Das Gebrüll der Rekruten ging ihm gewaltig auf die Nerven. Sie versuchten, etwas Ordnung in die Evakuierung des Ratsbereichs zu bringen, und die Betonung lag auf versuchen. Aber das war ein Abbild der allgemein schlechten Organisation des Sicherheitskorps an sich. Es wurde von fetten Offizieren aus der Oberwelt geleitet und rekrutierte seinen Nachschub fast ausschließlich aus den Reihen verwöhnter Bengel derselben Schicht.
Eigentlich stand es jedem Bürger aus jedem Teil der Zitadelle frei, dem Sicherheitskorps beizutreten. Doch die Plätze waren limitiert und da eine Laufbahn im Sicherheitskorps mit einem gewissen Prestige einherging, selbst in den unteren Dienstgraden, war Bestechung in den Reihen der Rekrutierer an der Tagesordnung. Und es war wohl keine Frage, wer die meisten Ressourcen hatte, um sie zu bestechen.
Die Reformen, die er im Sinn hatte, wurden von den restlichen Ratsmitgliedern abgelehnt. Selbst nachdem sich die Überfälle auf ihre Ressourcen und Lager gehäuft hatten. Diese Neuwahlen hätten eine Chance sein können, sie unter dem Blick der gesamten Bevölkerung durchzuboxen. Wenn es dafür jetzt nicht schon zu spät war.
Aber die Sache hatte auch etwas Gutes. Ratsmitglied Thulius konnte sich nicht erinnern, wann sein Leben in den letzten Jahren so aufregend gewesen war wie heute. Erst ein Anschlag, dem er nur knapp entkommen war. Andere hatten weniger Glück gehabt. Dieser Assistent, dessen Name ihm entfallen war.
Auf der Flucht wurde er mit Geistern seiner Vergangenheit konfrontiert. Moritz, der behauptete, sein Bruder zu sein. Für ihn lag das ein ganzes Leben lang zurück, aber der junge Mann sprudelte vor Informationen aus dieser Zeit, an die Thulius sich bestenfalls noch vage erinnerte.
Schließlich wurde auch noch der Ratsbereich angegriffen und sie evakuierten ihn mit Hunderten anderer Ratsbediensteter, die ununterbrochen jammerten und damit dem würdevollen Bild des Rates keinesfalls einen Gefallen taten. Dank seiner Bodyguards musste er sich nicht durch all diese niederen Beamten quetschen. In ihrem Fahrwasser folgten ihnen sein kleiner Bruder und dessen mürrischer Begleiter. Vielleicht war auch er der Grund, warum alle mit riesigen Augen auf Abstand gingen.
Deswegen war er der Erste, der im Bereich des Sicherheitskorps ankam und er sicherte sich gleich ein Büro. Sein temporäres, persönliches Hauptquartier. Es war auch keiner da, der hätte protestieren können.
Er ließ sich zufrieden in den Sessel irgendeines unbekannten Majors fallen und genoss die Stille, die eintrat, als sich die Türen des Büros schlossen. Moritz schnappte sich den Stuhl gegenüber, drehte die Lehne nach vorn und setzte sich. Er legte die Unterarme darauf ab und sah ihn mit erwartungsvollem Blick an. Der Kerl mit der Armprothese ließ sich in einen dritten Bürosessel plumpsen, legte die Beine hoch und räumte mit seinen Stiefeln den gesamten Schreibtisch frei. Der Lärm, den die herunterfallenden Büroutensilien machten, ließ Thulius aufschrecken, aber der Schläger ignorierte den finsteren Blick, den er ihm zuwarf. Die beiden Leibwächter hatten sich – mit respektvollem Abstand - in den Ecken des Raums hinter ihm positioniert.
"Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir als Kinder die Flagge des Sicherheitskorps vom Stützpunkt in unserer Etage geklaut haben, um sie für unser Geheimversteck zu benutzen? Ich sehe das jetzt plötzlich direkt vor Augen. So viele Bruchstücke tauchen auf, die endlich einen Sinn ergeben", schoss es aus Moritz hervor.
So ging es schon die ganze Zeit. Immer wieder fiel ihm plötzlich etwas Neues ein. Aber daran konnte sich Thulius tatsächlich noch erinnern. Auch an den Ärger, den sie danach bekommen hatten. Er seufzte.
