschiedenen Rottönen wanden. An der linken Hand hing mein Handschuh, der mit dem Rest des Arms auf groteske Weise verschmolzen war.
Ein Gesicht, das ich zunächst nicht zuordnen konnte, schob sich in mein Blickfeld. Eine Frau.
Es dauerte eine Weile, bis ich sie erkannte.