"Ja, ich kann mich auch an den alten Offizier mit dem gezwirbelten Schnurrbart erinnern, der uns anschließend eine Standpauke über die Würde dieses Symbols gehalten hatte und dass er uns an die Eiswölfe verfüttern würde, falls sich so etwas jemals wiederholen sollte."
Da leuchteten Moritz Augen. "Und einen Monat später ist er in Rente gegangen und wir haben sie wieder geklaut. Sein Nachfolger hat eine ganze Woche gebraucht, bis er herausgefunden hat, dass wir es waren. Er hat dabei fast den Verstand verloren."
Inzwischen gab es keine Flaggen mehr an den Stützpunkten, nur noch Medienpanels, die zeigten, wie sich das Sicherheitskorps um die Belange der Bürger kümmerte und was für eine glorreiche Laufbahn man bestreiten konnte, wenn man ihm beitrat. Fast fühlte er sich in die alte Zeit seiner Kindheit zurückversetzt. Doch das lag schon zu lang zurück. So viele andere Erinnerung, voll Kummer und Leid, überschatteten die Gedanken an früher.
Sein Bruder war damals gestorben. Es war ihm unmissverständlich klar gemacht worden, dass er für immer verloren war, wie so viele andere Freunde in diesen Tagen. Wie konnte es also sein, dass er jetzt vor ihm saß? Unversehrt und kaum gealtert? War das ein Trick des Feindes, um ihn in dieser schwierigen Situation abzulenken und zu schwächen?
Thulius hatte sich doch an alles gehalten, was sie von ihm verlangt hatte. Die ganzen letzten vierzig Jahre. Er hatte sein ganzes Leben nur darauf ausgerichtet, die Menschen in der Zitadelle vor der Strafe zu schützen, die ihnen drohte, wenn die Anweisungen missachtet würden. Er hatte keine Familie gegründet. Keinen weiteren Versuch gewagt, nachdem seine Verlobte bei diesem Einsatz ihr Leben gelassen hatte. Er hatte stattdessen immer mehr Macht angesammelt, den Rat manipuliert, Menschen zu Positionen verholfen, in denen sie ihn bei der Aufgabe unterstützen konnten.
Von denen, die auch von der Gefahr wussten, lebte inzwischen keiner mehr, was es schwieriger machte, den Menschen klar zu machen, dass sie die Zitadelle nicht verlassen durften. Deswegen hinterfragten mit der Zeit auch immer mehr die Schließung der Tore. Das hatte jetzt dazu geführt, dass es sogar eine Rebellengruppe gab, die die Tore sprengen wollte. Natürlich konnte er ihre gewalttätigen Methoden als Argument gegen sie benutzen, aber nur, wenn sie heute aufgehalten wurden.
Daran zweifelte er, wenn er sah, wie katastrophal die Siks bei der Bekämpfung der Reformer versagten. Jetzt musste er sogar einen seiner Trümpfe ausspielen, Captain Lover, einen Veteranen der Voreiszeit, mit tatsächlicher Kampferfahrung. Den hatte er speziell für die geplante Reform auftauen lassen. Hätten die Reformer doch nur ein oder zwei Jahre mit ihrem Angriff gewartet, wäre er in einer Position gewesen, um die Situation im Sicherheitskorps zu ändern. Er hoffte, dass es dazu noch kam.
Auf dem Medienpanel, das auf dem Schreibtisch vor ihm stand, baute sich ein Bild auf. Das junge Gesicht Sergeant Hills, die er Captain Lover für diesen Einsatz zugeteilt hatte, erschien darauf.
"Bericht?"
"Captain Lover hat mit seinem Team die Schaltzentrale eingenommen …"
"Großartig!"
"Das ist nicht alles. Ein Mitglied der Reformer ist entkommen und steht jetzt vor dem Tor zur Außenwelt und beginnt, es gewaltsam zu öffnen."
"Dann schicken Sie ein Team hin, um das zu verhindern!"
"Es sind keine einsatzfähigen Teams mehr übrig, Ratsmitglied."
Niemand war mehr übrig?
"Muss ich etwa selbst hingehen und es verhindern? Was ist mit Captain Lover?"
"Er ist bereits auf dem Weg, es könnte aber zu spät sein, bis er ankommt. Ein Mitglied seines Teams, ein Zivilist, will mit Ihnen kommunizieren. Es scheint, dass er eine schnellere Lösung kennt."
"Okay, stellen Sie ihn durch."
Der Bildschirm wurde schwarz und Rauschen erfüllte den Audiokanal. Die Karikatur eines Gesichts, dessen Charakterzüge sich in stetigem Wandel zu befinden schienen, füllte den Bildschirm aus.
"Und Sie sind?"
"Da es dank Captain Lover scheinbar schon die halbe Zitadelle weiß, kann ich meinen Namen wohl nennen. Ich bin Daniel Adler."
Moritz sprang auf und schob seinen Stuhl quietschen neben seinen. Thulius zog eine Augenbraue hoch, doch das ignorierte er einfach.
"Hey Daniel, alles klar bei dir?"
"Mal abgesehen davon, dass ich gefoltert und verstümmelt wurde und mich irgendwie in einem Kriegsgebiet befinde, geht es mir gut. Und euch?"
"Wir sind hier sicher. Dank Max kommen wir überall hin."
"Er ist tatsächlich dein Bruder?"
"So sieht es wohl aus."
"Ich unterbreche euch nur ungern", unterbrach sie Thulius und trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch, "aber ich glaube, dein Freund wollte mit mir reden."
"Tatsächlich", sagte dieser Daniel Adler, "hatte ich gehofft, meine Freunde auf diesem Weg zu erreichen. Was nicht bedeutet, dass ich mich nicht auch mit Ihnen unterhalten möchte, wenn diese Situation gelöst ist."
"In dem Fall räume ich am besten den Platz für meinen kleinen Bruder." Mit diesen Worten rutschte er mit seinem Sessel beiseite und machte Platz für Moritz, der sich direkt vor das Medienpanels schob.
"Dein Gesicht sieht komisch aus", stellte Moritz fest.
"Ja, ich habe mich mit dem Handschuh eingeklinkt und keine Kamera. Das ist das Bild, das ich in meinen Gedanken von meinem Gesicht hab."
"Gruselig. Ich will nicht in deinem Kopf stecken."
Daniel Adler lachte und sein Gesicht verschwand. Der Bildschirm war einfach nur schwarz. Dann erschien ein Grundriss der Etage darauf, der sich an die Stelle der Büros des Sicherheitskorps verschob und hineinzoomte.
"Ich habe von Sergeant Hill die Information, wo ihr euch befindet und wie ihr zum Tor gelangen könnt. Diese Annadora, die uns kontaktiert hat ... sie hat uns hereingelegt und als Ablenkung benutzt, damit ihr Verein einfacher handeln kann. Ihr seid näher dran als wir und müsst sie aufhalten. Du hast deine Granate noch?"
Während Daniel sprach, wurde die Route des kürzesten Wegs zum Tor angezeigt. Er wollte seinen kleinen Bruder in die Schlacht schicken?
"Ja, musste ich noch nicht einsetzen."
"Gut. Benutz sie, um Annadoras Werkzeug auszuschalten. Ich muss dich warnen. Es besteht die Möglichkeit, dass auch sie dabei den Geist aufgibt. Lass dich davon nicht abschrecken. Falls nicht, darf Sergej ihr eine Tracht Prügel erteilen. Das freut ihn sicher."
Dieser Sergejs stieß ein zustimmendes Grunzen aus. Was für ein Barbar. Aber Annadora? Der Name weckte in Thulius ebenfalls Erinnerungen an früher, genau, wie sein Bruder. Ein Gesicht flackerte vor ihm auf und versetzte ihm einen Stich im Herzen. Was war das?
"Ich werde euch ebenfalls begleiten!", sagte Thulius instinktiv. Klar, hier war es sicherer als vor dem Tor, mitten im Konflikt. Aber dieses Bild, das er gerade gesehen hatte, ließ ihn nicht mehr los. Wenn schon sein Bruder zurückgekehrt war, dann vielleicht auch sie?
Die Leibwächter hinterfragten seine Entscheidung nicht. Seine Befehle waren absolut. Der Schläger Sergej schwang seine Beine vom Tisch und sie erhoben sich.
"Okay, wir machen uns auf den Weg", sagte Sergej.
"Viel Erfolg. Ich komme nach, so schnell ich kann."
Damit beendete sich die Verbindung. Thulius zupfte seinen Anzug zurecht, er musste stets ein gutes Bild abgeben, selbst in einer Krise. Nachdem er sich im Spiegelmodus des Medienpanels vom perfekten Sitz seiner Garderobe überzeugt hatte, trat er, flankiert von den beiden Siks, aus dem Raum.
Er versuchte, die Diskussionen und das Gezeter der Gruppen zu ignorieren, die sie im Eilschritt hinter sich ließen. Inzwischen waren keine Rekruten mehr da, die sich bemühten, für Ordnung zu sorgen und die Beamten zu beruhigen. Sicher waren sie an dieser Aufgabe verzweifelt. Er konnte es ihnen nicht verübeln, er wurde in den Ratsdiskussionen oft selbst wahnsinnig. An irgendeinem Punkt seines Lebens hätte er in der Zitadelle sicher eine Diktatur schaffen können und die wichtigen Sachen einfach selber entscheiden. Aber er konnte nicht sagen, wie er sich dabei verändert hätte und was dann aus der Zitadelle geworden wäre. Die Geschichtsschreibung hielt zudem kein gutes Ende für die meisten Diktatoren parat.
In eine der Gruppen kam Bewegung, als sie ihn erblickte. Gerobalt, einer seiner Ratskollegen, trat hervor und wollte ihn in ihr Gespräch verwickeln. "Ihr hattet Recht, Kollege, die Reform des Sicherheitssystems ist wirklich notwendig. Könnt ihr nicht einige Worte zu unseren Kollegen sprechen, die trotz unserer Situation immer noch …"
Er ließ ihn stehen und eine seiner Wachen verhinderte, dass er ihm weiter auf die Pelle rückte. Dafür hatte er jetzt einfach keine Zeit. Und selbst wenn er Zeit gehabt hätte, fehlte ihm die Lust auf so ein Streitgespräch. Ein Großteil der jüngeren Ratsmitglieder war zu ignorant, um die Situation zu verstehen, selbst wenn er ihnen die Wahrheit sagte. Würden versuchen, einen diplomatischen Weg einzuschlagen, vielleicht sogar selbst das Tor öffnen. Und sie würden alle Menschen in der Zitadelle ihrem sicheren Ende preisgeben. Das war genauso gefährlich, wenn nicht sogar schlimmer, als die Reformer, mit denen sie es jetzt zu tun hatten.
Das Tor in die Außenwelt kam in Sicht, in seiner ganzen Erhabenheit. Eine Person im Minenarbeiteranzug hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Über ihre Schultern fielen rotbraune Locken und strahlten ihn im Licht des Laserschneiders an. Das kam ihm so bekannt vor. Konnte sie es wirklich sein, seine Annadora?
"Stopp!", brüllte Sergej. "Oder ich nehm dich auseinander!"
Das Licht des Laserschneiders erlosch, nur die Bahn, die er auf der Versiegelung einer der kleinen Durchgangstüren hinterlassen hatte, glomm weiter in leuchtendem Lavarot. Sie warf ihren Kopf über die Schulter, um zu prüfen, wer sie da unterbrechen wollte. Ließ den Blick über die Neuankömmlinge schweifen. Es war tatsächlich Annadora! Sein Mund klappte auf. Sie hielt nicht inne, als ihr Blick an ihm vorbei wanderte. Wie sollte sie ihn auch erkennen? Er war unter der Last seiner Aufgabe frühzeitig gealtert und musste sich deswegen immer wieder Verjüngungskuren unterziehen, damit er den Bürgern in gewohnter Form gegenübertreten konnte.
Bei Moritz und Sergej verweilte sie aber. "Ah, ihr seid das." Ihre Stimme klang blechern und künstlich. So fremd. "Ihr habt eure Aufgabe gut erfüllt. Es tut mir leid, dass ich euch nicht über den wahren Zweck unserer Unterstützung aufgeklärt habe. Lehnt euch einfach zurück und wohnt dem Schlussakt der Befreiung der Zitadelle bei."
Dann wandte sie sich wieder dem Tor zu und ließ den Laserschneider wieder aufleuchten. Sergej machte sich bereit, um auf Annadora zuzustürmen, wurde aber von Moritz zurückgehalten.
"Warte! Siehst du das Flimmern am Boden?" Er zeigte auf eine Stelle auf halbem Weg zwischen ihnen und ihr. Durch den Staub am Boden - dieser Bereich wurde scheinbar nicht regelmäßig gereinigt - zog sich ein Bogen, der einen Kreis um Annadora bildete und auf der Fläche des Bodens und der des Tors kaum wahrnehmbare knisternde Spuren hinterließ. "Sie hat ein Kraftfeld dabei."
Sergej schnappte sich eine Kiste, die mit einigen anderen an der Wand stand, und schleuderte sie in Annadoras Richtung. Sie prallte mit einem Knall in der Luft ab und landete auf dem Boden. Sie dampfte an der Stelle, mit der sie auf dem Kraftfeld aufgetroffen war.
"Vielleicht haben wir hier genug Zeug, um es zu überlasten. Sergej, schieb mal den ganzen Kistenstapel durch."
Sergej folgte Moritz Vorschlag, und schob den Stapel quietschend über den Metallboden. Was für ein Monster! Als er das Kraftfeld erreichte, kämpfte er mit seiner ganzen Kraft gegen den Widerstand an, aber die Kisten bewegten sich keinen Millimeter weiter.
Thulius wusste, dass es noch andere Möglichkeiten gab. Die Kraftfelder, wie sie in der Zitadelle hergestellt wurden, verfügten über Sicherheitsmaßnahmen, um einen Schaden an Menschen gering zu halten, die damit in Kontakt kamen. Wenn ein Kraftfeld auf Widerstand stieß, wurde die Stelle gescannt. Handelte es sich um ein Lebewesen, wurde es deaktiviert. Für den Betroffenen wirkte das wie ein Stromschlag, der je nach Leistungsfähigkeit des Scanners unterschiedlich lang anhielt. Der Benutzer des Kraftfelds konnte es danach wieder hochfahren. Sie mussten also schnell handeln, sobald es deaktiviert war. Falls das Kraftfeld jedoch nicht in der Zitadelle hergestellt worden war ...
Er bezweifelte, dass sich irgendjemand der Anwesenden opfern würde, um das zu testen. Außerdem waren heute schon genug Unschuldige gestorben. Selbst seinen Leibwächter wollte er das nicht antun.
"Annadora! Kannst du dich nicht mehr an mich erinnern?", rief er.
Erneut schaltete sie das Werkzeug ab. Sie fühlte sich in ihrem Kraftfeld scheinbar sicher genug, dass sie sich Pausen erlauben konnte. Sie drehte sich um und musterte ihn nun genauer. Nach einer Weile zuckte sie mit den Schultern.
"Du bist das Ratsmitglied Thulius. Verantwortlich für den miserablen Zustand, in dem sich die Zitadelle heute befindet. Gibt es da noch mehr, was ich wissen müsste?"
"Ich bin Max. Es ist lange her, aber wir haben uns einst gut gekannt. Wir waren uns nahe."
Es vergingen einige zähe Momente. Sie legte die Stirn in Falten und er erkannte, dass sie wirklich darüber nachdachte.
"Ich kannte einst einen Max. Er war jung und voller Tatendrang. Er wollte die Welt verändern. Sich die Eiswüste untertan machen. Die Zitadelle und die Zivilisation ausbreiten, bis sie den ganzen Erdball bedeckte. Er war ein Spinner. Das alles bewunderte ich an ihm." Sie legte eine Pause an und sah ihn eindringlich an, bis sie schließlich den Kopf schüttelte. "Dieser Max bist du aber nicht. Du bist alt, ausgebrannt, hast dich in deinem Turm verkrochen. Die Tür hinter dir verriegelt und den Schlüssel weggeworfen. Du hast Angst, auch nur einen Blick aus dem Fenster zu werfen und siehst nicht einmal, wie das Mauerwerk langsam unter dir zu bröckeln beginnt."
Das tat weh. Aber er wusste, dass sie recht hatte. Wenn er ihr nur erklären konnte, dass es für all seine Taten nachvollziehbare Gründe gab.
"Das habe ich alles zum Schutz der Menschen getan, die hier drinnen Leben. Du musst es mitbekommen haben, was dort draußen vor sich geht. Du musst es doch wissen. Sie waren es doch sicher, die dich zurückgeholt haben, oder?"
"Diejenigen, von denen du sprichst, haben schon lange ihr Interesse an dir verloren. Nicht lange nachdem du hier alle eingepfercht hast, die letzten Menschen auf diesem Planeten. Sie waren es jedoch nicht, die dafür verantwortlich sind, dass das, was von mir übrig ist, heute vor dir steht. Du warst es leider auch nicht, der mich gerettet hat." Die Stimme seiner einstigen Verlobten wurde bitter. "Ich habe lange darauf gewartet, dass der Max von damals sich zu meiner Rettung aufmacht. Doch er kam nicht."
"Ich dachte, du seist tot!", antwortete Thulius verzweifelt. "Ich habe eine Aufzeichnung gesehen, vom einzigen Überlebenden eures Trupps …"
"… dessen Beobachtungen offensichtlich nicht korrekt waren. Hätte Numbaka sich in die Tiefe des Schachtes gewagt, hätte er seine jämmerliche Angst überwunden, dann hätte er mich dort schwer verletzt, aber noch lebendig vorgefunden. Aber das ist die Vergangenheit. Der Max von damals existiert nicht mehr. Und die Annadora von damals ebenfalls nicht."
Sie wollte sich wieder zum Tor drehen und er machte einen Schritt auf Annadora zu. Er wusste, wie es um die Außenwelt stand. Er bekam wöchentlich einen Bericht von der Meteorologischen Spähstation. Entweder sie war eine Agentin des Feindes und erzählte ihm eine Lüge, sie irrte sich oder war selber getäuscht worden.
"Du irrst dich. Bitte hör auf. Stürze uns nicht alle ins Verderben."
"Nein, ich irre mich nicht." Annadora erhob ihre Stimme. "Wenn du wüsstest, was ich alles durchgemacht habe, nur um den Menschen hier ihre Freiheit zurückzugeben ..."
"Was nutzt ihnen ihre Freiheit, wenn sie sterben, sobald sie die Zitadelle verlassen? Ich bitte dich, zerstöre nicht unsere einzige Zuflucht."
Er trat noch näher an sie heran, war jetzt noch zwei Schritte vom Kraftfeld entfernt und verkürzte die Entfernung auf einen. Er sah, wie sich ihre Augen weiteten. Sie ahnte, was er vorhatte. Sie fühlte doch noch etwas! Die Vorstellung, dass er in das Kraftfeld geriet, musste sie berühren. Dennoch ... sie schaltete es nicht ab.
Thulius atmete tief durch.
Wenn er sie nicht aufhielt, war sein Leben bedeutungslos gewesen. Die Zitadelle würde verloren gehen und mit ihr auch der Rest der Menschheit. Thulius hatte Informationen zu der Gefahr aufgezeichnet, die ihnen drohte. Diese würden nach seinem Tod an einige wenige Menschen weitergegeben werden, denen er vertraute. So bestand zumindest die Chance, dass kein Ratsmitglied aus einer Laune heraus die Tore wieder öffnen würde.
Dann machte er den letzten Schritt, hörte und spürte die Energie des Kraftfeldes. Ein Schlag, der ihm das Gehör nahm, dann der Geruch von versengter Haut. Jeder Muskel in seinem Körper gab seine Funktion auf. Gut, dass er die Sauerei nicht mehr miterleben würde, die er hinterließ.
Er konnte sehen, wie eine Träne an Annadoras Wange herablief. Einen Augenaufschlag, bevor auch sie zu Boden ging, getroffen von zwei Kugeln und einem Energieblitz, der ihr den Boden unter den Füßen wegriss. Er traf auf dem Boden auf, merkte von dem Aufprall aber schon nichts mehr. Sein Blick war auf seine einstige Liebe gerichtet und ihr Blick auf ihn. Waren sie am Ende wieder vereint? Das würde sich zeigen.
Er schloss die Augen und wartete, dass ihn sein letzter Schlaf übermannte.